Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.
Richtig oder falsch?
Ein Fluch des Rettungsdienstes ist: wir wissen oft nicht, was mit unseren Patienten im weiteren Verlauf passiert. Wir bekommen üblicherweise auch kein Feedback, was unsere Patienten tatsächlich hatten.
Die Folge dessen ist, dass wir letztendlich meistens im Dunkeln tappen, was die Frage angeht „Haben wir richtig diagnostiziert und behandelt?“ – mit etwas Glück bekommt man dann zumindest die Erstuntersuchung oder die Bildgebende Diagnostik mit…oder man kommt nochmal vorbei und stellt die Frage an das Klinikpersonal.
Interessant wird es gerade dann, wenn man schon vor Ort nicht sicher ist, was nun Phase ist – und auch das kommt, geschuldet den vielfältigen Manifestationen und den eher eingeschränkten Möglichkeiten der Präklinik, durchaus vor.
So war es auch in dem folgenden Einsatz – der von der Einsatzmeldung her eigentlich ein absoluter Standard und so ziemlich der häufigste Einsatz überhaupt ist.
Untypisch heißt nicht unmöglich
Ein ruhiger NEF-Tagdienst am Wochenende – der RTW ist gerade auf seinem zweiten Einsatz und ich nutze die Zeit (und die Ruhe), um zu lernen. Wie es so ist: gerade dann, wenn man irgendetwas angefangen hat (oder etwas essen will, oder auf die Toilette muss) geht der Melder.
Einsatzdaten
Einsatzmeldung: Akutes Koronarsyndrom.
Alarmierte Fahrzeuge: RTW + NEF, mit Sonder-/Wegerechten.
Eigentlich ein normaler Einsatzklassiker und rettungsdienstliches Alltagsgeschäft. Ich hole unsere Notärztin ab und gemeinsam mit unserem RTW – der im Status 8 alarmiert wurde – geht es recht weit an den Rand unseres Einsatzgebietes. Gute 15 Minuten Anfahrt haben wir vor uns.
Scene – Safety – Situation
Scene: Frühling, Mittag, 11:00, kühl, trocken, sonnig, Einfamilienhaus in ländlicher Umgebung.
Safety: Keine augenscheinlichen Gefahren.
Situation: Zeitgleiches Eintreffen mit dem RTW, ein Bekannter des Patienten (Ende 50) nimmt uns in Empfang und führt uns in das Wohnzimmer. Der Patient sitzt auf dem Sofa und klagt über thorakale Schmerzen, durch die er am morgen aufgewacht sei.
Wir treffen die Ersteinschätzung
Ersteinschätzung
Potentiell kritisch.
und die RTW-Besatzung übernimmt das Primary Survey, während ich unter Aufsicht „Notarzt“ spielen darf:
xABCDE
x – Exsanguination
Keine starke äußere Blutung.
A – Airway
Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose. Kein Zungenbiss.
B – Breathing
Atemfrequenz 16/min, keine obere Einflussstauung, Thorax stabil, Atemexkursionen regelrecht, Pulmo bds. vesikuläres AG, SpO2 97 %. Kein pathologisches Atemmuster. Keine Dyspnoe.
C – Circulation
Haut rosig, warm, trocken, keine stehenden Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse bds. gut tastbar, HF 120/min; Abdomen weich, nicht druckdolent. Blutungsräume unauffällig. RR 160/90 mmHg. EKG: Sinustachykardie, ohne Ischämiezeichen
D – Disability
GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen isokor, mittelgroß, prompte LR. quick-FAST unauffällig, pDMS intakt. BZ 159 mg/dl.
E – Exposure/Environment
Linksthorakale, stechende Schmerzen mit Ausstrahlung in den linken Arm, NRS 4, mäßig durch Druck verstärkbar, keine Änderung im zeitlichen Verlauf. Keine Beinödeme. Schädel stabil, Wirbelsäule nicht druck-/klopfschmerzhaft, kein vorausgeganes Trauma. Temp. 36,6°C.
Die Einschätzung nach dem Primary Survey ist – bei einer eher untypischen Symptomatik und einem EKG ohne Hinweis auf eine Ischämie – tatsächlich erstmal ein
Einschätzung
Nicht kritisch.
Parallel dazu habe ich die Anamnese erhoben:
SAMPLER(S)
S – Symptome
Seit dem morgen linksthorakale, stechende Schmerzen mit Ausstrahlung in den linken Arm, NRS 4, mäßig durch Druck verstärkbar, keine Änderung im zeitlichen Verlauf; keine Begleitsymptomatik.
A – Allergien
Heuschnupfen.
M – Medikamente
Candesartan.
P – Vorerkrankungen
arterielle Hypertonie, Sodbrennen.
L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang
Frühstück, ca. 8:30. Miktion und Stuhlgang unauffällig.
E – Ereignis
Patient ist mit der Symptomatik aufgewacht.
R – Risikofaktoren
Alter, Vorerkrankungen, Nikotinabusus.
S – Schwangerschaft
Ausgeschlossen.
Um ehrlich zu sein: wir waren jetzt nicht viel schlauer als am Anfang. Auch eine fokussierte Untersuchung mit kardialer Auskultation und beidseitiger Blutdruckmessung bringt keine neuen Erkenntnisse.
