Das Bauchgefühl kann trügen

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Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Man kann sich auch irren…

Es gibt Dinge, die untrennbar mit dem Rettungsdienst und der präklinischen Notfallmedizin verbunden sind: eines davon ist das Arbeiten mit einem ständigen Informationsdefizit und unter eingeschränkten Möglichkeiten.

Diese Dinge machen die Arbeit im Rettungsdienst durchaus sehr spannend – und manchmal auch einfach nur schwierig. Mit vergleichsweise minmalen Möglichkeiten das Maximale herausholen ist eine der Herausforderungen, denen man sich im Rettungsdienst quasi tagtäglich stellen muss; egal, ob es nun „kritisch“ ist oder nicht.

Leider funktioniert das nicht immer. Der gemeine Rettungsdienstler entwickelt daher gerne ein Bauchgefühl – eine Einschätzung basierend auf den vorhandenen Möglichkeiten, dem eigenen Fachwissen, dem eigenen Erfahrungsschatz und einer schlichten, subjektiven Abschätzung.

Aber auch das Bauchgefühl kann trügen…

Wie schnell das geht, zeigt folgender Einsatz.

Feierabendfahrt

Es war ein eher ruhiger Tagdienst zusammen mit einem der „Alten“ unserer Wache, und einem völlig frischen NFS-Azubi ohne jede Vorerfahrung. Eigentlich alles total unspektakulär. Auch die letzte Fahrt des Tages schätzten wir nicht wirklich anders ein:

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: gestürzte Person, Extremitätenverletzung sonstige.

Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, ohne Sonder-/Wegerechte.

Wir blieben hierfür sogar in unserem Ort – die Einsatzstelle lag auf dem Weg zu einem ehemaligen Reiterhof.

Scene – Safety – Situation

Scene: Winter, Nachmittag, 17:00, kühl, sonnig, trocken. Wenig befahrene Straße.

Safety: Keine augenscheinlichen Gefahren.

Situation: Die Patientin sitzt ruhig auf einem Rollator am Straßenrand, Angehörige stehen neben ihr. Es wird geschildert, dass die Patientin keine Kraft mehr hatte und gestürzt ist.

Das klang jetzt auch nicht besonders gravierend. Wir vergeben die Ersteinschätzung

Ersteinschätzung

Nicht kritisch.

nicht kritisch und versuchen, den Rufgrund zu ermitteln.

Bei weiterer Schilderung wird uns erzählt, dass die Angehörigen versucht haben, ihr aufzuhelfen – dabei hatte sie sich an einem dort befindlichen Geländer des Gehwegs gehalten…und hatte sich mit den Füßen verklemmt. Okay, kann passieren.

Als die Angehörigen dann mit der Schilderung fortfuhren, kam irgendwann der Punkt

„…und dann haben wir sie mit Schwung rausgezogen…“

Erster Gedanke: Moment, was?!

„…und wir sind uns nicht sicher, ob wir ein Knacken gehört haben.“

Ich glaube tatsächlich, dass ich bei wenigen Schilderungen von Unfallhergängen derart perplex war, wie bei diesem. Gedanklich hatte ich den Einsatz schon zu den „Kuriosa aus dem Rettungsdienst“ eingeordnet.

Nachdem die Patientin auch auf gezielte Nachfrage Schmerzen verneinte, beschlossen wir, die Patientin in den nebenstehenden RTW zu verbringen und dort unser Primary Survey durchzuführen. Selbst die zwei Meter in den RTW stellten für die Patientin kein Problem dar – mit Unterstützung gelaufen, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.

Mein Kollege – der die Familie persönlich kannte – blieb draußen und klärte alles Organisatorische, während unser Azubi und ich uns an das Primary Survey machten:

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose.

B – Breathing

Atemfrequenz 16/min, keine obere Einflussstauung, Thorax stabil, Atemexkursionen regelrecht, Pulmo bds. VAG, SpO2 99 %. Keine Dyspnoe.

C – Circulation

Haut rosig, warm trocken, stehende Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse beidseits gut tastbar; Blutungsräume unauffällig, RR 140/80 mmHg. EKG: Sinusrhythmus, HF 90/min.

D – Disability

GCS 15, 4-fach orientiert, Pupille rechts > links mit verzögerter LR rechts bei bekanntem grauen Star; quick-FAST/BE-FAST unauffällig, pDMS intakt, BZ 140 mg/dl. Keine Bewusstlosigkeit.

E – Exposure/Environment

Bodycheck: Schädel stabil, Wirbelsäule nicht druck-/klopfschmerzhaft, keine sichtbaren Fehlstellungen/Krepitationen, keine erkennbaren Prellmarken oder Abschürfungen. Keine feststellbaren Bewegungseinschränkungen. Minimale Schwellung des linken oberen Sprunggelenks. Schmerzen wurden glaubhaft verneint. Temp. 36,1°C.

Es bliebt also bei

Einschätzung

Nicht kritisch.

Um ehrlich zu sein, hätte ich zu diesem Zeitpunkt auch

Einschätzung

Hat gar nix.

unterschrieben.

Nachdem wir nun schon einmal da waren und insbesondere die Angehörigen eine Röntgenkontrolle gewünscht hatten, einigten wir uns sehr pragmatisch auf ein: wir lassen den Unfallchirurgen trotzdem mal drüberschauen – wenn (wie erwartet) nichts ist, ist es ja auch schnell wieder erledigt.

Wir hatten entsprechend unserer Möglichkeiten die Patientin untersucht und nichts relevantes gefunden.

