Rettungsdienst at its best: zwischen Liegendtaxi und Lebensretter

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Photo by NEOSiAM 2021 on Pexels.com

Wenn eine Sache die Arbeit im Rettungsdienst spannend macht, dann ist es wohl die Abwechslung – man weiß nie, was einen erwartet. Jede Schicht ist ein Überraschungspaket.

Auch wenn – oder gerade wenn – man schon einige Zeit in der Notfallrettung unterwegs ist, weiß man allerdings: echte Notfälle, bei denen es um Leben oder Tod geht, sind selten.

Man freut sich einerseits, dass es den Menschen (einigermaßen) gut geht; man ärgert sich zugleich allerdings auch über zum Teil unberechtigte oder schlecht disponierte Einsätze. Der ewig schwelende innere Konflikt des Rettungsdienstlers.

Manchmal liegen das Dasein als größeres Liegendtaxi und die Funktion als Lebensretter näher zusammen, als man erwartet. Und manchmal durchlebt man den Wechsel mehrfach in einer Schicht.

Aufblende!

Die erste Schicht nach dem Urlaub hat immer etwas „Willkommen zurück“-Stimmung. Man freut sich, die Kollegen zu sehen, wieder fachsimpeln zu können und Neuigkeiten der Wache zu erfahren. Diesmal war es eine RTW-Nachtschicht, also wenig offene Aufgaben zu erledigen und aller Voraussicht nach Zeit. Soweit der Plan.

Nach der Begrüßung und der Übergabe durch den Tagdienst bei Kaffee und Kuchen geht es an den Fahrzeugcheck. Da die Tagdienstbesatzung „sparsam“ gearbeitet hat – ein einziger Einsatz – und noch ein Kollege der KTW-Spätschicht beim Checken hilft, ist dies auch zügig erledigt.

Entspannung? Entspannung! Jedenfalls etwas – wenn man von den kleineren Aufgaben, die man sich selbst mitgebracht hat, mal absieht 😉

Lange soll es aber nicht so bleiben…

„Taxiservice Rettungsdienst, wo darf’s denn hingehen?“

Die Einsatzmeldung versprach nicht gerade viel Spannung:

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: Einweisung, schlechter Allgemeinzustand, Harnverhalt.

Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, ohne Sonder-/Wegerechte.

Im Prinzip schreit diese Einsatzmeldung nach „KTW-Fahrt„. Und noch viel mehr nach „KTW-Fahrt, weil KTW es nicht bis zum Feierabend schafft„. Sei’s drum – Entscheidung der Leitstelle, den RTW hierfür zu nutzen.

Es ist innerhalb des Ortes unserer Wache, also hält die Zeit, sich zu ärgern in Grenzen.

Scene – Safety – Situation

Scene: Abend, 20:00 Uhr, kühl, trocken, Einfamilienhaus in Kleinstadt.

Safety: keine augenscheinlichen Gefahren.

Situation: Der Patient, 70 Jahre, samt Lebensgefährtin kommt nach Eintreffen fußläufig zum RTW.

Das führt natürlich erstmal zur praktisch erwarteten Ersteinschätzung:

Ersteinschätzung

Nicht kritisch.

Nach der Begrüßung und den Formalitäten steht schnell fest: der Patient wollte und benötigt eigentlich nur einen Krankentransport. Er hat ein bekanntes Blasen-CA und im Laufe des Tages Schwächegefühl und einen Harnverhalt entwickelt.

Nichtsdestotrotz wird auch ihm der „Rundumschlag an Erstuntersuchung“ zuteil.

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht und rosig, keine Zyanose.

B – Breathing

Atemfrequenz 15/min, Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits vesikuläres Atemgeräusch, keine Halsvenenstauung, keine Dyspnoe.

C – Circulation

Haut rosig, warm, trocken, keine stehenden Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse tastbar, rhythmisch, normofrequent; Abdomen weich, keine Abwehrspannung; keine Schmerzangabe im Becken, Oberschenkel stabil, RR 140/90 mmHg.

D – Disability

GCS 15, Pupillen isokor, mittelweit, prompte Lichtreaktion; FAST unauffällig, pDMS unauffällig, BZ 130 mg/dl.

E – Exposure/Environment

Bodycheck unauffällig, kein Nierenklopfschmerz, keine Verletzungen. Temp. 36,0°C.

Es blieb also primär mal beim

Einschätzung

Nicht kritisch.

