Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.
Die Erhebung der Krankengeschichte – die Anamnese – ist für den Rettungsdienstler mitunter einer der entscheidendsten Teile der Patientenkommunikation.
Die Anamnese kann auch nach einem erfolgten Primary Survey die Richtung des Einsatzes grundlegend ändern, sie kann vermeintlich „schlimme“ Befunde relativieren und vermeintlich nebensächlichen Befunden Priorität einräumen.
Dementsprechend wichtig ist die Struktur – in der Notfallmedizin hat sich die SAMPLER(S)-Anamnese bewährt.
Ablauf einer SAMPLER(S)-Anamnese
Bedeutung | Beispiele | |
S | Symptome | Beschwerden, die zum Ruf des Rettungsdienstes geführt haben, z.B. Schmerzen, Atemnot… |
A | Allergien | Bekannte Allergien und Unverträglichkeiten des Patienten |
M | Medikamente | Aktuelle Dauer- und Bedarfsmedikation des Patienten (CAVE: regelmäßige Einnahme?) Aktuell eingenommene andere Medikamente? |
P | Patientengeschichte | Vorerkrankungen des Patienten; insbesondere auch chronische Erkrankungen |
L | Letzte(r)… | Wann letzte orale Aufnahme? Wann letzter Stuhlgang? Wann letztes Mal Harnausscheidung? |
E | Ereignis vor Symptombeginn | Mögliche Auslöser für die Beschwerden? Erkennbarer Trigger? Spontanes Auftreten? |
R | Risikofaktoren | Faktoren, die Erkrankungen begünstigen (z.B. Alkohol-/Nikotinabusus, Adipositas, arterielle Hypertonie…) |
S | Schwangerschaft | Ist eine Schwangerschaft möglich oder sicher ausgeschlossen? |
Damit kann man notfallmedizinisch relevante Informationen sicher und zielführend abklopfen. Wenn da nicht der Unsicherheitsfaktor Nummer eins bleiben würde: der Patient.
Trotz aller Struktur spielen Patienten, meist unwissentlich, bei der Anamnese nicht so ganz mit – und oft genug bekommen verschiedene Kollegen, der Notarzt und die aufnehmende Klinik komplett unterschiedliche Aussagen geliefert. Der Klassiker ist: der Notfallsanitäter erhebt eine Anamnese, übergibt an den Notarzt, dieser fragt nochmals nach und bekommt wesentlich mehr oder auch komplett andere Informationen.
Im Folgenden berichte ich von einem Einsatz, bei dem das Anamnese-Roulette ausnahmsweise mal zugunsten des nicht-ärztlichen Rettungsdienstpersonals ausging 😉
Eigentlich ein Einsatzklassiker
Es war bis dato ein recht ruhiger Tag im Winter – es hat in der Nacht ordentlich geschneit und die Autofahrer waren mäßig damit überfordert. Am morgen hatten wir bereits zwei Verkehrsunfälle, beide Male nur Blechschaden, beide Male ohne Transport.
Gegen Mittag sollte uns dann allerdings ein internistischer Klassiker ereilen:
Einsatzdaten
Einsatzmeldung: Akuter Thoraxschmerz.
Alarmierte Fahrzeuge: RTW + NEF, mit Sonder-/Wegerechte.
Gemeinsam mit unserem NEF wurden wir in ein Dorf alarmiert, welches eigentlich durch eine unserer Außenwachen bedient wird. 20 Minuten Anfahrt.
Der akute Thoraxschmerz lässt natürlich sofort an ein akutes Koronarsyndrom denken – aber auch Lungenarterienembolie, die Aortendissektion oder auch schlicht ein BWS-Syndrom kommen direkt in den Trichter. Wir gehen jedenfalls mal von einer potentiell bedrohlichen Situation aus.
Scene – Safety – Situation
Scene: Mittag, 13:00 Uhr, kalt, Dorfgegend, Einfamilienhaus.
Safety: Keine offensichtlichen Gefahren.
