„Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 23: Massenanfall von Verletzten (MANV)

„Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ bietet eine Übersicht über Aufbau, Struktur und Gepflogenheiten des Rettungsdienstes in Deutschland. Hier geht es um das, was Interessenten und Neueinsteiger wissen sollten.

Zu „Teil 22 – Freiwilligendienste im Rettungsdienst“ geht es hier.

Teil 23 – Massenanfall von Verletzten (MANV)

Darstellung eines Bereitstellungsraumes. Quelle: Wikimedia Commons, GNU Free Documentation License.

Es ist ein Szenario, von dem in rettungsdienstlichen Ausbildungen mehr oder minder oft – nicht selten mit Schauergeschichten gespickt – erzählt wird und das insgesamt viel zu selten trainiert wird.

Der Massenanfall von Verletzten – kurz „MANV“, auch allgemeiner Großschadenslage genannt, wird dem Rettungsdienstler früh als chaotisches „Horrorszenario“ vermittelt – im Bereich des Ehrenamtes und des Katastrophenschutzes ist es oft eine Übungsgrundlage.

Als Beispiele werden hier unter anderem das Flugtagunglück von Ramstein, das ICE-Unglück von Eschede oder das Unglück bei der Loveparade genannt – die „Hürden“ für einen MANV liegen aber deutlich geringer.

Was ist ein MANV?

Ein Massenanfall von Verletzten hat im allgemeinen mehrere, „klassische“ Kennzeichen. In der Regel akut aufgetretenes Einzelereignis und wird dadurch von flächigen Spitzenbelastungen wie an Silvester oder von Pandemielagen abgegrenzt.

Die Anzahl an verletzen, behandlungs- oder betreuungsbedürftigen Personen übersteigt die verfügbaren personellen und materiellen Ressourcen der Regelvorhaltung. Folglich werden rettungsdienstliche Einheiten auch im Rahmen der überörtlichen Hilfeleistung sowie Katastrophenschutzeinheiten eingesetzt.

Die sofort bzw. kurzfristig verfügbaren Ressourcen müssen nach medizinischer Dringlichkeit eingesetzt werden – es erfolgt eine Sichtung bzw. eine Vorsichtung der Patienten.

Die Vielzahl an zu versorgenden Personen einerseits, die Vielzahl an Einsatzkräften andererseits erfordert eine sinnvolle Koordination der Hilfeleistungsmaßnahmen – ergo wird eine Einsatzleitung (der Feuerwehr) sowie eine Abschnittsleitung des medizinischen Bereichs eingesetzt; entsprechende Führungskräfte wie Leitende Notärzte oder Organisatorische Leiter Rettungsdienst treten zutage.

Die übliche individualmedizinische Versorgung der einzelnen Patienten wird durch eine katastrophenmedizinische Versorgung ersetzt – die lebensrettende Versorgung möglichst Vieler hat primär Vorrang vor der bestmöglichen Versorgung des Einzelnen.

Definition aus obiger Beschreibung

Ein Massenanfall von Verletzten ist ein akut aufgetretenes Ereignis, welches eine Vielzahl an zu versorgenden Personen zur Folge hat, wobei die Kapazitäten des Regelrettungsdienstes überschritten werden und katastrophenmedizinische Führungs- und Behandlungsstrategien zu tragen kommen.

Definition nach DIN 13050

Ein Massenanfall von Verletzten ist Notfall mit einer großen Anzahl von Verletzten oder Erkrankten sowie anderen Geschädigten oder Betroffenen.

Was fällt auf?

Die Frage, ob ein MANV vorliegt, hängt maßgeblich von der Regelvorhaltung – sprich: der Anzahl der regulären Rettungsmittel des Regelrettungsdienstes – ab.

Dementsprechend sind Alarmstufen und Alarm- und Ausrückeordnungen in der Regel auch so konzipiert, dass entsprechende Führungskräfte (LNA, OrgL) u.a. abhängig von der Anzahl der notwendigen Rettungsmittel für den Einsatz alarmiert werden.

Die Alarmstufen ergeben sich beispielsweise wiederum aus der Anzahl der Patienten in Abhängigkeit der verfügbaren Rettungsmittel des Kreises oder der kreisfreien Stadt.

Oder anders: die Großstadt mit 25 rund um die Uhr verfügbaren RTWs kann einen Verkehrsunfall mit fünf Personen in der Regel ohne große Probleme abarbeiten – der Landkreis, der nur drei RTWs hat, hingegen nicht.

Bedeutung des MANV im Regelrettungsdienst

Der MANV ist zwar ein häufiges Gesprächs-, aber ein seltenes Ausbildungs- und Übungsthema.

Im Rahmen der RS-Ausbildungen ist der MANV ein absolutes Randthema – eine eingehende Besprechung oder gar eine adäquate Übung erfolgt praktisch überhaupt nicht.

Erst im Rahmen von Fortbildungen oder höheren Ausbildungen (NFS-Ausbildung) wird der MANV regelhaft thematisiert.

Je nach Einsatzgebiet kann ein MANV – meist in Form eines „Mini-MANV“ unter fünf Betroffenen – extrem selten oder relativ häufig sein.

