Rettungsdienst aktuell – Themen die den Rettungsdienst, seine Mitarbeiter und Interessierte beschäftigen. Von leitliniengerechter Arbeit bis zur gesellschaftskritischen Diskussion.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Die Grundsatzprobleme
- Sichtweise: Strom vor Luft
- Sichtweise: Luft vor Strom
- Die Diskussion
Einleitung
Die Reanimationssituation ist im rettungsdienstlichen Kontext an sich schon eher außergewöhnlich: es gibt selten Krankheitsbilder und Zustände, bei denen der Ablauf wirklich derart durchstandardisiert ist, wie bei der Reanimation.
Ein derart fixes Vorgehen findet man im Rettungsdienst doch eher selten.
Trotz (oder vielleicht auch gerade wegen) diesem weit standardisierten Vorgehen kommen hier doch gerne Diskussionen um vermeintlich kleine Punkte auf, die allzu gerne in hitzigen Debatten enden.
Der weit verbreitete Klassiker ist dabei eben die Frage
„Strom vor Luft – oder Luft vor Strom?“
Und damit letztendlich die Priorisierung von Maßnahmen, sprich: Beatmung zuerst oder Defibrillation zuerst?
Das kann durchaus eine tiefe Glaubensfrage sein…
Die Grundsatzprobleme
Diese vermeintlich einfache Frage zeigt sich in ihrer Beantwortung allerdings erstaunlich problematisch…
Eigentlich werden hier zwei Grundsatzprobleme deutlich:
- die eingeschränkte Rettungsdienstorientierung der Leitlinien und
- fraglich widersprüchliche Leitlinienaussagen.
Wenn man sich die Reanimationsleitlinien anschaut, sollte man sich durchaus bewusst machen: der Rettungsdienst und die typisch rettungsdienstliche Reanimationssituation werden hier schlicht nicht explizit berücksichtigt.
Die primäre Folge ist, dass es keinen reinen expliziten „Rettungsdienst-Algorithmus“ der Reanimation gibt – sekundär werden also verschiedende Algorithmen, angefangen bei BLS über ALS bis hin zu Sondersituationen durchlaufen.
Ein Grundsatzproblem entsteht hierbei in den sehr unterschiedlichen Grundannahmen, die die verschiedenen Algorithmen existieren. Der BLS-Algorithmus richtet sich eben primär an den Ersthelfer ohne Equipment, nicht an zwei vorbereitete Rettungsdienstler mit Material. Der ALS-Algorithmus passt zwar durchaus zur Ausstattung, aber nicht unbedingt bei der initial verfügbaren Manpower.
Resultat ist: manches wird im Rettungsdienst schlicht anders umgesetzt – weil man die Möglichkeit hat oder eben nicht hat. Gerade beim Punkt der „Manpower“ und zusätzlichen Maßnahmen ergibt sich hier die Notwendigkeit einer Priorisierung, die sich so in Form der Leitlinien nur begrenzt wiederfindet.
Und das führt durchaus dazu, dass verschiedene Leitlinienaussagen durchaus einen Widerspruch vermuten lassen. Grundproblem Nummer 2.
Hier sind es ebene die Betonung der Wichtigkeit der Beatmung einerseits, und die frühestmögliche Defibrillation andererseits – und gerade in der Situation, beim Eintreffen nur zu zwei zu sein und noch alles richten/anbringen zu müssen, wird hier einfach eine Priorisierung der Handlungsabfolge notwendig.
Widersprüchlich erscheint hier eben die Aussage „CPR 30:2“ – also explizit mit Beatmung – bis der Defibrillator bereit ist. Und hier kommt dann durchaus die berechtigte Frage auf, ob man nun zwingend die Beatmung abwarten sollte, bevor man analysiert und ggf. defibrilliert…oder eben nicht.
Beide Seiten haben dabei durchaus valide Punkte, die für ihre Ansicht sprechen.
Sichtweise: Strom vor Luft
Hier wird sich auf die Kernaussage einer frühestmöglichen Defibrillation berufen, welche sowohl ERC- als auch AHA-Leitlinien durchaus hergeben.
Die Defibrillation ist schlicht und ergreifend das einzig evidente Mittel, ein Kammerflimmern respektive eine pVT zu beenden – und das selbstverständlich schnellstmöglich.
Die Grundannahme hierbei ist, dass die Beatmung unmittelbar nach dem Auffinden einer leblosen Person gegenüber der früheren Defibrillation nachrangig ist – entsprechend der Abfolge
„Thoraxkompressionen – Defi anschließen – Analyse – ggf. Schock – weiter mit CPR 30:2“
Die zwingenden zwei Beatmungen vor der ersten Analyse & Defibrillation werden hierbei nicht als „game changer“ gesehen.
