Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.
Kardiologische Einsätze sind nicht gerade selten – irgendwelche mehr oder minder schweren Herz-Kreislauf-Probleme gehören problemlos zu den Top 20 der häufigsten Rettungsdiensteinsätze.
Sehr viel ist einfach Standard und Routine. Auch die Meldung „Arrhythmie“ löst bei den Kollegen keine Panik aus, ist es meist doch einfach eine Sinustachykardie, eine kreislaufstabile Tachyarrhythmia absoluta bei Vorhofflimmern oder eine einfache Extrasystolie, seltener ein AV-Block, noch seltener eine AVRT oder AVNRT. Alles andere ist schon „exotisch“.
Ein Kollege meinte zu mir
„Du bist der Garant für komische EKGs“
Naja. Zugegeben, von den „Exoten“ – wenn man sie so nennen mag – konnte ich einige durchaus in meiner Laufbahn sammeln. Ich behaupte aber einfach, dass andere Kollegen nicht seltener solche Patienten haben – wahrscheinlich werden die Exoten einfach nicht erkannt, weil nicht bekannt.
Zum Hintergrund
Sommer, Tagdienst, Zustand nach Urlaub – nach zwei Wochen Entspannung der erste RTW-Dienst. Tatsächlich mit einer gewissen Vorfreude, am Ende macht die Arbeit ja doch Spaß 😉
Der Tag beginnt recht unentspannt – unser regulärer RTW ist aus der Werkstatt zurück und wir dürfen (müssen) am morgen schon alles aus dem Ersatzfahrzeug umräumen. Dann der übliche Fahrzeugcheck und das Putzen, sprich die tägliche Routinedesinfektion.
Immerhin reicht nach Erfüllung der Tagesaufgaben die Zeit noch für eine „Versorgungsfahrt“ und das Frühstück, bevor der Melder uns nach draußen beordert. Und draußen heißt auch draußen: es geht in ein 20 Minuten entferntes Dorf, welches eigentlich von einer unserer Außenwachen bedient wird.
Doch kein entspannter Standard?!
Einsatzdaten
Einsatzmeldung: Arrhythmie.
Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, mit Sonder-/Wegerechte.
Scene – Safety – Situation
Scene: Sommer, 9:30 Uhr, trocken, sonnig, Einfamilienhaus, ebenerdig, in guter Wohngegend auf einem Dorf.
Safety: keine augenscheinlichen Gefahren.
Situation: Die Ehefrau des Patienten öffnet die Tür und berichtet, dass es ihrem Mann seit etwa einer Stunde sehr schlecht geht und er Herzrasen verspürt. Der Patient, 60 Jahre, blass, sitzt im Sessel im Wohnzimmer.
Erkennbar, dass es dem Patienten nicht gut geht. Wir entscheiden uns für ein
Ersteinschätzung
Potentiell kritisch.
Der Patient berichtet von Herzrasen, Unruhegefühl und Schwäche. Ohne Umschweife erwähnt er, dass er kardial deutlich vorbelastet ist und ICD-Träger.
Wir steigen nach der Begrüßung und Kurzanamnese in unsere Untersuchung ein…
xABCDE
x – Exsanguination
Keine starke äußere Blutung.
A – Airway
Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht und rosig, keine Zyanose.
B – Breathing
Atemfrequenz 20/min, Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits vesikuläres Atemgeräusch, keine Halsvenenstauung, keine Dyspnoe. SpO2 98 %.
C – Circulation
Haut blass, warm, trocken, keine stehenden Hautfalten; Rekapillarisierungszeit ca. 3 Sekunden, periphere Pulse mäßig tastbar, rhythmisch, tachykard; Abdomen weich, keine Abwehrspannung; keine Schmerzangabe im Becken, Oberschenkel stabil, RR 130/90 mmHg bei Eintreffen RD. Keine Angina pectoris.
D – Disability
GCS 15, Pupillen isokor, mittelweit, prompte Lichtreaktion; FAST unauffällig, pDMS unauffällig, BZ 87 mg/dl.
E – Exposure/Environment
Bodycheck unauffällig, kein Nierenklopfschmerz, keine Verletzungen, keine Beinödeme. Temp. 37,1°C.
Nun, ein tatsächlich vorhandenes C-Problem – während mein Kollege das EKG klebt, richte ich mir den i.v.-Zugang und die Vollelektrolytlösung.
Ein Blick auf den Monitor…
Das sieht…komisch aus. Trotz aller Strukturen zur EKG-Interpretation, egal, welche man auch verwenden mag, ist hier der entscheidende „Ein-Blick-Ersteindruck“: komisch. Komisch ungesund.
Überwiegend breite QRS-Komplexe ohne P-Wellen, dazwischen normale PQRST-Konfiguration. Eine ventrikuläre Extrasystolie. Couplets. Dann Salven. Dann Unentspanntheit angesichts der Vorgeschichte.
Einschätzung
Kritisch.
Und in diesem Moment betritt natürlich auch die Notärztin den Raum. Welche Notärztin, ihr wart doch „solo“ alarmiert und habt noch nicht nachgefordert? Ja, richtig – die Leitstelle hat kurz nach unserer Alarmierung schlicht das NEF doch dazu alarmiert. Ohne uns etwas zu sagen. Kommunikation läuft.