Situation: Der Patient öffnet die Tür und bittet uns herein. Er klagt seit etwa 10:00 über Brustschmerzen, die auch in Schulter, Epigastrium sowie den Unterkiefer ausstrahlen.
Wir entscheiden uns für ein
Ersteinschätzung
Potentiell kritisch.
begleiten den Patienten noch einmal ins Wohnzimmer und steigen in das Primary Survey ein.
xABCDE
x – Exsanguination
Keine starke äußere Blutung.
A – Airway
Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht und rosig, keine Zyanose.
B – Breathing
Atemfrequenz 14/min, keine Halsvenenstauung, Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits vesikuläres Atemgeräusch,, keine Dyspnoe, SpO2 97 %.
C – Circulation
Haut rosig, warm, trocken, keine stehenden Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse tastbar, rhythmisch; Abdomen weich, keine Abwehrspannung; keine Schmerzangabe im Becken, Oberschenkel stabil, RR 170/90 mmHg beidseits. Angina pectoris > 3 Stunden mit Ausstrahlung.
D – Disability
GCS 15, Pupillen isokor, mittelweit, prompte Lichtreaktion; FAST unauffällig, pDMS unauffällig, BZ 140 mg/dl.
E – Exposure/Environment
Bodycheck unauffällig, Temperatur 36,4°C.
Ein wenig Anamnese lief schon nebenbei – zu meiner eigentlichen Anamnese bin ich noch gar nicht gekommen, da stand schon unser Notarzt im Raum, während mein Kollege gerade das 12-Kanal-EKG schrieb.
Also, Übergabe an den Notarzt, der dann in die Anamnese einstieg.
Die Beschwerden konnte der Patient recht gut beschreiben, Allergien wurden verneint, eine handschriftliche Medikamentenliste lag vor…Bisoprolol, Ramipril, L-Thyroxin, Apixaban, Torasemid – ebenso sein Antikoagulatienausweis.
Auf die Frage nach den Vorerkrankungen kam nur ein
„Ich hatte zig Jahre keine Probleme mit dem Herz!“
Nun, es dürfte offensichtlich sein, dass es so ganz nicht passt. Der Meinung war auch unser Notarzt, der weiter nachfragte. Krankenhausaufenthalte? Ja, in den 1990ern relativ oft. Warum? Weiß er nicht mehr so genau. Wofür die „Blutverdünner“? Weil das Marcumar abgesetzt wurde. Wofür haben sie die Blutverdünner verschrieben bekommen? Das haben sie im Krankenhaus umgestellt. Typische Indikationen wie Thrombose, Schlaganfälle oder Vorhofflimmern wurde verneint. Am Herz wäre ja nichts.
Unser Notarzt zeigte eine Engelsgeduld – er hatte auch in der angestrebten Zielklinik nachgefragt, um aus einem Arztbrief zumindest ein wenig verwertbare Informationen zu erhalten. Da der letzte Aufenthalt aber über zehn Jahre zurücklag, war nichts mehr auffindbar.
Ein Arztbrief war natürlich nicht zuhause, und der Hausarzt selbstverständlich nicht erreichbar.
Nachdem das 12-Kanal-EKG einen Sinusrhythmus ohne Ischämiezeichen zeigte, ging es zum Transport. Der Patient erhielt noch einen i.v.-Zugang und eine Vollelektrolytlösung zum Offenhalten, auf eine Gabe von ASS und Heparin wurde bei bestehender Antikoagulation verzichtet.
Und da ich nicht besonders viel zu tun hatte, ging ich noch einmal an die zähe Anamnese. Naja, dass der Patient vor 80 Jahren mal Typhus hatte, ist zwar eine nette Information, aber für die aktuelle Situation gänzlich uninteressant, bohrte ich regelrecht weiter. Die Informationen sprudelten zwar keineswegs, aber so ein wenig mehr kam dann doch aus unserem Patienten raus.
