„Ändern Sie die Einsatzmeldung, bitte!“

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Die Einsatzmeldungen der Leitstelle sind oft ein großes Überraschungspaket – man weiß nie, was man bekommt. Manchmal sind sie goldrichtig, manchmal haben sie nicht mal im entferntesten etwas mit dem tatsächlich vorliegenden Problem zu tun.

So auch bei einem Einsatz der letzten Wochen…

Aus Trauma mach etwas … ganz anderes

Es war ein recht ruhiger Tag bis dato auf einer Außenwache, erst gegen Mittag kam der Einsatz.

Gestürzte Person, Beinfraktur“ war die Einsatzmeldung. Anfahrtszeit gute 15 Minuten, RTW solo – ohne Eile. Die Zusatzinfo von der Leitstelle war, dass der Patient wohl aus knapp 2 Metern Höhe gestürzt wäre.

Nun gut – wir stellten uns also durchaus mal auf ein schwereres Trauma ein. Schon die Auffindesituation gestaltete sich allerdings anders als erwartet.

Scene – Safety – Situation

Scene: besser situierte Wohngegend mit Einfamilienhäusern in einem Dorf, Mittagszeit, sonnig, aber kühl.

Safety: keine offensichtlichen Gefahren.

Situation: die Nachbarin, welche angerufen hat, öffnet uns die Tür und berichtet vom Sturz des Nachbarn, Ende 20, der nun rauchend und Cola trinkend am Esstisch der Anruferin sitzt.

Ersteinschätzung daher: eher nicht kritisch.

Nach der Vorstellung und einer kurzen Befragung berichtet der Patient in etwa das, was auch die Einsatzmeldung hergab: er sei beim Versuch, die Regenrinne zu reparieren, gestürzt und auf dem Grundstück der Nachbarin gelandet, reine Fallhöhe unter 2 Meter Höhe. Nun habe er Schmerzen im Sprunggelenk.

Mein Kollege und ich stiegen nun ins Primary Survey ein.

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute rosig, keine Zyanose. Eine HWS-Immobilisation war zu dem Zeitpunkt nach den NEXUS-Kriterien nicht indiziert.

B – Breathing

Atemfrequenz 18/min, SpO2 100 %, Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits vesikuläres Atemgeräusch, keine Halsvenenstauung.

C – Circulation

Haut rosig, trocken und warm; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse beidseits gut tastbar und tachykard; Abdomen weich, keine Abwehrspannung, nicht druckdolent; keine Schmerzangabe im Becken, Oberschenkel stabil, RR 130/90 mmHg, EKG zeigt Sinustachykardie mit HF > 150/min.

D – Disability

GCS 14, Pupillen weit, isokor, prompte Lichtreaktion; der Patient zeigt sich motorisch unruhig und reagiert verlangsamt; Desorientiertheit zur Person. Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit und Bewusstlosigkeit werden eigenanamnestisch verneint. pDMS unauffällig.

E – Exposure/Environment

Keine Kopfverletzungen erkennbar, Wirbelsäule nicht klopfschmerzhaft, keine Prellmarken erkennbar; Schwellung und Schmerzen des Sprunggelenks rechts, keine Bewegungseinschränkung.

Nach den sehr untypischen und doch auffälligen Befunden berate ich mich mit meinem Kollegen.

Für uns steht fest: der Patient hat auf jeden Fall noch ein weiteres Problem, zusätzlich zum Sprunggelenk. Die Symptomatik sprach für ein anticholinerges Toxidrom, zusammen mit dem teils recht seltsamen Verhalten schlossen wir primär auf eine Drogenintoxikation. Unsere Wahl fiel daher auf ein Haus, welches neben einer chirurgischen Fachabteilung auch eine Abteilung für Innere Medizin hat.

Mein Kollege klärte den Klinikplatz ab, ich erläuterte den Patienten das weitere Vorgehen und versuchte ihn zu beruhigen. Alleine wollte er nicht mitfahren, die Nachbarin konnte nicht begleiten. Auf den Vorschlag der Nachbarin, seinen Vater dazuzuholen, reagierte der Patient barsch bis ungehalten und behauptete, dieser sei nicht zu Hause.

