Schau noch mal genauer hin!

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Quelle: eigenes Werk. Original-EKG aus dem Einsatz.

Auch wenn ich liebend gerne die Wichtigkeit eines strukturierten Arbeitens am Patienten hervorhebe, erlebe ich selbst immer wieder Einsätze, bei denen der Zufall einem doch auf die Sprünge hilft.

So geschehen in einem Einsatz der letzten Wochen – die Einsatzmeldung war etwas anderes als die Verdachtsdiagnose im Primary Survey, und die Verdachtsdiagnose aus dem Primary Survey war nicht die Hauptdiagnose bei der Übergabe im Krankenhaus.

Einsatz bis zum Primary Survey

Es war ein schöner, sonniger und ruhiger Morgen. Ich hatte RTW-Tagdienst, ein RS-Praktikant war heute noch mit von der Partie. Und so wurde der Morgen neben dem obligatorischen Frühstück damit verbracht, noch fehlende Themen aus dem Testatheft abzuarbeiten.

Am späteren Vormittag ging dann zum ersten Mal der Melder.

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: Synkope

Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, mit Sonder-/Wegerechte.

Es ging in ein Dorf, welches normalerweise von einer unserer Außenwachen abgedeckt wird – dementsprechend ist unsere Anfahrt mit 20 Minuten planerischer Fahrzeit ohnehin lang, und wird durch Baustellen auf dem Weg sogar noch länger.

Scene – Safety – Situation

Scene: Später Vormittag, sonnig, warm und trocken, älterer Hof auf einen Dorf.

Safety: keine augenscheinlichen Gefahren.

Situation: Nachbar weist RTW ein, Patient sitzt auf einem Gartenstuhl vor der Wohnungstür, augenscheinlich wach.

Der Nachbar empfängt uns und schildert kurz die Lage. Der 80-jährige Patient habe beim Einkaufen einen Schwächeanfall gehabt, er habe ihn nach Hause begleitet und dort – aufgrund ausbleibender Besserung – den Rettungsdienst alarmiert. Eine Synkope wurde verneint.

Der Patient begrüßt uns und macht einen altersentsprechenden Eindruck.

Ersteinschätzung

Nicht kritisch.

Nach der kurzen Vorstellung gehen wir ins Primary Survey. Es ergaben sich dabei folgende Befunde:

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht und rosig, keine Zyanose.

B – Breathing

Atemfrequenz 14/min, SpO2 95 %, Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits vesikuläres Atemgeräusch, keine Halsvenenstauung.

C – Circulation

Haut rosig, warm, trocken; Rekapillarisierungszeit ca. 3 Sekunden, periphere Pulse gut tastbar, rhythmisch; Abdomen weich, keine Abwehrspannung; Oberschenkel stabil, RR 140/80 mmHg, Monitoring-EKG zeigt Sinusrhythmus mit 95/min.

D – Disability

GCS 15, Pupillen isokor, mittelgroß, prompte Lichtreaktion; FAST unauffällig, pDMS unauffällig, BZ 300 mg/dl.

E – Exposure/Environment

Stehende Hautfalten, keine Verletzungen, keine Unterschenkelödeme, keine Schmerzen in den Beinen, sonst unauffälliger Bodycheck, Temperatur 36,8°C.

Nach dem xABCDE versuche ich die Situation etwas genauer zu eruieren.

SAMPLER(S)

S – Symptome

Schwächegefühl während dem Einkaufen, „schwere Beine“; Synkope oder „Schwarz werden vor Augen“ werden verneint.

A – Allergien

Keine.

M – Medikamente

Rivaroxaban.

P – Vorerkrankungen

Thrombose im rechten Unterschenkel vor einem Jahr. Diabetes mellitus wird verneint.

L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang

Heute morgen eine Cola beim Einkaufen. Trinkmenge anamnestisch < 1 Liter/Tag.

E – Ereignis

Plötzliches Schwächegefühl beim Einkaufen.

R – Risikofaktoren

Alter, Vorerkrankungen, Adipositas.

S – Schwangerschaft

Ausgeschlossen.

Nun, eure Verdachtsdiagnose ist? …

Bei mir (bzw. uns) war es bei einem ABC-unauffälligen 80-jährigen mit den obigen Befunden genau das, was man erwarten würde: Exsikkose, Hyperglykämie, V.a. Erstmanifestation eines Diabetes mellitus Typ 2.

Geringe Trinkmenge in den letzten Tagen bei hohen Temperaturen, ein entgleister Blutzuckerspiegel, der sich nicht durch das Trinken einer Cola erklären lässt, ein Schwächegefühl? Passt? Passt.

Entsprechend der Plan: i.v.-Zugang, Transport in den nächsten Grundversorger mit Innerer Medizin, 20 Minuten.

Aber es kommt immer anders als man denkt…

Primary Survey bis Übergabe

Nach kurzem Hin und Her war der Patient mit dem Plan einverstanden. Da er alleinstehend ist und ihm niemand Sachen vorbeibringen kann, bat er uns, beim schnellen Packen zu helfen.

