Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.
Um es vorneweg zu nehmen: bei diesem Einsatz ging tatsächlich einiges schief und es wurden Dinge gemacht, die ich mittlerweile – mit mehr Erfahrung – definitiv nicht mehr so machen würde.
Ich bin kein Fan von „ich bin perfekt und alles was ich mache wird perfekt“, sondern ein Fan von gelebter Fehlerkultur. Wir alle machen Fehler und da darf ich mich keineswegs von ausnehmen. „Gelebte Fehlerkultur“ heißt auch, zu seinen gemachten Fehlern zu stehen – und daraus zu lernen. Vielleicht hilft dieser Bericht dem ein oder anderen, die eigene Denk- und Vorgehensweise bei Routineeinsätzen zu hinterfragen.
Zum Background: ich war erst drei, vier Monate auf der Wache und somit „frischer“ RS. Zudem fuhr ich das erste Mal Spätschicht auf dem NKTW mit einer Kollegin, die ich als etwas speziell kennen gelernt habe.
Der Einsatz
Es war kurz nach Dienstbeginn, also am frühen Nachmittag und uns erwartete die erste Fahrt – „Dialyse Rücktransport“ stand auf dem Diensthandy. Meine Kollegin fährt, ich bin Beifahrer.
Auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt erst kurz im Geschäft war, war es für mich Routine – dreimal wöchentlich Hin- und Zurück bei zum Teil sechs Patienten gleichzeitig. Man kennt die Patienten, mit den Mitarbeitern in der Dialyse ist man per „du“. Bislang ist mir nie etwas dramatisches passiert.
Ankunft an der Dialyse, die nur einen Katzensprung von der Wache entfernt liegt. Tragestuhl geschnappt, gewogen und zur Patientin. Diese war knappe 80 Jahre alt, beginnend dement, mit einer armbetonten Hemiparese (Anm.: Halbseitenlähmung, Folge eines Schlaganfalls), und eigentlich immer gut drauf und relativ fit.
Der Dialysepfleger berichtet von starken Blutdruckabfällen während der Dialyse, derzeit ist der Blutdruck normal. Nun gut. Während meine Kollegin sich noch mit dem Pfleger unterhält, mache ich mich auf zum Umsetzen in den Tragestuhl. Im Zimmer angekommen und die Begrüßungen ausgetauscht fällt mir der blasse, kränkliche Gesichtsausdruck der Patientin auf – sie sagte auch selbst, dass es ihr heute nicht besonders gut geht.
Mein Bauchgefühl meldet sich zum ersten Mal. Noch denke ich mir nicht viel dabei. Wird wohl mit den Blutdruckproblemen zusammenhängen. Umgesetzt, gewogen und dann ab ins Auto.
Die Fahrt geht in ein etwas weiter entfernten Ort, etwa 25 Minuten Fahrzeit über teilweise wirklich grausame Wege. Unsere Patientin ist ausgesprochen schweigsam für ihre Verhältnisse, während der gesamten Fahrt. Mein Bauchgefühl meldet sich ein zweites Mal: „Hier stimmt was nicht.“ Die Hälfte der Strecke ist schon geschafft und so beschließe ich nach Rücksprache mit meiner Kollegin, am Wohnort etwas genauer nachzusehen.
So weit sollte es allerdings nicht kommen – knappe fünf Minuten vor Fahrtende beginnt die Patientin massiv zu erbrechen. Zwei Spucktüten voll. Das hatte ich bei ihr noch nie erlebt. Ich rufe nur noch „Halt an!“ nach vorne und wir setzen die Fahrt dann im Schritttempo fort, nachdem der erste Schwall draußen war…
An der Wohnung angekommen begutachtet meine Kollegin die Patienten und entscheidet, dass wir sie zunächst nach drinnen verbringen, bevor wir etwas weiteres machen. Die Tochter empfängt uns bereits und ist über den schlechten Zustand ihrer Mutter verwundert.
Meine Kollegin wollte zunächst mal „nur Blutdruck messen“, da sie diesen ebenfalls für das Hauptproblem hält. Darum wird auch erstmal nur die Blutdruckmanschette aus dem Auto mitgenommen.
Nach einem Messversuch sagt sie nur: „Ich kann nichts hören – sie scheint aber schnell [Anm.: schneller Puls] unterwegs zu sein.„
Also gehe ich nochmal ans Auto und hole den Corpuls C1, der zumindest eine Pulsoxymetrie und ein 6-Kanal-EKG ermöglicht. Kaum angelegt wird das Problem deutlich – eine Sauerstoffsättigung von 90 % und eine Herzfrequenz um die 180/min. Spätestens jetzt wurde uns klar, dass die Patienten ein gewaltiges Problem hat. Und zwar ein anderes als gedacht.