Der schleichende Verdacht einer Urosepsis als vitale Bedrohung hat sich nicht erfüllt. Die Anamnese gestaltet sich ähnlich unspektakulär: bis auf die Schwierigkeiten beim Wasserlassen (Pollakisurie, also häufiges Wasserlassen bei kleinen Urinmengen) und das Schwächegefühl gibt es keine akuten Beschwerden – keine Allergien, lediglich die kardiale Standardmedikation nach einem NSTEMI vor etlichen Jahren.

Der behandelnde Urologe wurde sogar zuerst verständigt (Respekt!) und rät zur Einweisung. Nachdem der nächste Nacht-KTW weit, weit weg wäre, transportieren wir den Patienten schließlich selbst in unseren Maximalversorger. Eben das nächste Haus mit Urologie.

Ereignisloser, unkomplizierter Transport mit viel Gelegenheit zum Smalltalk, und natürlich der obligatorische Smalltalk mit den Kollegen, die man in der Notaufnahme trifft.

Einmal Liegendtaxi gespielt. Ein großer KTW mit Blaulicht ^^ – aber es soll auch anders gehen, wie wir an diesem Abend erfahren haben.

„Oh oh oh, oh…das sieht nicht gut aus“

Von unserem Einsatz zurück auf der Wache bleibt immerhin etwas Zeit, den Einsatz zu erfassen und sich zu stärken. Dann geht der Melder.

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: Vaginale Blutung, vmtl. großer Blutverlust

Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, mit Sonder-/Wegerechte. NEF ist Minuten vorher in die „andere Richtung“ zu einem Notfall alarmiert worden.

So, der rettungsdienstliche Aberglaube im Sinne von „alles, was als ’starke Blutung‘ gemeldet wird, blutet eh nicht mehr“ schlägt auch bei diesem Einsatzbild zu. Irgendwie hatten wir aber schon ein ungutes Bauchgefühl bei der Sache.

Patienten geht es gefühlt immer schlechter, wenn ein Notarzt nicht zeitnah verfügbar ist.

Scene – Safety – Situation

Scene: Nacht, 00:00 Uhr, kühl, trocken, Einfamilienhaus in ländlicher Gegend.

Safety: keine augenscheinlichen Gefahren.

Situation: Der Ehemann der Patientin (Mitte 20) nimmt und in Empfang und berichtet von einem starken Blutverlust. Die Patientin sei synkopiert und liege im Flur des Obergeschosses.

Wir schnappen uns also unser Equipment und folgen dem Ehemann nach oben. Der „First Look“ wischt dem Aberglauben allerdings voll eins aus – und bestätigt das Bauchgefühl.

Die Patientin liegt kreidebleich im Flur, man kann mindestens zwei gut durchgeblutete Handtücher sehen und sogar Blutspuren an der Wand.

Wir entscheiden uns für ein

Einschätzung

Kritisch.

und starten unmittelbar in unser Primary Survey.

xABCDE

x – Exsanguination

Anhaltend starke vaginale Blutung seit etwa 30 Minuten.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht und blass, keine Zyanose.

B – Breathing

Atemfrequenz 20/min, Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits vesikuläres Atemgeräusch, keine Halsvenenstauung, keine Dyspnoe. SpO2 94 %

C – Circulation

Haut blass, kalt, schweißig, keine stehenden Hautfalten; Rekapillarisierungszeit ca. 4 Sekunden, periphere Pulse schlecht tastbar, rhythmisch, tachyjard; Abdomen weich, keine Abwehrspannung; keine Schmerzangabe im Becken, Oberschenkel stabil, RR 70/- mmHg. Uterus tastbar, mäßig kontrahiert.

D – Disability

GCS 15, Pupillen isokor, mittelweit, prompte Lichtreaktion; FAST unauffällig, pDMS unauffällig, BZ 99 mg/dl.

E – Exposure/Environment

Bodycheck unauffällig, keine weiteren Verletzungen. Temp. 36,7°C.

Uns schießt eigentlich nur ein Leitgedanke in den Kopf: Transportpriorität! Und der zweite Gedanke: Shit!

Und dann ging alles ziemlich schnell: die Patientin erhielt hochdosiert Sauerstoff über eine Maske (15 l/min) und wurde in der Fritsch-Lagerung weiterversorgt.

