Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.
Manchmal zweifelt man an der Menschheit
Es gibt Einsätze, wo man sich wirklich fragt, wofür man eigentlich drei Jahre gelernt hat – und wo man sich fragt, wie hilflos und unbeholfen manche Erwachsenen wirklich sind.
So auch bei diesem Einsatz, bei dem die Abarbeitung letztendlich nichts als Allgemeinwissen und gesunden Menschenverstand benötigt hatte.
Einsatzdaten
Einsatzmeldung: akutes Schmerzsyndrom.
Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, ohne Sonder-/Wegerechte.
Schon die Zusatzinfo
“17 Jahre, starker Sonnenbrand”
ließ erahnen, dass der Einsatz vermutlich nicht mehr wird als ein Beratungsgespräch. Ich werfe einen Blick auf die Uhr – halb zwei mitten der Nacht – und quäle mich aus dem Bett in Richtung RTW. Die Anfahrt ist kurz, innerhalb des Ortes, drei Minuten später stehen wir vor der Tür.
Scene – Safety – Situation
Scene: Sommer, Nacht, 01:30 Uhr, warm, Einfamilienhaus in Kleinstadt.
Safety: keine augenscheinlichen Gefahren.
Situation: Die Mutter des Patienten nimmt uns in Empfang und führt uns die Treppe hoch, wo unser Patient oberkörperfrei auf dem Bett sitzt. Er schildert, dass der vor zwei Tagen in der Sonne eingeschlafen sei, einen deutlichen Sonnenbrand bekommen hat und sich nun die Haut im Schulter- und Brustbereich schmerzhaft schält.
Das
“Was soll ich jetzt tun?”
verkneife ich mir. Wir kommen zur Einschätzung
Ersteinschätzung
Nicht kritisch.
Nichtsdestotrotz erhält auch der junge Mann ein komplettes Primary Survey und eine Anamnese.
xABCDE
x – Exsanguination
Keine starke äußere Blutung.
A – Airway
Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose.
B – Breathing
Atemfrequenz 14/min, keine obere Einflusstauung, Thorax stabil, Atemexkursionen regelrecht, Pulmo bds. VAG, keine Dyspnoe. SpO2 98 %.
C – Circulation
Haut rosig, warm, trocken, keine stehenden Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse gut tastbar; Abdomen weich, keine Abwehrspannung, Blutungsräume unauffällig, RR 120/70 mmHg. EKG: Sinusrhythmus, HF 80/min.
D – Disability
GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen isokor, mittelweit, prompte Lichtreaktion; quick-FAST unauffällig, pDMS intakt, BZ 103 mg/dl.
E – Exposure/Environment
Schmerzen im Schulter- und Brustbereich, Sonnenbrand mit Rötung und sich langsam ablösender Haut, keine Hinweise auf akute Infektion, Bodycheck sonst unauffällig. Temp. 37,0°C.
Es bleibt bei der Einschätzung
Einschätzung
Nicht kritisch.
Auch die SAMPLER(S)-Anamnese gestaltete sich erwartungsgemäß unauffällig…
SAMPLER(S)
S – Symptome
Schmerzen im Schulter- und Brustbereich, NRS 4, Sonnenbrand mit Rötung und sich langsam ablösender Haut. Kopfschmerzen, Bewusstseinsstörungen, Schwindel, Übelkeit und Erbrechen werden verneint.
A – Allergien
Keine.
M – Medikamente
Keine.
P – Vorerkrankungen
Keine.
L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang
Letzte orale Aufnahme: Abendessen, ca. 18:00 Uhr.
E – Ereignis
Starke Sonnenexposition vor zwei Tagen.
R – Risikofaktoren
Keine.
S – Schwangerschaft
Ausgeschlossen.
Was tun?
Wir haben einen augenscheinlich völlig stabilen Patienten ohne vitale Bedrohung und ohne jeden dringlichen Handlungsbedarf.
Die Entscheidung fiel hier tatsächlich auf ein Beratungsgespräch mit überforderter Mutter und Patient – kühle Umschläge, ggf. Quarkwickel für die intakten Hautstellen erwägen, die Einnahme eines verträglichen Schmerzmittels, auf ausreichende Trinkmenge achten und morgen früh zum Haus- oder Kinderarzt waren die Empfehlungen.
Das war’s. Mutter und Patient waren glücklich – wir nicht so wirklich.
Fazit
Eine allzu umfassende Take-home-Message liefert dieser Einsatz nicht. Das muss er auch letztendlich nicht.
Dieser Einsatz zeigt einfach die andere Seite der rettungsdienstlichen Arbeit, die vielen Kollegen (durchaus verständlicherweise) zuwider ist: die sich häufenden Bagatelleinsätze.
Hier hatten wir schlichtweg ein “akutes Überforderungssyndrom” anstelle des gemeldeten “akuten Schmerzsyndroms”. Leider auch hier ein Fall fehlender Gesundheitskompetenz, leider auch hier Patientenedukation auf dem Level “Allgemeinwissen”.
Die Hilflosigkeit und die Entscheidungsunfähigkeit in Belangen der eigenen Gesundheit fasziniert und schockiert mich zugleich. Vor allem aber: zumindest mit anekdotischer Evidenz ist die Zunahme dieser Einsätze enorm.
Der Ausbau des ärztlichen Bereitschaftsdienstes ist an dieser Stelle eine unbedingte Notwendigkeit – auch, weil der Rettungsdienst durch derartige Einsätze schlichtweg in Richtung Überlastung und Resignation läuft.
Siehe auch
Interessenkonflikte
Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Quellen
SaniOnTheRoad (2020): Der ärztliche Bereitschaftsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/der-arztliche-bereitschaftsdienst/ am 12.07.2022
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