Neurologischer Dienstag

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Es gibt Tage und Wochen, wo man gefühlt nur eine Art von Einsätzen fährt – vor kürzerem hatte ich dieses Gefühl ebenfalls „mal wieder“. Sicher, dass es sich hierbei keinesfalls um irgendwelche wissenschaftlichen oder statistischen Erhebungen handelt, sondern lediglich um eine selektive Wahrnehmung.

Dieser Tag blieb mir allerdings zumindest aufgrund von zwei Patienten sehr in Erinnerung. Es war – der Titel lässt es erahnen – neurologischer Dienstag. Noch genauer: Schlaganfall-Dienstag. Vier Einsätze, vier Schlaganfälle – von den ersten beiden möchte ich berichten.

Erster Einsatz

Der erste Einsatz des Tages sollte von vornherein ein offensichtlich neurologischer werden.

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: Schlaganfall, im Lysefenster.

Alarmierte Fahrzeuge: RTW, mit Sonder-/Wegerechten.


Scene – Safety – Situation

Scene: großes Einfamilienhaus am Heimatstandort, Erdgeschoss, etwa 10 Uhr morgens, sonnig.

Safety: keine offensichtlichen Gefahren.

Situation: die Tochter der Patientin öffnet die Tür und führt uns zu ihrer auf dem Bett liegenden Mutter.


Ersteinschätzung

Potentiell kritisch.

Nach kurzer Anfahrt und unserer Vorstellung stiegen mein Kollege und ich ins Primary Survey ein, parallel dazu erhob ich die Anamnese der Patientin. Hierbei ergaben sich die unten stehenden Befunde.

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute rosig, keine Zyanose.

B – Breathing

Atemfrequenz 20/min, SpO2 96%, Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits vesikuläres Atemgeräusch, keine Halsvenenstauung.

C – Circulation

Haut rosig, trocken und warm; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse beidseits gut tastbar und normofrequent; Abdomen weich, keine Abwehrspannung, nicht druckdolent; keine Schmerzangabe im Becken, Oberschenkel stabil, RR 170/90 mmHg, das im Verlauf angelegte EKG zeigt Sinusrhythmus mit HF 75/min.

D – Disability

GCS 15, Pupillen mittelgroß, isokor, prompte Lichtreaktion; Kopfschmerzen und Schwindel bestehen seit mehreren Tagen, Übelkeit und Erbrechen werden verneint. Am Vortag traten Sehstörungen auf, am heutigen Tag zudem Sprachstörungen sowie Sensibilitäts- und Motorikstörungen der oberen Extremitäten. Initial waren FAST sowie pDMS unauffällig. BZ 139 mg/dl.

E – Exposure/Environment

Bodycheck unauffällig, keine Verletzungen erkennbar, traumatische Ereignisse werden durch die Patientin verneint, Temperatur 36,5°C.

Diese berichtet von einem fortgeschrittenen Pankreaskarzinom mit Chemo- und Strahlentherapie sowie seit dem Vortag neu aufgetretenen, sehr variablen und zudem nicht persistierenden neurologischen Ausfallerscheinungen. Besonders sei die Sprachstörung (Patientin konnte nicht mehr sprechen, verstand aber alles) und die Motorikstörung (Patientin konnte Flasche nicht halten) auffällig gewesen.

Die initial durchgeführte neurologische Untersuchung verlief ohne Auffälligkeiten.

Auch wenn die Anamnese mit einem Onset der Symptomatik am Vortag eine Lysetherapie ausschloss, entschieden wir uns für ein „Load & Go“ und eine hohe Transportpriorität.

Wir lagerten die Patientin noch im Haus auf die Trage um, verbrachten sie in den RTW, vervollständigten unser Monitoring und legten einen venösen Zugang (18 G) und schlossen eine langsam tropfende Vollelektrolytlösung zum Offenhalten an.

Kurz nach dem Abschluss unserer Maßnahmen traten die Sprachstörungen erneut auf – die Patientin zeigte eine Broca-Aphasie – sie war in der Lage, auf „Ja-Nein-Fragen“ mittels Nicken und Kopfschütteln zu antworten.

Abgesehen von der Sprachstörung blieb die Patientin weiterhin neurologisch unauffällig und auch weitergehende Diagnostik (u.a. Babinski-Test) waren unauffällig.

Nach Voranmeldung erfolgte daraufhin der Transport unter Sonder- und Wegerechten in den Maximalversorger (30 Minuten), in dem sie ohnehin in onkologischer Behandlung ist.

Die Sprachstörung war im Verlauf rückläufig und die weitere Anamnese konnte ich auch noch während der Fahrt durchführen.

Was kam dabei heraus?

Die Patientin hatte – wie man vermuten konnte – Hirnmetastasen. Zudem wurde im notfallmäßig durchgeführten CT auch eine intrazerebrale Blutung festgestellt. Läuse und Flöhe. Prognostisch ist das in Anbetracht der schwerwiegenden Grunderkrankung mehr als nur ungünstig – leider weiß ich nicht, wie es der Patientin weiter ergangen ist.

Zweiter Einsatz

Etwas unklarer von der Meldung her sollte sich der zweite Einsatz darstellen.

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: Neurologie, sonstiges – kein Abfrageergebnis möglich. Info: Patient in Garage.

Alarmierte Fahrzeuge: RTW, mit Sonder-/Wegerechten.


Scene – Safety – Situation

Scene: Enge Garage in einer Nebenstraße in einem weiter entfernten Dorf.

Safety: keine offensichtlichen Gefahren.

Situation: Nachbarn weisen uns dem Weg zu dem Patientin, der in einem Fahrzeug in der Garage sitzt und nicht aussteigen könne.


Ersteinschätzung

Potentiell kritisch.