Ich staue, um nach einem venösen Zugang zu legen – und es zeigt sich „ein Hauch von nichts“. Eine einzige Vene zeigt sich, nicht die Wunschvorstellung. Immerhin: ein Versuch, ein Treffer, und die Infusion läuft gut. Gott sei dank. Permissive Hypotension kann kommen.

Während mein Kollege den Transport vorbereitet, geht es für mich in die Anamnese – und die Voranmeldung in der Klinik.

SAMPLER(S)

S – Symptome

Plötzlich aufgetretene massive vaginale Blutung. Am Nachmittag bereits schon einmal vaginale Blutung, die selbst sistiert ist. Die Hebamme wurde informiert und hat die Patientin bereits untersucht.

A – Allergien

Keine.

M – Medikamente

Keine.

P – Vorerkrankungen

Keine. Z.n. Sectio vor 8 Tagen.

L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang

Letzte Mahlzeit 18:00.

E – Ereignis

Auftreten aus der Ruhe heraus.

R – Risikofaktoren

Keine.

S – Schwangerschaft

Ausgeschlossen.

Nach etwas Hin- und Her hat auch die Klinikanmeldung gut funktioniert, und mit Unterstützung des Ehemanns konnten wir die Patientin zügig ins Auto verbringen. Abflug. Monitoring komplettieren. Blutdruckmanagement. Notarzt nachfordern? Immer noch im Einsatz, ein anderes NEF braucht zu lange. Tranexamsäure? Nicht auf dem RTW. Also treten wir solo die Reise mit Lichterglanz und Glockenschall an.

Versorgungszeit von Status 4 bis Status 7: knappe 15 Minuten.

Immerhin konnte der 90er-Zieldruck gut erreicht werden, und die Patientin wurde in einem verbesserten Zustand der Gynäkologie übergeben.

Durchatmen.

So sehr, wie wir bei Einsatz Nummer 1 wussten, dass wir Taxi spielen – so sehr wussten wir auch, dass wir bei Einsatz Nummer 2 der jungen Frau wohl das Leben gerettet haben. Auch, oder gerade weil wir „nicht viel gemacht“ haben.

Fazit

Was fand ich gut?

  • angemessener, professioneller Umgang auch mit „ungerechtfertigten“ RTW-Einsatz
  • gutes Zeitmanagement bei unkontrollierbarer Blutung

Was fand ich nicht gut?

  • Disposition eines RTWs zu einem augenscheinlichen Krankentransport, der auch als solcher angefordert wurde
  • Nicht-Verfügbarkeit von Tranexamsäure auf dem RTW
  • Last, but not least: die eigene Einstellung und der „rettungsdienstliche Aberglaube“.

Was ist mir wichtig? – „Take-Home-Message“

Unterschätze nie einen Einsatz – und auch das Bauchgefühl darf mal richtig liegen.

Jeder Einsatz kann ein „echter Notfall“ sein oder zu einem werden. Dementsprechend sollte man stets bei einem professionellen Mindset bleiben, die Scheuklappen abziehen oder gar nicht erst aufsetzen und auch den eigenen Frust über „unnötige Einsätze“ im Zaum halten.

Ob ein Einsatz mit Patienten, die wirklich auf der Kippe stehen „schöner“ oder „besser“ ist? Er ist zweifellos komplexer und stressiger. Komplex und stressig ist der Garant für schwerwiegende Fehler.

Diese sind zwar hier nicht aufgetreten – die Wahrscheinlichkeit wäre bei Einsatz Nummer 2 jedoch ein Vielfaches von einem „langweiligen“ Routineeinsatz gewesen. Und diese Fehler können im Zweifelsfall auch Leben kosten.

Folgt meinem Blog!

Du möchtest nichts mehr verpassen? Neuigkeiten von mir gibt es auch per Mail!

Es gelten unsere Datenschutz– und Nutzungsbestimmungen.

Wie fandest Du diesen Beitrag?

Klicke auf die Sterne um zu bewerten!

Durchschnittliche Bewertung 4.5 / 5. Anzahl Bewertungen: 2

Bisher keine Bewertungen! Sei der Erste, der diesen Beitrag bewertet.

Es tut uns leid, dass der Beitrag für dich nicht hilfreich war!

Lasse uns diesen Beitrag verbessern!

Wie können wir diesen Beitrag verbessern?


Über SaniOnTheRoad

Rettungsdienst at its best: zwischen Liegendtaxi und Lebensretter

SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.