Für uns steht fest, dass wir die Patienten so auf gar keinen Fall zuhause lassen können. Die Tochter stimmt zu. Meine Kollegin fordert das NEF nach (ebenfalls mit 20 Minuten Anfahrt) während ich Sauerstofftasche und Notfallkoffer hole.
Wir geben Sauerstoff über eine Nasenbrille, ich bereite eine Infusion vor, meine Kollegin legt unterdessen einen venösen Zugang. Die Patientin erbricht mehrfach – eine Gastroenteritis (Anm.: Magen-Darm-Grippe) ist allerdings unwahrscheinlich.
Meine Kollegin studiert Medikamentenplan und die letzten Arztbriefe, führt die Fremdanamnese mit der Tochter durch und ich beginne nach Anweisung Metoprolol und Vomex aufzuziehen. Die Trage bereite ich ebenfalls vor.
Knappe fünf Minuten, nachdem alles erledigt ist, trifft das NEF ein. Die Notärztin erhält von meiner Kollegin die Übergabe und stellt erstmal die Frage in den Raum, wer den Fahrer war (als Grund für die Übelkeit). Nach kurzer Anamnese und einem 12-Kanal-EKG entschließt sich die Notärztin, Vomex und Verapamil statt Metoprolol zu geben.
Der Erfolg der medikamentösen Therapie der Tachykardie ist beschränkt – die Herzfrequenz sinkt zwar auf 150/min, eine normale Herzfrequenz wird aber nicht erreicht. Wir verbringen die Patienten mit dem Tragestuhl wieder nach draußen und lagern sie auf die Trage um.
Der NEF-Fahrer klärte unterdessen die nächste internistische Intensivstation ab – diesmal wieder Richtung „Heimatkrankenhaus“ – und somit praktisch unser Rückweg zur Wache. Nur diesmal als NAW mit Sonder- und Wegerechten.
Die Patientin sollte für über 10 Tage auf der Intensivstation bleiben mit kaum einstellbaren supraventrikulären Tachykardien.
Background-Info
Corpuls C1
EKG-Monitor der Firma Corpuls, ermöglicht 6-Kanal-EKG, Pulsoxymetrie sowie manuelle und halbautomatische Defibrillation.
Metoprolol
Betablocker; wird als Medikament gegen Herzrhythmusstörungen (Antiarrhythmikum) und als Blutdrucksenker (Antihypertonikum) eingesetzt.
Verapamil
Calciumkanalblocker vom Phenylalkylamin-Typ; wird ebenfalls als Antiarrhythmikum eingesetzt.
Tachykardie
Anhaltend schnelle Herzfrequenz mit > 100/min, ugs. auch „Herzrasen“.
Supraventrikuläre Tachykardie
Von den Herzvorhöfen ausgehende Tachykardie.
Persönliches Fazit
Was fand ich gut?
- klare Übergabe des Pflegepersonals der Dialyse mit dem Hinweis auf bestehende Probleme
- in Anbetracht der ersten Zusammenarbeit mit meiner Kollegin gute Kommunikation und klare Aufgabenverteilung
- korrekte Behandlung und Entscheidungsfindung nach Eintreffen in der Wohnung
Was fand ich nicht gut?
- der kritische Zustand der Patientin wurde deutlich zu spät erkannt, obwohl es zumindest Hinweise gab
- mein „Ignorieren des Bauchgefühls“ – wenn etwas nicht stimmt muss man rausfinden, was nicht stimmt und die Behandlung darauf abstimmten. Das „Bauchgefühl“ ersetzt zwar keine Befunde und Diagnosen, ist aber ein Parameter, den man nicht ignorieren sollte
- Ausladen der Patientin an der Wohnung, obwohl schon ein medizinisches Problem vermutet wurde. Dadurch wurde die ohnehin kritische Patienten mehrfach umgelagert, es ging Zeit verloren und das Material musste vom Fahrzeug in die Wohnung gebracht werden
- Rückblickend: meine Einstellung zu dem Einsatz. „Ist ja nur eine Routinefahrt, wird schon nix passieren“ lässt einen auch deutliche Warnsignale, die das Gegenteil bedeuten, geflissentlich ignorieren. Hochgradig gefährlich. Augen auf, auch bei vermeintlichen Routinetransporten.
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