Wie kann das denn passieren?

brown band aids on blue surface

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Überraschung!

Überraschungen im Rettungsdienst sind nun eher selten…positiv. Sie stellen einen oft unvorbereitet vor etwaige Probleme. Aus diesen Überraschungen erwachsen dann aber oft genug „So etwas hatte ich noch nie“-Situationen, die dann doch berichtenswert sind. So lief es auch in diesem Fall.

Ein RTW-Tagdienst auf meiner Stammwache – zu dem Zeitpunkt hatten wir bereits drei Einsätze hinter uns, was doch für einen eher unruhigen Tag spricht, hatten gerade unser Frühstück, das zum „Nachmittagssnack“ geworden ist, gegessen und ich war gerade dabei, mit unseren Azubis für ihre RS-Zwischenprüfung zu lernen.

Bis mein Kollege das Treiben mit den Worten

„Komm‘ mal runter, da ist jemand mit einer blutenden Zunge“

Ein Hilfeersuchen auf der Rettungswache – das ist auf einer unserer Außenwachen zwar Gang und Gäbe (warum auch immer), auf meiner Stammwache aber erstaunlich selten. Hilfeersuchen auf der Wache sind für uns immer etwas…komisch. Komisch deshalb, weil diese Variante der rettungsdienstlichen Arbeit einfach nicht vorgesehen ist – und komisch deshalb, weil man ohne jede Vorbereitungszeit in eine Situation geworfen wird, in der man unter Umständen sofort handeln muss.

Während ich vom Lehrsaal Richtung Haupteingang gehe, überlege ich mir, was das nun sein könnte. Der erste Gedanke ist ein simples „hat sich auf die Zunge gebissen“. Und im Kopf schwirrt der Gedanke herum: „Was machen wir mit ihm?“. Viel Zeit zum Überlegen bis zum ersten Patientenkontakt bleibt nicht.

Scene – Safety – Situation

Scene: Winter, Mittag, 15:00 kühl, trocken, Rettungswache.

Safety: Keine augenscheinlichen Gefahren.

Situation: Der Patient, 60 Jahre, steht mit seiner Ehefrau am Haupteingang unserer Rettungswache. Er klagt seit 12:00 Uhr über eine anhaltende, spontan aufgetretene Blutung aus der Zunge.

In Anbetracht der Gesamtsituation entscheiden wir uns für ein

Ersteinschätzung

Nicht kritisch.

und verbringen den Patienten zur weiteren Untersuchung in den RTW, setzen ihn erstmal auf den Betreuerstuhl und starten in unser Primary Survey:

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose. Kein Zungenbiss. Anhaltende Blutung medial aus dem Zungenrücken ohne erkennbare Verletzung. Schlechter Zahnstatus.

B – Breathing

Atemfrequenz 16/min, keine obere Einflussstauung, Thorax stabil, Atemexkursionen regelrecht, Pulmo bds. vesikuläres AG, SpO2 99 %. Kein pathologisches Atemmuster. Keine Dyspnoe

C – Circulation

Haut rosig, warm, trocken, keine stehenden Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse gut tastbar, HF 90/min; Abdomen weich, nicht druckdolent. Blutungsräume unauffällig. RR 130/90 mmHg. EKG: Sinusrhythmus, ohne Ischämiezeichen

D – Disability

GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen isokor, mittelgroß, prompte LR. quick-FAST unauffällig, pDMS intakt. BZ 100 mg/dl.

E – Exposure/Environment

Schädel stabil, Wirbelsäule nicht druck-/klopfschmerzhaft, kein vorausgeganges Trauma. Temp. 36,8°C.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Blutung nun doch schon seit drei Stunden anhält und auch eine manuelle Kompression der Blutungsquelle wenig erfolgreich ist, entscheiden wir uns für ein

Einschätzung

Ernsthaft krank.

und leiten die weiteren Maßnahmen ein.

Mein Kollege gibt der Leitstelle bescheid, während ich dem Patienten einen i.v.-Zugang (18 G) lege und parallel dazu die Anamnese vervollständige.

