Häuslicher Unfall

paramedics helping a man on the ground

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Die Sache mit den häuslichen Unfällen

Häusliche Unfälle sind wahrscheinlich absolut unterschätze Ereignisse – sowohl was die Häufigkeit, als auch die Schwere angeht. Die meisten Unfälle passieren im Haushalt, auch die meisten tödlichen Unfälle. Das steht erstmal in einem deutlichen Widerspruch zu der allgemeinen Erwartungshaltung – auch gegenüber der rettungsdienstlichen Arbeit.

Wer einige Zeit in der Notfallrettung verbracht hat, wird es schon aus eigener Erfahrung bestätigen können: bei einem Unfall denkt man irgendwann mehr an die Schnittverletzung, die Oberschenkelhalsfraktur oder die Kopfplatzwunde nach dem Stolpersturz über den Teppich als an irgendwelche dramatischen Verkehrsunfälle.

Häusliche Unfälle haben nicht nur eine enorme Häufigkeit, sondern auch eine sehr große Bandbreite, was Unfallmechanismen und Verletzungsschwere angeht.

Eine der exotischeren Varianten eines häuslichen Unfalls war der folgende Einsatz.

Die exotische Variante

Ein erster Einsatz des RTW-Tagdienstes hatte das Frühstück schon nach hinten verschoben, und nach zwei Bissen ging es auch prompt weiter:

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: Handverletzung schwer, Info: Finger steckt in Mixer.

Alarmierte Fahrzeuge: RTW + NEF, mit Sonder-/Wegerechten.

Die Anfahrt ist kurz: sie geht in den Innenstadtbereich unseres Wachenstandorts. Vielleicht drei Minuten Anfahrt, maximal. Viel Zeit zur Planung und Vorbereitung bleibt also nicht.

Scene – Safety – Situation

Scene: Winter, morgen, 10:00 kühl, trocken, Mehrfamilienhaus in Kleinstadt, 1. OG, enge Wendeltreppe.

Safety: Keine augenscheinlichen Gefahren.

Situation: Der Lebensgefährte der Patientin (Mitte 30) nimmt uns in Empfang und führt uns zu ihr in die Küche. Die Patientin liegt auf dem Boden, wach, ansprechbar, mit dem linken Zeigefinger in einem Stabmixer.

Wir entscheiden uns für ein

Ersteinschätzung

Potentiell kritisch.

und starten bei mehr oder minder zeitgleichen Eintreffen des Notarztes und einer groben Säuberung des Fingers zwecks besserem Überblick ins Primary Survey.

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose. Kein Zungenbiss.

B – Breathing

Atemfrequenz 18/min, keine obere Einflussstauung, Thorax stabil, Atemexkursionen regelrecht, Pulmo bds. vesikuläres AG, SpO2 99 %. Kein pathologisches Atemmuster.

C – Circulation

Haut rosig, warm, trocken, keine stehenden Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse gut tastbar, HF 110/min; Abdomen weich, nicht druckdolent. Becken und Oberschenkel ohne erkennbare Verletzung und stabil. RR 170/980 mmHg. EKG: Sinustachykardie, ohne Ischämiezeichen

D – Disability

GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen isokor, mittelgroß, prompte LR. quick-FAST unauffällig, pDMS allzeit intakt. BZ 118 mg/dl.

E – Exposure/Environment

Feststeckender linker Zeigefinger im Messer des Stabmixers, keine akute Blutung, NRS 5 in Ruhe, NRS 10 bei Manipulation. Schädel stabil, Wirbelsäule nicht druck-/klopfschmerzhaft, kein Sturzereignis. Temp. 36,5°C.

Die Entscheidung fällt hier auf ein

Einschätzung

Kritisch.

Und dann tritt unser Notarzt zu Tage. Und die relativ entspannte Arbeitsatmosphäre wandelt sich in Sekundenschnelle. Es fliegen in gewohnter Manier maschinengewehrartige Anweisungen – Monitoring, Zugang, Infusion, Analgesie, einer hält Hand und Mixer, alles sofort dokumentieren.

Und das mit den üblichen Platzverhältnissen eines rettungsdienstlichen Einsatzes: nämlich kein Platz. Das alles geschah zwischen Tisch und Küchenzeile mit unserem Notarzt mittendrin. Nicht wirklich problematisch, aber nervig.

Fast schon beiläufig wurde die Anamnese erhoben:

SAMPLER(S)

S – Symptome

Festeckender Finger in Stabmixer, mäßig starke bis starke Schmerzen, pDMS intakt.

A – Allergien

Keine.

M – Medikamente

Bupropion.

P – Vorerkrankungen

Depression, Borderline-Persönlichkeitsstörung.

L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang

Nahrungsaufnahme Frühstück am morgen, ca. 8:00; eine Stunde vor Ereignis Cannabis konsumiert. Stuhlgang und Miktion unauffällig.

E – Ereignis

Zubereitung einer Geburtstagstorte, beim Reinigen des (kabellosen) Stabmixers mit dem Finger auf Einschalter gekommen.

R – Risikofaktoren

Polytoxikomanie (Cannabis, Kokain).

S – Schwangerschaft

Ausgeschlossen.

Weiter ging es dann mit der Analgesie – unser Notarzt hatte sich für Sufentanil entschieden – und den Versuch, die Klinge des Stabmixers aus dem Finger zu entfernen…die kläglich gescheitert ist. Das weitere Vorgehen war wesentlich sinnvoller mit der Entscheidung für den Transport.

Auf die Frage

„Können wir mit dem Tragestuhl runter?“

blieb uns in angesicht des Treppenhauses mit einer der engsten Wendeltreppen, die ich kennen lernen durfte, nur ein großzügiges Kopfschütteln.