Das gilt natürlich nur unter der Annahme, dass der Defibrillator am Patienten ist und sofort einsatzbereit gemacht werden kann – ansonsten wird auch hier die Notwendigkeit des regulären BLS-Ablaufs mit Thoraxkompressionen und Beatmungen betont.
Insgesamt scheint diesdie derzeit verbreitere Auffassung des Reanimationsablaufs im Rettungsdienst zu sein.
Sichtweise: Luft vor Strom
Die zweite Sichtweise ist genau andersherum: der (erstmaligen) Beatmung wird hier Vorrang gegenüber der Defibrillation eingeräumt – hier wird sich auf den BLS-Algorithmus an sich berufen, der eben „CPR 30:2, bis Defi bereit“ aussagt.
Es entspricht somit der Lesart, dass eben zwingend zwei Beatmungen erfolgen müssen, bevor die erste Analyse erfolgt – insbesondere natürlich dann, wenn es deutlich länger als 30 Thoraxkompressionen dauert, bis die erste Analyse erfolgen kann.
Das entspricht also dem Ablauf
„Thoraxkompressionen, zwei Beatmungen – Defi anschließen – Analyse – ggf. Schock – weiter mit CPR 30:2“
Hier wird insbesondere der größere Defibrillationserfolg angeführt, der sich bei einer vorhergehenden CPR mit Thoraxkompressionen und Beatmung einstellen soll; was sich zumindest als schwache Empfehlung mit mäßiger Evidenz in den AHA-Leitlinien findet.
Das erscheint sinnvoll unter der Tatsache, dass unsere Kardiomyozyten Hypoxie nicht besonders mögen und diese durch ihre Funktionsstörungen ein Kammerflimmern entstehen lassen und aufrecht erhalten kann.
Außer Acht gelassen wird hierbei allerdings oft, dass entsprechende Studien schon andere Grundvoraussetzungen haben: hier wurden reine BLS-Reanimationen von 1,5 – 3 Minuten Dauer vor der ersten Defibrillation untersucht – nicht „30 Thoraxkompressionen, 2 Beatmungen, dann Defibrillation“. Eine wirkliche Übertragbarkeit der Ergebnisse darf also angezweifelt werden.
Die Ergebnisse zeigten zudem keine signifikant höheren Raten des ROSC oder des kurz- oder längerfristigen Überlebens (aber auch keine schlechteren) – was rettungsdienstlich eigentlich der interessantere Endpunkt wäre. Gleichermaßen wurden signifikant schlechtere Überlebensraten mit deutlich verlängerter Dauer bis zur ersten Defibrillation nachgewiesen.
Etwas größere Verbreitung hat diese Sichtweise mit dem Fokus auf der Hypoxie als zentralen notfallmedizinischen Pathomechanismus gefunden – und auch der Obsession einiger Dozenten mit diesem Thema.
Die Diskussion
Am Ende des Tages: beide Sichtweisen sind durchaus legitim und können meines Erachtens vertreten werden – und beide Sichtweisen haben Punkte, die man als Vor- und Nachteile betrachten kann.
Auch wenn die Diskussion meines Erachtens durchaus ihre Daseinsberechtigung hat, wird sie an einem Punkt dann doch zur Makulatur: so wirklich treffgenau wird die Situation, über die wir diskutieren, weder in Leitlinien noch in den Studien, auf denen die Leitlinien basieren, erfasst.
Wir reden hier nicht von Zeitunterschieden zwischen Beatmung und Defibrillation von 3 Minuten, sondern vielleicht von einer halben Minute. Das ist durchaus eine andere Situation.
So kann man, rettungsdienstlich-pragmatisch, gleichermaßen sagen, dass…
- …zwei Beatmungshübe vor der Defibrillation wahrscheinlich keinen Einfluss auf das Ergebnis haben und
- …die Verzögerung der Defibrillation um eine halbe Minute für eine Beatmung wahrscheinlich ebenso wenig Unterschied macht.
Es bleibt hier natürlich noch die Frage: was ist nun besser?
Fairerweise: eine deutlich überlegene „bessere Variante“…gibt es nicht. Am Ende des Tages muss sich das Team vorab einig sein, was gemacht wird – ansonsten ist Chaos in einer Situation, in der man kein Chaos will, vorprogrammiert.
Im Zweifelsfall – Achtung, persönliche Meinung – würde ich „Strom vor Luft“ vorziehen. Zum einen, weil es am ehesten der etablierte rettungsdienstliche Standard ist, zwei Beatmungshübe zwar die Defibrillation verzögern, aber an sich keinen signifikanten Effekt auf das Outcome haben und die Defibrillation eben Mittel der Wahl ist, um ein Kammerflimmern zu beenden – und die Erfolgschancen mit zunehmender Verzögerung sinken.
Interessenkonflikte
Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Quellen
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