Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.
Manchmal sind es die kleinen Dinge, die über „Erfolg“ und „Scheitern“ eines Einsatzes entscheiden. Manchmal ist es nicht die hochtrabende Diagnostik oder präklinische Notfallmedizin auf universitärem Niveau, dass uns den entscheidenden Hint gibt.
Im Folgenden berichte ich von einem Einsatz, den zwei junge Rettungssanitäter auf unserer Wache am Anfang diesen Jahres erlebt hatten. An der Geschichte haben sie mich teilhaben lassen 😉
Das soll im übrigen keine „Vorführung“ der beiden sein – es ist einfach nur ein kleiner, aber wunderschöner Reminder an alle Kollegen, mich eingeschlossen, die Basismaßnahmen nicht zu vergessen.
Zum Einsatz
Es war wohl ein normaler Wochenend-KTW-Dienst, in dem man außer Dialysefahrten für andere Bereiche und Entlassungen nicht viel zu tun hat. Zwölf Stunden Langeweile. Meistens.
Und auch der reinkommende Einsatz verspricht nicht unbedingt die große Spannung:
Einsatzdaten
Einsatzmeldung: Hausnotruf; Info: Patient zittert.
Alarmierte Fahrzeuge: KTW solo, ohne Sonder-/Wegerechte.
Hausnotruffahrten bestehen bei uns zu 90 % aus einfachen Hilfeleistungen ohne Transport. Hingefallen, aufgehoben, unverletzt, will nicht mit. Ein Service des Rettungsdienstes, weil die Anbieter selbst kein Personal schicken können – oder wollen. Dementsprechend beliebt sind diese Einsätze bei den meisten Kollegen.
Die Anfahrt dauert keine fünf Minuten, sie führt an den Rande unserer Stadt.
Scene – Safety – Situation
Scene: Vormittag, kalt, trocken, sonnig, Altbauwohnung.
Safety: keine augenscheinlichen Gefahren.
Situation: Die Besatzung wird vom Patienten, etwa 80 Jahre, an der Tür empfangen und begleiten ihn in die Küche. Er berichtet von Unwohlsein und einem unerklärlichen Zittern nach dem Aufstehen.
Unsere beiden noch jungen Kollegen hatten erstmal: nichts greifbares. Man entschied sich bei dem Gesamteindruck erstmal für ein
Ersteinschätzung
Nicht kritisch.
Also wird einmal in aller Ruhe Diagnostik betrieben, was der KTW denn hergibt. Sogar zu einem xABCDE haben sich die Kollegen hinreißen lassen 😉 – dafür schon mal ein Daumen hoch!
xABCDE
x – Exsanguination
Keine starke äußere Blutung.
A – Airway
Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht und rosig, keine Zyanose.
B – Breathing
Atemfrequenz 20/min, Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits vesikuläres Atemgeräusch, keine Halsvenenstauung, keine Dyspnoe.
C – Circulation
Haut rosig, warm, trocken, keine stehenden Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse tastbar, rhythmisch, leicht tachykard; Abdomen weich, keine Abwehrspannung; keine Schmerzangabe im Becken, Oberschenkel stabil, RR 160/70 mmHg.
D – Disability
GCS 15, Pupillen isokor, mittelweit, prompte Lichtreaktion; FAST unauffällig, pDMS unauffällig, BZ 128 mg/dl. Der Patient wirkt leicht agitiert.
E – Exposure/Environment
Bodycheck unauffällig, keine Verletzungen.
Tja, und nun? Man bleibt bei
Einschätzung
Nicht kritisch.
und geht mangels guter Idee für eine Verdachtsdiagnose mal in die weitere Anamnese.
SAMPLER(S)
S – Symptome
Nicht näher definiertes Unwohlsein sowie kurzzeitiges „Zittern“ nach dem Aufstehen.
A – Allergien
Penicilline.
M – Medikamente
Acetylsalicylsäure, Ramipril, L-Thyroxin. Die Medikamente hat der Patient noch nicht eingenommen.
P – Vorerkrankungen
KHK, arterielle Hypertonie, Hypothyreose.
L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang
Letzte Mahlzeit gestern Abend, heute morgen um 8:00 nur Kaffee getrunken.
E – Ereignis
Symptomatik ohne Auslöser nach dem Aufstehen aufgetreten.
R – Risikofaktoren
Alter, Vorerkrankungen.
S – Schwangerschaft
Ausgeschlossen.