Dementsprechend musste unsere Patientin trotz großzügiger Analgesie mit dem von meinem Kollegen gehaltenen Stabmixer an der linken Hand selbstständig in den RTW laufen, was sogar erstaunlich problemlos geklappt hat.

Wärmeerhalt, Abfahrt mit Lichterglanz und Glockenschall in die ZNA des nächsten Maximalversorgers.

Umgang mit penetrierenden Traumata

Es gilt hier grundsätzlich die Regel

„Was im Patienten steckt, wird stecken gelassen“

Insofern war der Versuch der präklinischen Entfernung des steckenden Fremdkörpers hier keine gute Wahl. Es besteht hier nicht nur das Risiko einer Blutung (wenn eine mögliche Blutungsquelle durch den Fremdkörper tamponiert wird), sondern auch die Gefahr einer zusätzlichen Schädigung von Sehnen, Gefäßen und Nerven.

An feststeckenden Fremdkörpern „herumzuspielen“ ist ein No-Go. Die Entscheidung unseres Notarztes hierfür ist auch retrospektiv nicht nachvollziehbar.

Fazit

Was fand ich gut?

  • zügige Abarbeitung des Einsatzes
  • Wahl der Zielklinik – Maximalversorger mit Handchirurgie im Hintergrund

Was fand ich nicht gut?

  • Einsatztaktische Entscheidungen – das beginnt mit der unnötigen Bindung des Kollegen zum Festhalten des Mixers (hatte die Patientin im Verlauf freiwillig von sich aus übernommen), fehlende Betrachtung der örtlichen Umstände (enges Treppenhaus mit Wendeltreppe) und endet mit der Entscheidung zur Analgesie noch in der Wohnung
  • Versuch der Fremdkörperentfernung
  • Übergang des zügigen Arbeitens zur Hektik
  • keine Abpolsterung des Fremdkörpers

Was ist mir wichtig? – Take-home-Message

Selbst wenn man den medizinischen Aspekt der Therapie eines penetrierenden Traumas außer Acht lässt: wirklich zufrieden war ich mit diesem Einsatz nicht. Und da wiegen die einsatztaktischen Entscheidungen fast noch schwerer.

Dieser Einsatz hat aus meiner Sicht sehr eindrücklich eine Sache gezeigt: Rettungsdienst ist gleichermaßen Medizin und Einsatztaktik. Und gerade an den einsatztaktischen Entscheidungen hat es hier gehapert. Es wurde zwar geführt, aber leider nicht besonders sinnvoll.

Wäre mein Kollege nicht durch das streng genommen unnötige „Festhalten des Mixers“ gebunden worden, hätte man die ganze Zeit über zwei Hände mehr zur Verfügung gehabt. Man hätte eine Zeitersparnis gehabt, wäre der Versuch der Fremdkörperentfernung unterblieben. Man hätte das potentielle Problem der Treppe umgehen können, wäre die Analgesie erst im RTW erfolgt…

Die Take-home-Message dieses etwas exotischeren Einsatzes ist relativ simpel: einsatztaktische Aspekte sind bei der Entscheidung mindestens genauso wichtig wie die medizinische Therapie und sie müssen zwingend bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden – die bestmögliche medizinische Versorgung ist nutzlos, wenn sie dafür sorgt, dass man den Einsatz kaum noch abarbeiten kann.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass es sich bei den verlinkten Büchern um Affiliate-Links handelt. Es entstehen keine zusätzlichen Kosten bei der Bestellung über den Link. Eine Einflussnahme bei der Auswahl der Literatur ist dadurch nicht erfolgt. Siehe auch: Hinweise zu Affiliate-Links.

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/458DGcB Affiliate-Link

Deutscher Berufsverband Rettungsdienst e.V. (2024): Musteralgorithmen 2024 zur Umsetzung des Pyramidenprozesses im Rahmen des NotSanG, Version 9.1, abgerufen unter https://www.dbrd.de/images/algorithmen/DBRDAlgo24_Web_3.pdf am 20.03.2024

Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (2022): S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung, AMWF-Registernummer 187-023, abgerufen unter https://register.awmf.org/assets/guidelines/187-023l_S3_Polytrauma-Schwerverletzten-Behandlung_2023-02.pdf am 20.03.2024

Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3q8w62I Affiliate-Link

NAEMT (2020): Prehospital Trauma Life Support – Kurshandbuch Deutsche Ausgabe, 9. Edition. Jones and Bartlett Publishers, Inc. ISBN 978-1-284-19862-1. Hier erhältlich: https://amzn.to/3fDcfTN Affiliate-Link

NAEMT (2018): Prehospital Trauma Life Support, 9. Edition. Jones and Bartlett Publishers, Inc. ISBN 978-1-284-17147-1. Hier erhältlich: https://amzn.to/3UZ6C2g Affiliate-Link

Scholz J., Gräsner J.-T., Bohn A. (2019): Referenz Notfallmedizin. Georg Thieme Verlag KG. ISBN 978-3-13-241290-3. DOI: 10.1055/b-006-149615. Hier erhältlich: https://amzn.to/3uhENtA Affiliate-Link

Saß A., Kuhnert R., Rommel A. (2017): Unfallverletzungen bei Erwachsenen in Deutschland, Journal of Health Monitoring · 2017 2(3), abgerufen unter https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/FactSheets/JoHM_03_2017_Unfallverletzungen.pdf?__blob=publicationFile am 20.03.2024. DOI OI 10.17886/RKI-GBE-2017-060

Statistisches Bundesamt (2023): Anzahl der Gestorbenen nach Unfallkategorien 2022, abgerufen unter https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/Tabellen/sterbefaelle-unfaelle.html am 20.03.2024

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Über SaniOnTheRoad

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SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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