SAMPLER(S)

S – Symptome

Anhaltende Blutung seit drei Stunden aus dem medialen Zungenrücken, spontan aufgetreten, keine Verletzung durch Nahrungsmittel oder Zungenbiss. Der Patient berichtet, dass solche Blutungen in der Vergangenheit bereits öfter aufgetreten, aber nach kurzer Zeit spontan sistiert sind.

A – Allergien

Keine.

M – Medikamente

ASS, Rivaroxaban, Ramipril.

P – Vorerkrankungen

aHT, pAVK mit Stenting.

L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang

Nahrungsaufnahme Frühstück am morgen, ca. 8:00. Miktion und Stuhlgang unauffällig.

E – Ereignis

Spontanes Auftreten der Blutung ohne erkennbaren Auslöser.

R – Risikofaktoren

Alter, Vorerkrankungen, Antikoagulation + Thrombozytenaggregationshemmung, fortgesetzter Nikotinabusus.

S – Schwangerschaft

Ausgeschlossen.

In Anbetracht der Tatsache, dass unser Patient eine für uns nicht kontrollierbare Blutung seit mehreren Stunden und gleichzeitiger Antikoagulation und Thrombozytenaggregationshemmung hat, ist aus unserer Sicht ein RTW-Transport durchaus indiziert.

Die Frage meines Kollegen

„Sollen wir ihn sitzen lassen?“

habe ich entsprechend verneint. Während ich in der nächstgelegenen HNO-Klinik anmelde, übernimmt mein Kollege die Lagerung und komplettiert das Monitoring.

Auch wenn unser Patient zum jetzigen Zeitpunkt völlig kreislaufstabil ist, entscheide ich mich mit Blick auf die Gesamtsituation für einen Transport mit Sonder- und Wegerechten. Transportpriorität bei unkontrollierbarer Blutung eben.

Die Fahrt in die nächste HNO braucht ihre Zeit – Landrettung sei Dank – und verläuft eigentlich recht unspektakulär. Bis auf die letzten zehn Minuten der Fahrt.

Unser Patient wird, fast wie aus dem nichts, blass…oder eher „käseweiß“ und der vormals solide Blutdruck um die 120/90 mmHg war plötzlich bei 90/60 mmHg. Und mein erster Gedanke war: das geht jetzt schief. Allzu große Strategieüberlegungen waren jetzt nicht drin – wir waren mitten auf der Autobahn, ein Rendezvous mit dem Notarzt würde bei der verbleibenden Fahrzeit keinen Vorteil bringen. Vielleicht doch einen Schockraum anmelden?

Bevor ich irgendeine Entscheidung treffen kann, übergibt sich unser Patient großzügig – wie erwartet eine unansehnliche Mischung auf Kaffeesatzerbrechen und wenig frischen Blutbeimengungen. Die anhaltende dreistündige Blutung und das zwangsläufige Verschlucken von Blut hat ihren Tribut gefordert.

Kurz darauf hat unser Patient zumindest wieder eine rosige Hautfarbe und der Blutdruck hat sich auf die vorhergehenden Werte eingependelt. Ich beschließe, dass es erstmal weitergeht, wie geplant.

In der HNO-Ambulanz angekommen werden wir vom diensthabenden Arzt in Empfang genommen, bringen den Patienten ins Behandlungszimmer, machen die Übergabe und warten einen Teil der Untersuchung und Behandlung ab.

Die Blutungsquelle war tatsächlich nicht ganz so einfach zu stillen; allein in der Zeit unseres Beiseins wurde zweimal verödet.

Was war denn das?

Ehrlicherweise hatte ich noch keinen vergleichbaren Fall in meiner rettungsdienstlichen Laufbahn und damit Grund genug, mich mit den Ursachen zu beschäftigen.

Nach der Meinung des behandelnden HNO-Arztes war hier ein kleineres Gefäß unmittelbar die Blutungsquelle. Nun, wie kommt es jetzt zur Blutung?

Nachdem eine allgemeine Recherche keine identischen Fälle zu Tage gefördert hat, bleiben am Ende doch nur die eigenen Überlegungen zur möglichen Blutungsursache übrig.