Ja – auch die Anamnese hatte unsere zwei Helden des Alltags nicht wirklich weitergebracht.
Die Hypertension können sie nun erklären. Exsikkose? Keine stehenden Hautfalten, und trinken tut der gute Mann auch genug. Irgendwas anderes kardiales? Keine Symptome dafür. Was pulmonales? Passt jetzt auch nicht so wirklich, vielleicht die leicht erhöhte Atemfrequenz? Dazu ist er ja auch schon ein wenig agitiert. Vielleicht doch nur ein Erregungszustand? Oder wurde etwas vergessen?
Und was wäre eure Verdachtsdiagnose?
Unsere Kollegen entscheiden sich erstmal für die Verdachtsdiagnose „Erregungszustand„, weil sie nichts besseres haben – nach kurzer Unterhaltung mit dem Patienten stimmt dieser zu, zuhause zu bleiben und bei Bedarf den Hausarzt aufzusuchen.
Gerade beim Schreiben des Protokolls, welches sie – vorbildlich wie sie sind – beim Patienten belassen wollen, fängt der Patient erneut an, zu zittern. Nein, kein Krampfanfall, sondern einfach nur ein Zittern.
Die beiden werden unsicher: was, wenn doch mehr dahintersteckt? Sie überreden den Patienten also, sich doch mal in der Notaufnahme des örtlichen Grundversorgers durchchecken zu lassen. Fünf Minuten Fahrt und wenn nix ist, kann er ja wieder nach Hause.
Also wird der Patient eingepackt und mal prompt mit der Verdachtsdiagnose „Erregungszustand“ an die Pflegekraft der Notaufnahme übergeben.
In der Notaufnahme
Es erfolgt ein wenig das Standardprozedere der normalen Patientenaufnahme, während die Besatzung auf den T-Schein wartet.
Pulsoxymeter dran … 97 %ige Sättigung, Puls von 100/min, Blutdruckmanschette dran, automatische Messung los … 170/80 mmHg, Thermometer ins Ohr … 38,7°C. Moment: 38,7°C?
Den Kollegen fällt es so langsam wie Schuppen von den Augen: Fieber messen vergessen! Aber nicht nur den beiden, sondern auch dem „Drachen der Notaufnahme“, welche gerade das Monitoring durchgeführt hat.
„Wie könnt ihr denn sowas übersehen? Ihr könnt doch keinen infektiösen Patienten ohne Voranmeldung bringen! Sowas können wir doch nicht versorgen! Das ist doch ein Verdachtsfall! Jetzt können wir hier alles zu machen! …“
Jedenfalls haben die Kollegen erstmal einen Einlauf erhalten, der sich gewaschen hat. Klinikintern lief jetzt erstmal der Patient als Verdachtsfall und kam in den ganzen Luxus, den er so erwarten konnte.
Geknickt ging es für die Besatzung Richtung Auto – und erstmal Richtung Einsatzdesi.
Fazit
Was fand ich gut?
- dynamische Entscheidungsfindung im Einsatz – auf eine Änderung des Patientenzustands wurde in einer angemessenen Form reagiert
- Nutzung von xABCDE und SAMPLER im Krankentransport
Was fand ich nicht gut?
- Transport in die Klinik ohne greifbare Verdachtsdiagnose
- das Vergessen des elementaren Parameters „Temperatur“ und
- die Reaktion der Pflegekraft – situativ und im Tonfall keineswegs angemessen.
Was ist mir wichtig? – „Take-Home-Message“
Wie man hier sieht, kann eine einzelne Sache eine riesengroße Wirkung entfalten. Man darf es nicht falsch verstehen: die Kollegen haben keine schlechte Patientenversorgung geleistet, überhaupt nicht. Wenn man diesen einen Knackpunkt weglässt, wäre es eigentlich ein Paradebeispiel für einen guten Einsatz.
Gerade in der jetzigen Zeit unter COVID-19 sollte man die Temperaturmessung – die sowieso schon Standard ist – umso mehr auf dem Schirm haben und konsequent bei jedem Patienten durchführen. Allein schon wegen des Eigenschutzes. Und in dem Zuge machen wir den Wärmeerhalt gleich mit!
Wie Samuel Shem schon so schön sagte
„If you don’t take a temperature, you can’t find a fever“
– aus Samuel Shem, „House of God“
Im Übrigen: der Patient war COVID-negativ, er hatte nur einen ordentlichen grippalen Infekt.
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