Am Herz hat er nichts – bis auf den Myokardinfarkt vor 20 Jahren, der mit einem Stent versorgt wurde und der Septumdefekt, wegen dem er wohl auch Apixaban nimmt. Darüber hinaus wurde gefühlt jedes zweite Gelenk mittlerweile durch ein künstliches ersetzt. Galle und Blinddarm sind natürlich auch draußen und Sodbrennen habe er auch ab und an – und schon war noch eine Differentialdiagnose im Trichter.
Trotz FFP2-Maske konnte man sehen, wie unser Notarzt die Zähne zusammen biss und immer stärker hervortretende Halsvenen bekam, bis er außerhalb des Sichtfeldes des Patienten nur noch am Kopfschütteln war
Bis zur Übergabe in der Zielklinik verlief die restliche Fahrt dann gänzlich unspektakulär – ein eingeschnapptes
„Das hab‘ ich doch alles gefragt! Mann…“
konnte sich unser Notarzt beim Aussteigen dann doch nicht verkneifen.
Fazit
Was fand ich gut?
- Verwende alle verfügbaren Informationen – es wurde versucht, notwendige Informationen auf allen erdenklichen Wegen zu beschaffen (auch wenn es letztlich nicht von Erfolg gekrönt war)
- Beharrlichkeit bei der Anamneseerhebung
- strukturierte, wenn auch nicht von Erfolg gekrönte, Anamneseerhebung
- Zusatz: der Notarzt durfte mal erleben, wie es ist, nichts aus dem Patienten herauszubekommen ^^
Was fand ich nicht gut?
- unklare bis widersprüchliche Aussagen des Patienten
- Vorarbeit der behandelnden Ärzte – der Patient war sich offensichtlich nicht im klaren, was er warum nimmt > Aufklärung?
- fehlende Arztbriefe
Was ist mir wichtig? – „Take-Home-Message“
Bei der Anamnese ist es nicht nur wichtig, strukturiert vorzugehen – man muss oft auf gezielt nachfragen. Vorerkrankungen sind für die meisten Patienten nur das, was Probleme macht – wenn der eingewachsene Zehnagel schmerzt, wird er natürlich als Vorerkrankung genannt. Der Zustand nach Herzinfarkt mit fünf Stents aber nicht – merkt man ja nicht mehr.
Daher ist es wichtig, zumindest die großen Organsysteme im Zweifelsfall noch einmal gezielt abzufragen. Und der Zweifelsfall ist immer dann anzunehmen, wenn irgendwelche Medikamente eingenommen werden, die sich durch die genannten Erkrankungen nicht erklären lassen. Da hilft nur höfliche Hartnäckigkeit – und manchmal auch, den Patienten eine Minute länger reden lassen.
Eine gewisse Kenntnis typischer Medikamente und ihrer Indikationen helfen ungemein: damit kann man schon auf eine Vielzahl von Vorerkrankungen schließen. Hier zum Beispiel die Hypothyreose, die arterielle Hypertonie und wohl die Herzinsuffizienz.
Für die Patienten: gerade, wenn Vorerkrankungen bestehen, ist ein „Notfall-Ordner“ mit allen wichtigen medizinischen Unterlagen eigentlich ein Muss! Arztbriefe sollten grundsätzlich kopiert und auch zuhause aufbewahrt werden, und ein ausgedruckter Medikamentenplan vom Hausarzt mit Indikation für die Medikamente ist oft schon Gold wert.
Quellen
Bergmann A. (2020): Der Medikamentenplan als wichtiger Hinweisgeber. Elsevier Emergency, 1. Jahrgang, Nr. 6/2020. Elsevier GmbH, München.
SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ Teil 12 – Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 03.02.2022
SaniOnTheRoad (2020): Persönliche Erste-Hilfe-Ausrüstung und Notfallvorsorge, abgerufen unter https://saniontheroad.com/personliche-erste-hilfe-ausrustung-und-notfallvorsorge/ am 03.02.2022
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