Während Azubi und Kollege sich „abreisefertig“ machten, komplettierte ich noch die Anamnese.

SAMPLER(S)

S – Symptome

Pat. klinisch praktisch beschwerdefrei, minimale Schwellung des oberen Sprunggelenks links. Keine Schmerzen.

A – Allergien

Heuschnupfen.

M – Medikamente

ASS, sonst nicht ermittelbar.

P – Vorerkrankungen

Z.n. Schlaganfall, grauer Star rechts.

L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang

Letzte orale Aufnahme: 15:00, Kaffee & Kuchen. Stuhlgang und Miktion unauffällig.

E – Ereignis

Zustand nach Sturz und „Einklemmung“ der Füße.

R – Risikofaktoren

Vorerkrankungen, Alter.

S – Schwangerschaft

Ausgeschlossen.

Ich hatte mich während der Fahrt zwar sehr nett mit der Patientin unterhalten – ich kam aber auch innerlich immer mehr zu dem Entschluss, dass sie wahrscheinlich gar nichts hat.

Schmerzen hat sie konsequent verneint, auch bei mehrfacher Nachfrage.

Aber: was soll’s – gemütliche Feierabendfahrt in unseren Grundversorger mit Chirurgie.

Und wo war jetzt das Problem?

Mein Kollege, mit dem ich Dienst hatte, schrieb mich am Folgetag über WhatsApp an…

„Du erinnerst dich an unsere Patientin, die wir in … abgeholt hatten?“

– „Ja“

„Die Dame hatte eine doppelte Sprunggelenksfraktur. Alles richtig gemacht.“

Augenscheinlich hatte der Sohn eine Rückmeldung gegeben, was tatsächlich rausgekommen ist. Und ich musste erstmal schlucken – hier hätte (oder besser gesagt, habe) ich tatsächlich eine relevante Verletzung schlicht übersehen.

Durch die Vorstellung in der Klinik hatte dies keinerlei negative Konsequenzen für die Patientin. Bedenklich ist aber: es hätte negative Konsequenzen haben können, wären wir nicht gefahren.

Fazit

Was fand ich gut?

  • Entscheidung zum Transport trotz primär nicht eindeutiger Indikation
  • Rückmeldung durch die Angehörigen

Was fand ich nicht gut?

Was ist mir wichtig? – Take-home-Message

Die vordringlichste Take-home-Message ist in gewisser Weise

„Vertraue niemanden – Dir selbst am wenigsten!“

Man muss sich tatsächlich kontinuierlich selbst hinterfragen, egal, wie gut man ist (oder man glaubt, zu sein). Niemand ist fehlerfrei, und unter den Rahmenbedingungen der präklinischen Notfallmedizin ist die Fehlerquote, auch bei schwerwiegenderen Fehlern, nie bei Null.

Es lagen hier keine sicheren Frakturzeichen vor, welche den Verdacht einer OSG-Fraktur hinreichend bestätigt hätten – selbst an unsicheren Frakturzeichen gab es lediglich eine minimalste Schwellung. Schmerzen wurden gar keine angegeben, die Patientin konnte sogar noch ein paar Schritte laufen, ohne auch nur zu Zucken.

Hier wurde zu sehr auf die Pferde geachtet – nicht auf das Zebra als Diagnose. Ein Scheitern an der Verfügbarkeitsheuristik.

So hart es klingt: ab und an muss man sich selbst die eigenen „Unzulänglichkeiten“ vor Augen führen. Ein Feedback, wie es hier dank der Angehörigen erfolgte, gibt es üblicherweise nicht.

Und das ist meines Erachtens auch ein Grund, warum viele Rettungsdienstler ihrem „professionellen Bauchgefühl“ eine derart hohe Trefferquote geben: sie merken einfach nicht, wie oft sie mit ihrer Einschätzung katastrophal daneben liegen. Wie auch? Man erfährt seltenst, was aus den eigenen Patienten wurde.

Das darf man unter keinen Umständen als Vorwurf sehen – einige Fehler wird man nie vollends im Rahmen der rettungsdienstlichen Arbeit ausschließen können. Wer allerdings das Bauchgefühl als unfehlbar ansieht, ignoriert allerdings Probleme und Risiken seines Berufs völlig.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass es sich bei den verlinkten Büchern um Affiliate-Links handelt. Es entstehen keine zusätzlichen Kosten bei der Bestellung über den Link. Eine Einflussnahme bei der Auswahl der Literatur ist dadurch nicht erfolgt. Siehe auch: Hinweise zu Affiliate-Links.

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/3SZQdcW Affiliate-Link

Faller H., Lang H. (2019): Medizinische Psychologie und Soziologie, 5. überarbeitete Auflage. Springer-Verlag Berlin. ISBN: ‎978-3-662-57971-8. DOI: 10.1007/978-3-662-57972-5. Hier erhältlich: https://amzn.to/3HzXxad Affiliate-Link

Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3QVgyqE Affiliate-Link

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 13.02.2023

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Über SaniOnTheRoad

Das Bauchgefühl kann trügen

SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.


3 Kommentare zu diesem Beitrag:

Manchmal muss man raten oder Dr, Google fragen was das z.B. der/die/das OSG ist … [Das obere Sprunggelenk (Articulatio talocruralis), kurz OSG, bildet zusammen mit dem unteren Sprunggelenk (USG) die bewegliche Verbindung zwischen Unterschenkel und Fuß. Es setzt sich aus Teilen der Tibia, der Fibula und des Talus zusammen.]

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