Freundlich wie wir nun mal sind, haben wir auch genau das getan – mein Kollege und ich halfen beim Packen, unser Praktikant bereitete derweil im RTW alles vor.

Bis der Patient die Treppe ins Obergeschoss ging, um noch die letzten Sachen aus dem Schlafzimmer zu holen. Urplötzlich dyspnoeisch, urplötzlich Angina pectoris. Planänderung.

Die restlichen Sachen schnappten wir uns noch, holten den Tragestuhl, und verbrachten den Patienten in den RTW.

Es erfolgte erst einmal eine Reevaluation – wir forderten uns zudem das NEF nach und planten ein Rendezvous auf dem Weg zum nächsten Maximalversorger.

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht und rosig, Lippenzyanose.

B – Breathing

Atemfrequenz 20/min, SpO2 89 %, Dyspnoe, im Verlauf rückläufig; Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits vesikuläres Atemgeräusch, keine Halsvenenstauung.

C – Circulation

Haut kühl, trocken; Angina pectoris, im Verlauf rückläufig, Rekapillarisierungszeit ca. 3 Sekunden, periphere Pulse gut tastbar, rhythmisch; Abdomen weich, keine Abwehrspannung; Oberschenkel stabil, RR 170/80 mmHg, EKG s.u.

D – Disability

GCS 15, Pupillen isokor, mittelgroß, prompte Lichtreaktion; FAST unauffällig, pDMS unauffällig.

E – Exposure/Environment

Stehende Hautfalten, keine Verletzungen, keine Unterschenkelödeme, keine Schmerzen in den Beinen, sonst unauffälliger Bodycheck, Temperatur 36,8°C.

Der Patient erhielt zunächst Sauerstoff über eine Nasenbrille (3 l/min), ihm wurde ein i.v.-Zugang gelegt und eine langsam tropfende Vollelektrolytlösung angehängt. Nun wurde auch ein 12-Kanal-EKG geschrieben…

QRS-Komplexe vorhanden, 95/min, P-Wellen vor jedem QRS-Komplex, nach jeder P-Welle folgt ein QRS-Komplex; hmm, die QRS-Komplexe wirken doch eher breit…ist das eine Senkung in I und eine Hebung in III?
Da ist doch eine Hebung in aVR und eine Senkung in aVL? Und was ist da mit aVF?
Eine rsR‘-Konfiguration in V1, eine RSR‘-Konfiguration in V2 und V3…das ist doch ein Rechtsschenkelblock! Komisch, den kennt der Patient gar nicht…
Senkt der Patient etwa in V4 – V6?

Der Lagetyp sieht auch komisch aus. Überdrehter Linkstyp. Vielleicht steckt da noch ein linksanteriorer Hemiblock mit drin? Von einem bifaszikulären Block hat der Patient jedenfalls nie etwas gehört. Also: wohl neu aufgetreten.

Fakt ist: unser Patient hat eine entsprechende AP-Symptomatik und EKG-Veränderungen, die deutlich auf eine Myokardischämie hinweisen.

Trichter auf: Wir überlegten nochmal – neben der Hyperglykämie und der Exsikkose, könnte es auch eine Lungenarterienembolie sein? Haben wir Anhaltspunkte dafür? Der Patient gibt zähneknirschend zu, dass er sein Xarelto bereits seit zwei Wochen nicht mehr genommen hat. Die gute Sättigung (97 %) und die sich rasch bessernde Dyspnoe sprechen dagegen. Für eine akute Thrombose haben wir auch keinen relevanten Hinweis.

Neue Verdachtsdiagnose: Akutes Koronarsyndrom, in dieser Kombination ein STEMI. Und diesen hätten wir beinahe übersehen.

ASS und Heparin werden vorbereitet und nach der Bestätigung unserer Verdachtsdiagnose durch die Notärztin gegeben. Die Reise ging weiter Richtung Herzkatheterlabor.

Fazit

Was fand ich gut?

  • strukturierte Reevaluation der Situation – Fixierungsfehler aufgrund der Einsatzmeldung und dem Befund im Primary Survey wurden vermieden
  • „Trichtern“ bei einer nicht 100%ig eindeutigen internistischen Differentialdiagnostik
  • zügige Reaktion auf die Zustandsveränderung,
  • unsere Hilfsbereitschaft – hätte sich der Patient alleine auf den Weg gemacht, wäre die u.U. Symptomatik nicht bemerkt worden. Folge: der Patient wäre in ein vollkommen ungeeignetes Krankenhaus gekommen.

Was fand ich nicht gut?

  • das 12-Kanal-EKG hätte durchaus früher kommen können
  • die Lungenarterienembolie hätte bei bekannter Thrombose früher als Differentialdiagnose betrachtet werden müssen
  • die regelmäßige Einnahme der Medikamente hätte gezielt erfragt werden müssen

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Über SaniOnTheRoad

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SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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