Von den „Big Five des Thoraxschmerzes“ können wir
- die Aortendissektion,
- den (Spannungs-)pneumothorax,
- das Boerhaave-Syndrom (eine Ruptur der Speiseröhre) und
- die Lungenarterienembolie
ausschließen. Das Akute Koronarsyndrom zumindest nicht sicher.
Gerade die weniger typische Symptomatik und das EKG – welches ich euch nicht vorenhalten möchte – bringt uns zum Schluss: eher nein – wenngleich uns eine bessere Erklärung der Symptomatik ebenfalls fehlt.
Kurze Teambesprechung, dann die Entscheidungsfindung: wir nehmen als unsere Diagnose den akuten Thoraxschmerz und die Sinustachykardie – und lassen es als „Ausschluss eines akuten Koronarsyndrom“ laufen.
Der Patient wird zum RTW verbracht und erhält einen i.v.-Zugang (18 G Handrücken rechts) sowie eine Vollelektrolytlösung. Auf eine Therapie mit ASS und Heparin wird verzichtet, auf eine Rhythmustherapie der Sinustachykardie (die wir eher der Aufregung zuschreiben), ebenfalls.
Die Reise geht dementsprechend mit Notarztbegleitung auch in unseren Grundversorger mit Innerer Medizin. Nachbesprechung.
…und es geht weiter
Knappe zwei Stunden später werden wir erneut alarmiert: Sekundärtransport mit NEF-Arzt, Akutes Koronarsyndrom. Und wir sehen unseren Patienten wieder.
Die zwischenzeitlich fertigen Laborergebnisse sind eindeutig: eine Troponin-Erhöhung von auf über 200 pg/ml spricht doch eine eindeutige Sprache. Unser Patient hatte einen Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI).
Das Tückische hierbei ist: eine sichere Feststellung ist nur mittels Labor möglich – gerade dann, wenn in diesem Falle, typische EKG-Veränderungen völlig fehlen.
Fazit
Was fand ich gut?
- die Möglichkeit, „Notarzt unter Aufsicht“ zu spielen – der Perspektivwechsel war trotz jahrelanger Tätigkeit im Rettungsdienst interessant
- strukturiertes Arbeiten und Teamkommunikation
Was fand ich nicht gut?
- keine „passende“ Diagnose – die eher untypische Symptomatik und das unspezifische EKG haben haben den NSTEMI hier zum Chamäleon werden lassen
Was ist mir wichtig? – Take-home-Message
Die Kernaussage dieses Einsatzes ist wohlmöglich ein „Traue keinem Thoraxschmerz“ – einfach, weil sich gerade Myokardinfarkte durchaus recht häufig mit einer untypischen Symptomatik äußern können. Wenn dann noch typische EKG-Veränderungen für eine myokardiale Ischämie fehlen, ist man schnell geneigt, das Akute Koronarsyndrom als Verdachtsdiagnose zu verwerfen.
Daher auch die Take-home-Message für die Kollegen: ein Patient mit Thoraxschmerzen sollte man nicht zuhause lassen – schon gar nicht, wenn ein Risikoprofil besteht, schon gar nicht, wenn man keine schlüssige, andere Erklärung hat.
Auch ein Myokardinfarkt kann durchaus mit untypischer Symptomatik und im Falle eines NSTEMI auch ohne typische Ischämiezeichen im EKG einhergehen. Eine klinische Abklärung sollte hier in jedem Fall angestrebt werden.
Für alle anderen als Take-home-Message: Herzinfarkte sind durchaus häufig und es lohnt sich, sich mit dem Thema durchaus mal zu befassen.
Siehe auch
Interessenkonflikte
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Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Quellen
Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/4aQsX9p Affiliate-Link
Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3q8w62I Affiliate-Link
Trappe H.-J., Schuster H.-P. (2020): EKG-Kurs für Isabel, 8. aktualisierte Auflage. Georg Thieme Verlag, Stuttgart/New York. ISBN 978-3-13-220030-2. DOI: 10.1055/b000000429. Hier erhältlich: https://amzn.to/3xgTYoa Affiliate-Link
SaniOnTheRoad (2020): Erste Hilfe: Herzinfarkt, abgerufen unter https://saniontheroad.com/erste-hilfe-herzinfarkt/ am 02.04.2024
Scholz J., Gräsner J.-T., Bohn A. (2019): Referenz Notfallmedizin. Georg Thieme Verlag KG. ISBN 978-3-13-241290-3. DOI: 10.1055/b-006-149615. Hier erhältlich: https://amzn.to/3uhENtA Affiliate-Link
Helmschrott M. (2023): Differenzialdiagnose Thoraxschmerz, 6. Internistischer Notfallkongress Heidelberg, abgerufen unter https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/fileadmin/medizinische_klinik/Abteilung_4/pdf/Notarztkongress_6/03_-Helmschrott-_Thoraxschmerz.pdf am 02.04.2024
Ziegenfuß T. (2022): Notfallmedizin, 8. Auflage. Springer-Verlag Berlin/Heidelberg. ISBN 978-3-662-46891-3. DOI 10.1007/978-3-662-46892-0. Hier erhältlich: https://amzn.to/3uNocxX Affiliate-Link
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