Für die große Mehrheit gesprochen ist der MANV recht selten und eine wirkliche Routine wird der reine Rettungsdienstler im Umgang und der Bewältigung des Ereignisses nicht haben.

Ungewohnt ist vor allem die Abkehr von der normalen, individuellen Patientenversorgung und die Arbeit in sonst vollkommen unüblichen Führungsstrukturen – das führt zur Verunsicherung und zu Fehlern.

Im Rahmen von solchen Großschadenslagen werden oft auch ehrenamtliche Kräfte aus dem Bereich des Katastrophenschutzes alarmiert – im medizinischen Bereich sind das die Schnelleinsatzgruppen. Somit stehen also auch im „eigenen Bereich“ plötzlich andere, vielleicht unbekannte, Akteure auf dem Feld, mit denen eine gute Zusammenarbeit notwendig und sinnvoll ist.

Sichtung und Vorsichtung

Die Sichtung (auch Triage) ist die Beurteilung der Verletzungsschwere sowie der vitalen Bedrohung.

Definitionsgemäß ist die Sichtung eine rein ärztliche Aufgabe – nicht-ärztliches Personal übernimmt eine Vorsichtung nach verschiedenen Algorithmen.

Verbreitete Vorsichtungsalgorithmen sind unter anderem mSTaRT und PRIOR.

Im Rahmen der Vorsichtung wird die Bedrohlichkeit des Patientenzustands und damit mittelbar seine Behandlungs- und Transportpriorität festgelegt – schnell durchführbare lebensrettende Sofortmaßnahmen, wie z.B. die Anlage eines Tourniquets oder die stabile Seitenlage, erfolgen parallel dazu.

Die Einteilung erfolgt in vier Sichtungskategorien – zusätzlich werden Verstorbene sowie Ungesichtete unterschieden.

Übersicht der Sichtungskategorien. Quelle: eigenes Werk.

Wichtig: die SK IV wird nur auf Anforderung der Einsatzleitung verwendet und niemals im Rahmen einer Vorsichtung – diese Patienten fallen in der Vorsichtung in die SK I.

Führungskräfte, die man kennen sollte

Mit dem Führungskräften, die hier auftauchen, hat der Regelrettungsdienstler im täglichen Betrieb kaum bis gar nicht zu tun – macht also Sinn, mal ein Blick auf wesentliche Führungskräfte zu werfen.

Da die Führungsstrukturen bundeslandspezifisch sind, beschränke ich mich auf Rheinland-Pfalz.

Einsatzleiter

Der Einsatzleiter ist eine singuläre Funktion und der „Chef des Geschehens“ – Einsatzleiter ist bei üblichen Lagen eine Führungskraft der Feuerwehr (Wehrleiter, Kreis-/Stadtfeuerwehrinspekteur) bzw. ein politischer Funktionsträger (Bürgermeister, Landrat).

Der Einsatzleiter ist – unabhängig von der Organisationszugehörigkeit – allen nachgeordneten Führungskräften und Helfern in einsatztaktischen Fragen weisungsbefugt. Das heißt: im Zweifelsfall kann er auch Rettungsdienstpersonal führen – er verfügt allerdings über keine Weisungsbefugnis in medizinischen Fragen.

Gekennzeichnet wird er in der Regel durch eine gelbe Kennzeichnungsweste bzw. einen gelben Koller.

Leitender Notarzt

Der Verantwortliche für alle medizinischen Fragen ist der leitende Notarzt – er übernimmt mit dem Organisatorischen Leiter Rettungsdienst (OrgL oder OLRD) die Abschnittsleitung „Gesundheit“.

Der Leitende Notarzt ist grundsätzlich ein erfahrener Notarzt – fast ausschließlich mit abgeschlossener Facharztausbildung – mit einer Zusatzausbildung im Bereich des Katastrophenschutzes.

In rein medizinischen Einsatzlagen kann er die Funktion des Einsatzleiters übernehmen.

Er legt u.a. Behandlungs- und Transportprioritäten fest, koordiniert die Sichtung und beurteilt die Lage aus medizinischer Sicht. Als Notarzt ist er zudem auch in medizinischen Fragestellungen dem Rettungsdienstpersonal weisungsbefugt.

Gekennzeichnet wird er durch eine weiße Weste – in der Funktion eines Einsatzleiters trägt er eine gelbe Kennzeichnungsweste.

Organisatorischer Leiter Rettungsdienst

Der Organisatorische Leiter Rettungsdienst ist die „rechte Hand“ des LNA und für die organisatorisch-taktische Führung des Abschnitts zuständig.

In der Regel rekrutieren sich die Organisatorischen Leiter aus erfahrenen Kräften des Regelrettungsdienstes (meist Notfallsanitäter), seltener aus rein ehrenamtlichen Kräften.

Auf Grundlage der festgelegten medizinischen Prioritäten organisiert er Klinikplätze, legt Patientenablagen und Bereitstellungsräume fest, koordiniert Versorgung und Abtransport und bildet die Schnittstelle zwischen Einsatzleitung der Feuerwehr und den Kräften des medizinischen Bereichs.