Mein Kollege führt diesen Einsatz und geht zum im Fahrzeug sitzenden Patienten. Dieser berichtet von einer akut aufgetretenen Lähmung des rechten Armes und des rechten Beines; er könne nicht aussteigen.

Auf die Frage, ob die Symptomatik erst beim Einfahren in die Garage aufgetreten ist, verneint der Patient dies. Er war in einem etwa 10 Kilometer entfernten Nachbarort einkaufen und wollte dort gerade losfahren, als die Symptome aufgetreten sind. Mein Kollege und ich schauen uns an: „Ist dieser Mann wirklich mit einer kompletten Hemiplegie Auto gefahren?„.

Nach kurzer Verwunderung beschließen wir, den Patienten erstmal aus dem Fahrzeug zu verbringen, da ein Primary Survey aufgrund der sehr engen Platzverhältnisse dort nicht möglich war.

Ich bereitete die Trage vor und wir verbrachten – mangels besserer Möglichkeiten – den nicht ganz leichten Patienten mittels Rautek-Rettungsgriff aus dem Fahrzeug auf unsere Trage. Im RTW erfolgte daraufhin das Primary Survey.

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute rosig, keine Zyanose.

B – Breathing

Atemfrequenz 25/min, SpO2 98%, Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits vesikuläres Atemgeräusch, keine Halsvenenstauung.

C – Circulation

Haut rosig, trocken und warm; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse beidseits gut tastbar und normofrequent; Abdomen weich, keine Abwehrspannung, nicht druckdolent; keine Schmerzangabe im Becken, Oberschenkel stabil, RR 180/80 mmHg, das im Verlauf angelegte EKG zeigt eine absolute Arrhythmie bei bekannten Vorhofflimmern mit HF ~ 90/min.

D – Disability

GCS 15, Pupillen mittelgroß, isokor, prompte Lichtreaktion; Kopfschmerzen seit etwa einer halben Stunde; Schwindel, Übelkeit, Erbrechen werden verneint. Im FAST fällt eine leichte Fazialisparese rechts sowie eine massive Hemiplegie mit Sensibilitätsverlust in den oberen und unteren Extremitäten rechts auf. BZ 117 mg/dl.

E – Exposure/Environment

Bodycheck unauffällig, keine Verletzungen erkennbar, traumatische Ereignisse werden durch den Patienten verneint, Temperatur 37,1°C.

Wir beschlossen ebenfalls, nach „Load & Go“ vorzugehen und den Patienten schnellstmöglich auf die nächste Stroke Unit zu verbringen. Mein Kollege legte einen venösen Zugang (17 G), hing eine Vollelektrolytlösung zum Offenhalten an und meldete in der nächsten Neurologie (Fahrzeit 15 Minuten) an.

Die weitere Anamnese führte er während der Fahrt durch.

Nach der Übergabe an den diensthabenden Neurologen und dem Abwarten des CTs stand fest: Wir sind hier falsch.

Der Patient nahm Warfarin ein, was für den Neurologen eine (relative) Kontraindikation für eine Lysetherapie bedeutete. Aber: für eine Thrombektomie – sprich: die Entfernung des Blutgerinnsels mit einem Katheter – käme er in Betracht. Das war in der angesteuerten Klinik allerdings nicht möglich.

Was ist danach passiert?

Der Patient wurde mittels RTH in den nächsten Maximalversorger mit Möglichkeit zur Thrombektomie verlegt – und hat diese erhalten.

Mittlerweile befindet er sich in Rehabilitation und ist auf dem Wege der Besserung.

Background-Info

Lysetherapie (auch Fibrinolyse, Thrombolyse), ugs. „Lyse“

Medikamentöse Auflösung eines Blutgerinnsels (Thrombus) mit Medikamenten, welche die Blutgerinnung sehr stark hemmen (Fibrinolytika).

„Load and Go“

Rettungskonzept, bei dem der schnellstmögliche Transport ins Krankenhaus Vorrang vor umfangreichen medizinischen Maßnahmen an der Einsatzstelle hat (Load and Go <> Stay and Play)

Broca-Aphasie

Sprachstörung infolge einer Schädigung des Broca-Sprachzentrums im Gehirn, Unfähigkeit zu sprechen bei meist voll erhaltenem Sprachverständnis.

Babinski-Test (auch: Babinski-Zeichen, Babinski-Reflex)

Pathologischer Fremdreflex, der auf eine Schädigung der Pyramidenbahn im Gehirn hindeutet.

Hemiplegie

Vollständige Lähmung einer Körperseite, Steigerung der „Halbseitenschwäche“ (Hemiparese).

Fazit

Was fand ich gut?

  • Die Abwechslung – auch wenn die Einsätze „auf den ersten Blick“ sehr ähnlich wirkten, waren sie doch reichlich verschieden und brachten Überraschungen mit
  • Die zügige Arbeit, das Vermeiden unnötiger Verzögerungen und der Fokus auf den schnellen Transport
  • Prioritätensetzung – Notwendiges wurde gemacht, weniger wichtiges sinnvoll nach hinten verschoben

Was fand ich nicht gut?

  • Anamnese – das Erfragen einer möglichen Antikoagulation hätte frühzeitig erfolgen müssen, auch aus dem SAMPLER(S) losgelöst
  • Transport in eine Klinik ohne Thrombektomie-Möglichkeit – Hand auf’s Herz: den mehr als doppelt so langen Transportweg hätte ich auch nicht „einfach so“ in Kauf genommen, der Entscheidende Punkt war die Antikoagulation des Patienten. Und die wurde zu spät bekannt.

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Über SaniOnTheRoad

Neurologischer Dienstag

SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im klinischen Abschnitt des Studiums. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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