Unser Patient hatte augenscheinlich eine ausgeprägte Arteriosklerose – erkennbar an der schweren peripheren arteriellen Verschlusskrankheit, wegen der er schon seit Jahren in Behandlung ist. Diese kann zum einen zu Durchblutungsstörungen (u.a. mit Wundheilungsstörungen als Folge führen), aber auch die Gefäßwand derartig schwächen, dass diese leichter einreißen kann – es kommt zu einer Blutung.

Beitragend ist hier wohlmöglich auch die fehlende „Schonbarkeit“ der Zunge – und der unmittelbare Kontakt mit Noxen des Tabakrauchs.

All das kann durchaus zu einer Blutung führen – wird nun die Hämostase sowohl auf Ebene der Thrombozyten (durch ASS) als auch auf Ebene der plasmatischen Gerinnung (durch Rivaroxaban) gehemmt, wird zügig eine schwerwiegende Blutung daraus.

Fazit

Was fand ich gut?

  • Zeitmanagement – es sind lediglich 15 Minuten von der Vorstellung auf der Rettungswache bis zum Transportbeginn vergangen
  • Transportpriorität bei unkontrollierbarer Blutung
  • „Safety first“ – sowohl was Monitoring, Lagerung und i.v.-Zugang anging

Was fand ich nicht gut?

  • Hilfeersuchen auf der Rettungswache ohne Vorbereitungszeit
  • fehlende Möglichkeiten, gezielt zu intervenieren

Was ist mir wichtig? – Take-home-Message

Betrachten wir es allgemein ist die Take-home-Message wohl: nimm jedes Hilfeersuchen ernst – egal, auf welchem Wege es euch erreicht.

Man kann wirklich sehr leicht der Versuchung erliegen, dass das fußläufige Hilfeersuchen auf der Rettungswache nichts dramatisches haben kann. Und es wäre gelogen, wenn dieser Gedanke nicht auch bei uns vorhanden gewesen wäre.

Spezifischer gibt es zwei Punkte, die ich gerne mitgeben würde: ein Notfallpatient – egal, wie stabil er vor der Abfahrt sein mag – wird nicht sitzend transportiert. Treten Probleme oder Komplikationen auf, hat man nicht nur wesentlich weniger Möglichkeiten, am Patienten zu arbeiten, sondern auch das zusätzliche Problem, diesen erstmal auf die Trage zu bringen.

Und: die Transportpriorität sollte situativ angemessen genutzt werden – es macht keinen Sinn, erst dann eine Transportpriorität festzulegen, wenn der Patient so kritisch geworden ist, dass es gar nicht mehr anders geht. Dann ist schon etwas schiefgelaufen.

Mitunter auch ein Sinn der Transportpriorität ist es, den Patienten so zügig in eine geeignete Behandlungseinrichtung zu bringen, bevor es für den Patienten kritisch wird.

Interessenkonflikte

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Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/458DGcB Affiliate-Link

Deutscher Berufsverband Rettungsdienst e.V. (2024): Musteralgorithmen 2024 zur Umsetzung des Pyramidenprozesses im Rahmen des NotSanG, Version 9.1, abgerufen unter https://www.dbrd.de/images/algorithmen/DBRDAlgo24_Web_3.pdf am 18.03.2024

Fachinfo-Service (2024): Fachinformationen Xarelto® 10 mg Filmtabletten, abgerufen unter https://www.fachinfo.de/pdf/011277 am 18.03.2024

Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3q8w62I Affiliate-Link

Scholz J., Gräsner J.-T., Bohn A. (2019): Referenz Notfallmedizin. Georg Thieme Verlag KG. ISBN 978-3-13-241290-3. DOI: 10.1055/b-006-149615. Hier erhältlich: https://amzn.to/3uhENtA Affiliate-Link

Vaupel P., Schaible H.-G., Mutschler E. (2015): Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie des Menschen, 7. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart. ISBN 978-3-8047-2979-7. Hier erhältlich: https://amzn.to/3Szzpsu Affiliate-Link

Ziegenfuß T. (2022): Notfallmedizin, 8. Auflage. Springer-Verlag Berlin/Heidelberg. ISBN 978-3-662-46891-3. DOI 10.1007/978-3-662-46892-0. Hier erhältlich: https://amzn.to/3uNocxX Affiliate-Link

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Über SaniOnTheRoad

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SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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