Wie andere Führungskräfte ist der OrgL seinen nachgeordneten Kräften in einsatztaktischen, nicht aber medizinischen Fragen weisungsbefugt.

Der OrgL trägt eine weiße Kennzeichnungsweste.

Grundregeln des MANV

Gerade für Neueinsteiger gilt es, die erste Zeit bis zum Eintreffen der Führungskräfte „zu überleben“ – vom Eintreffen des ersten Rettungsmittels bis zur Übernahme der Einsatzleitung durch reguläre Führungskräfte spricht man von der Chaosphase.

Erkenne die Gefahr und sichere sie ab!

Abhängig von der Einsatzlage muss die Gefahr selbstständig erkannt und nach den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten abgesichert werden.

Ist ein Absichern nicht möglich, gilt: erstmal Abstand!

Melden macht frei!

Eine sinnvolle und zielgerichtete Kommunikation mit der Leitstelle ist das A und O – es sorgt nämlich dafür, dass zügig die richtige Hilfe anrollt und man zeitnah gute Unterstützung erhält. Je früher, desto besser.

Eine „Lage auf Sicht“ direkt nach dem Eintreffen und eine genaue Lagemeldung nach einem ersten Überblick ist ein Muss!

Verschaffe dir einen Überblick!

Beurteile die Einsatzstelle und ihre Gefahren genauer – was braucht es zur Bekämpfung? Wie ist die genaue Lage vor Ort? Was brauchst Du als Unterstützung?

Gib eine Rückmeldung und fordere nach, was Du benötigst!

Übernimm die Führung und ordne die Einsatzstelle!

Beginne mit der Vorsichtung – nutze den lokalen Algorithmus. Im Falle von Rheinland-Pfalz wird PRIOR angewendet.

Leite lebensrettende Sofortmaßnahmen ein – nutze deine Ressourcen sinnvoll und zeitgerecht.

Ordne den Raum – lege Patientenablage, und ggf. Bereitstellungsraum und Rettungsmittelhalteplatz fest und teile sie der Leitstelle mit.

Finde die Roten!

Der Fokus liegt darauf, lebensbedrohlich Verletzte oder Erkrankte zu identifizieren – finde die Personen der Sichtungskategorie I („Rot“), behandle sie oder organisiere den schnellstmöglichen Abtransport.

Übergabe an die regulären Führungskräfte

Mache eine kurze, prägnante Übergabe an die regulären Führungskräfte mit den relevanten Informationen. Biete dich als Führungsassistent an – denn Du kennst die Lage am Besten.

Fazit

Ein MANV ist ein seltenes Ereignis, welches sowohl von der Lage an sich, als auch von den Strukturen durchaus sehr komplex sein oder werden kann – eine eingehende Beschäftigung mit dem Thema ist also durchaus anzuraten.

Eine recht kostengünstige und einfach zu bewerkstelligende Möglichkeit zur Übung bietet die „dynamische Patientensimulation„, für die es verschiedene Anbieter gibt.

Man darf unter keinen Umständen in den „Alltagsmodus“ schalten und sich einfach einen Patienten krallen – jeder der Betroffenen benötigt Hilfe.

Gerade die ersteintreffende Kraft hat als Kernaufgabe die Führung, nicht die medizinische Versorgung.

Auch wenn das Thema „MANV“ mittlerweile einen weitaus höheren Stellenwert im Hauptamt hat, als es noch vor 20 Jahren der Fall war, ist der Umgang hiermit – zumindest aus meiner Sicht – auf vielen Ausbildungsstufen leider immer noch stiefmütterlich.

Es ist also jedem, egal ob im Rettungsdienst oder Sanitätsdienst, anzuraten, bei diesem Thema Eigeninitiative zu zeigen und den Wunsch der Fortbildung auch an die Führungskräfte heranzutragen.

Nichts ist schlimmer, als vollkommen unvorbereitet vor einer solchen Situation zu stehen.

Quellen

Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (2022): Triage – Sichtung, abgerufen unter https://www.bbk.bund.de/DE/Themen/Gesundheitlicher-Bevoelkerungsschutz/Triage-Sichtung/triage-sichtung_node.html am 03.02.2022

Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (2018): Vorsichtungsalgorithmus PRIOR, abgerufen unter https://www.bbk.bund.de/DE/Themen/Gesundheitlicher-Bevoelkerungsschutz/Triage-Sichtung/Vorsichtungsalgorithmus-PRIOR/vorsichtungsalgorithmus-prior_node.html;jsessionid=93B4B7511780EC7F2068043731BAE8FF.live362 am 03.02.2022

Hofmann K., Lipp R. (2018): Sanitäts-, Betreuungs- und Verpflegungsdienst, 2. durchgesehene und aktualisierte Auflage. Verlagsgesellschaft Stumpf + Kossendey mbH, Edewecht. ISBN 978-3-943174-89-2. Hier erhältlich: https://amzn.to/35lYDas

Erste Hilfe Infos (2022): mSTaRT-Schema, abgerufen unter http://erste-hilfe-infos-de.server11129.isdg.de/index.php?id=880 am 03.02.2022

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Über SaniOnTheRoad

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SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.


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