Während mein Kollege das 12-Kanal-EKG klebt, mache ich eine kurze Übergabe und widme mich dann dem i.v.-Zugang. Die Notärztin steigt unterdessen in die Anamnese ein,
SAMPLER(S)
S – Symptome
Plötzlich aufgetretenes Herzrasen, Unwohlsein, Schwächegefühl.
A – Allergien
Penicillin, Metamizol.
M – Medikamente
Apixaban, Metoprolol, Ramipril, Torasemid.
P – Vorerkrankungen
Z.n. Myokardinfarkt bei koronarer 3-Gefäß-Erkrankung, Z.n. Reanimation bei ventrikulärer Tachykardie, mehrfache Ablationen bei rezidivierenden ventrikulären Tachykardien und ICD-Implantation, Linksherzinsuffizienz NYHA Grad II, arterielle Hypertonie.
L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang
Frühstück 8:00
E – Ereignis
Auftreten aus der Ruhe heraus.
R – Risikofaktoren
Alter, Vorerkrankungen, Medikamente.
S – Schwangerschaft
Ausgeschlossen.
Das zwischenzeitlich geschriebene 12-Kanal-EKG sieht nicht „besser“ aus:
Interpretation
- Sind QRS-Komplexe erkennbar? Ja
- Sind QRS-Komplexe klar abgrenzbar? Ja
- Ist andere elektrische Aktivität außer QRS-Komplexen erkennbar? Ja
- Sind Artefakte ausgeschlossen? Ja
- Wie hoch ist die QRS-Frequenz? Ca. 6 Kästchen → ~ 100/min,
- Sind die QRS-Komplexe schmal oder breit? Vereinzelt schmal, überwiegend breit mit QRS > 100ms
- Welche Ursache liegt der Verbreiterung zugrunde? Ventrikulärer Rhythmus
- Sind die QRS-Komplexe gleich geformt? Nein
- Sind die QRS-Komplexe regelmäßig oder nicht (rhythmisch/arrhythmisch)? Rhythmisch
- Ist Vorhofaktivität erkennbar? Ja
- Sind P-Wellen erkennbar? Ja
- Sind P-Wellen in Form und Größe gleich? Ja
- Wie ist das Verhältnis zwischen Vorhofaktivität und QRS-Komplexen?
- Ist vor jedem QRS-Komplex eine P-Welle erkennbar? Nein
- Folgt jeder P-Welle ein QRS-Komplex? Ja
- Ist die PQ-Zeit normal (0,12 – 0,2 s)? Ja
- Ist die PQ-Zeit immer gleich? Nicht beurteilbar
- Wie verändert sich ggf. die PQ-Zeit? Nicht beurteilbar
- Gibt es Anzeichen für Ischämie? Durch schenkelblockartige Konfiguration nicht beurteilbar
Fazit: Sinusrhythmus mit ventrikulären Couplets und ventrikulären Salven, überdrehter Linkstyp, HF 100/min.
Wir verbringen den Patienten zunächst in den RTW – dann Reanimationsbereitschaft, dann 300 mg Amiodaron als Kurzinfusion. Die Rhythmusstörung persistiert. Telekardiologisches Konsil.
In Anbetracht der Vorgeschichte entscheiden wir uns gemeinsam mit dem Kardiologen für „keine Experimente“. Also zügiger Transport und Vorstellung auf der Chest Pain Unit – wenn gleichermaßen mangels Brustschmerz die Indikationsstellung doch etwas eigenartig ist.
Fazit
Was fand ich gut?
- Erkennen des C-Problems aufgrund der Rhythmusstörung
- Strukturiertes Arbeiten inklusive strukturierter EKG-Interpretation
- leitliniengerechte Versorgung der Rhythmusstörung durch die Notärztin
- Möglichkeit des telekardiologischen Konsils – d.h. Beurteilung des EKG durch einen Kardiologen der Klinik – genutzt
Was fand ich nicht gut?
- keine Information über die nachfolgende Alarmierung des NEF
- Neutral: Aufnahme auf CPU – die sonst auch augenscheinliche Infarkte, die auf diese Station gehören, ablehnt
Was ist mir wichtig? – „Take-Home-Message“
Das EKG ist für viele Rettungsdienstler ein rotes Tuch. Man schreibt zwar ständig EKGs, aber wirklich etwas damit anfangen oder Konsequenzen ableiten können dann doch eher wenige, gerade wenn es sich nicht um ein absolutes Bilderbuch-EKG handelt.
Das ist schade. Und problematisch. Schade, weil eine absolute Standardmaßnahme zur Diagnostik nicht wirklich beherrscht wird. „Ist ja Sache des Notarztes“. Problematisch, weil durchaus gravierende kardiale Probleme, die sich im EKG manifestieren, einfach nicht erkannt werden. Folge ist da eine ausbleibende oder falsche Behandlung und/oder eine falsche Klinikauswahl.
Ja, EKG ist nicht ganz einfach. Ja, es erfordert sowohl ein solides Grundverständnis was Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie angeht, wie auch ein gewisses technisches Grundverständnis. Vor allem erfordert es jedoch eins: Struktur bei der Interpretation und Übung.
Und letztere Punkte liegen bei jedem selbst.
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