Über die Reaktion doch erstaunt führte ich die Anamnese fort, während die Nachbarin doch ihr Glück versuchen wollte.

Nach wenigen Minuten traten Vater und Bruder des Patienten ein – dieser reagierte erstaunlich ruhig und ich begann, die Fremdanamnese bei den Angehörigen fortzufahren. Sie fanden das Verhalten des Patienten ebenfalls merkwürdig; Drogenkonsum wurde allerdings verneint.

Wir beschlossen den Patienten in den RTW zu verbringen, um den Transport anzutreten. Er hatte Schmerzen beim Laufen verneint, und er wollte selbst ans Fahrzeug laufen. Soweit, so gut.

Als er sich allerdings auf die Trage legen sollte, eskalierte die Situation. Er wehrte sich heftig gegen Vater und Bruder, die ihn festhalten wollten und trat problemlos rennend – und ohne nach rechts oder links zu schauen – die Flucht aus dem RTW an. Spätestens jetzt war die Sprunggelenksfraktur de facto ausgeschlossen.

Etwas verwundert beschließen wir, doch den „Schnelldoktor“ und die Polizei dazuzurufen, während ich mich an das Schreiben des Protokolls mache. Der Notarzt traf einige Zeit später ein, gefolgt von der Polizei.

Nach kurzer Übergabe und Lagebesprechung stand fest: der Patient muss mit – eine Eigengefährdung war anzunehmen. Ein weiterer Nachbar kam hinzu und berichtete, dass der Patient nun in seinem Wohnzimmer saß und Wahnvorstellungen äußerte.

Die Polizei sprach als erstes mit dem Patienten und bestätigte die paranoiden bis wirren Gedanken, der Notarzt kam in seiner Anamnese zu der Verdachtsdiagnose einer akuten Psychose, wohl ohne Drogeneinfluss. Also wurde der Transport in die Psychiatrie vorbereitet.

Zu unserem Erstaunen verlief alles problemlos – unter Polizeibegleitung war der Patient situationsentsprechend kooperativ und vollkommen ohne Zwang bereit, sich einweisen zu lassen. Die im Rahmen eines erneuten xABCDE erhobenen Vitalparameter waren unauffällig.

Background-Info

Primary Survey

Strukturierter, erster Untersuchungsgang zur Einschätzung eines Patienten („kritisch“ oder „nicht kritisch“).

SSS-Schema

Schema zur Erstbeurteilung einer Einsatzstelle. Siehe auch hier.

xABCDE

Schema zur strukturierten Untersuchung und schnellen Erstbehandlung eines Patienten. Siehe auch hier.

Akute Psychose

Akut auftretender, psychiatrischer Symptomkomplex, der sich u.a. durch Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Realitätsverlust und ggf. affektiven Störungen äußert.

Fazit

Was fand ich gut?

  • Die Entscheidungsfindung – gerade, weil das Problem des Patienten ein gänzlich anderes war, als das gemeldete. Auf die entsprechenden Situationsänderung wurde schnell und korrekt reagiert.
  • Die organisationsübergreifende Zusammenarbeit
  • die Kommunikation mit der Leitstelle und die prompte Weitergabe von Informationen an die nachrückenden Kräfte
  • „Deeskalation vor Eskalation“ – die Beruhigung und der „normale“, situationsgerechte Umgang mit dem psychisch Auffälligen ist grundsätzlich sinnvoll, auch wenn das Ergebnis nicht gestimmt hatte

Was fand ich nicht gut?

  • Eigenschutz – spätestens bei den auffälligen Reaktionen und Befunden im Primary Survey hätte dieser mehr im Fokus stehen müssen
  • Anamnese – die Fremdanamnese gestaltete sich grundsätzlich schwierig (mangels Informationen der Angehörigen), die Eigenanamnese war aufgrund widersprüchlicher Angaben oft nicht belastbar

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Über SaniOnTheRoad

„Ändern Sie die Einsatzmeldung, bitte!“

SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.


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