Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.
Der erste Eindruck kann trüben
Spätestens in der Notfallsanitäterausbildung wird man zwangsläufig irgendwann über die Wahrnehmungseffekte und ihre Folgen stolpern. Das sind zwar oft sehr theoretische Konstrukte gepaart mit viel „Straßenpsychologie“, die Relevanz ist aber dennoch immens.
Gerade der Effekt des ersten Eindrucks – der Primacy-Effekt – spielt hier oft eine entscheidende Rolle für die weitere Einsatzabwicklung.
Darunter fällt natürlich der erste klinische Blick auf den Patienten und die ersten, unbewussten Schlüsse, die man als Rettungsdienstler zieht. Aber es fängt oft schon bei der Einsatzmeldung an, die einen „ersten Eindruck“ vermittelt und genauso den Einsatzablauf beeinflusst, wie der Blick auf den Patienten selbst.
„Das kann doch nichts sein“
Ein RTW-Tagdienst auf meiner Stammwache, gemeinsam mit einem Praxisanleiter und einem NFS-Azubi im ersten Lehrjahr. Der morgen verlief erstaunlich ruhig und wir haben neben einem ausführlichen Fahrzeugcheck den morgen vorwiegend damit verbracht, etwas Theorie und Praxis für unseren Azubi zu gestalten.
Nach dem zweiten Kaffee ging dann auch unser Melder und schickte uns innerhalb unserer Kleinstadt zu einem Einsatz, der erstmal wenig „RTW-würdig“ klang.
Einsatzdaten
Einsatzmeldung: Bandscheibenbeschwerden/Lumbago, gestürzte Person; Info: Z.n. Sturz vor zwei Tagen
Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, ohne Sonder-/Wegerechte.
Die Anfahrt war dementsprechend kurz und wir alle eigentlich tiefenentspannt. Untersuchen, einladen, ab in die nächste Chirurgie – eben die sehr kleine Notfallmedizin.
Scene – Safety – Situation
Scene: Winter, Vormittag, kühl, trocken, 19:00, Mehrfamilienhaus in Kleinstadt, 3. Obergeschoss.
Safety: Keine augenscheinlichen Gefahren.
Situation: Der Bruder des 60-jährigen Patienten nimmt uns in Empfang und führt uns zu ihm. Er berichtet von einem häuslichen Sturz vor zwei Tagen, seitdem habe er Rückenschmerzen und der Zustand hat sich fortlaufend verschlechtert. Der Patient sitzt komplett nackt auf dem Bett und es riecht deutlich nach Kot und Urin.
Der erste Blick geht dann doch sehr stark in Richtung „Versorgungsproblem“. Der Patient ist wach, orientiert, hat keine wesentlichen äußeren Verletzungen und kann sich selbstständig bewegen.
Wir kommen zur Ersteinschätzung
Ersteinschätzung
Unkritisch.
Nachdem unser Patient dringend auf die Toilette muss, begleiten wir ihn dort hin und betreiben unterdessen mit dem Bruder etwas Fremdanamnese.
Unser Patient lebt wohl allein, ist seit einem Bandscheibenvorfall an der Halswirbelsäule und einer Spinalkanalstenose berufsunfähig…und er ist Alkoholabhängig. Vor zwei Tagen ist er aus ungeklärter Ursache zu Hause gestürzt und klagt seitdem über Schmerzen im LWS-Bereich sowie eine zunehmende Verschlechterung des Allgemeinzustands; daraufhin hat der Bruder den Rettungsdienst alarmiert.
Nachdem wir nach wie vor noch vor allem von einem Versorgungsproblem ausgehen, geht mein Kollege schon einmal die Trage richten und den Tragestuhl holen.
Unser Azubi und ich bleiben in der Wohnung und starten in das Primary Survey, als unser Patient aus dem Bad zurück ist. Und dann beginnt sich das Blatt zu wenden…
xABCDE
x – Exsanguination
Keine starke äußere Blutung.
A – Airway
Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, blass, keine Zyanose. Zunge belegt, kein Zungenbiss.
B – Breathing
Atemfrequenz 30/min, keine obere Einflussstauung, Thorax stabil, Atemexkursionen regelrecht, Pulmo bds. vesikuläres AG, SpO2 80 % bei schlechter Ableitung. Kein pathologisches Atemmuster.
C – Circulation
Haut blass, kühl, trocken, stehende Hautfalten; Rekapillarisierungszeit > 2 Sekunden, periphere Pulse nicht tastbar, zentrale Pulse mäßig gut tastbar, HF 130/min; Abdomen weich, nicht druckdolent. Becken und Oberschenkel ohne erkennbare Verletzung und stabil. RR auskultatorisch nicht messbar, oszillometrische Messung 80/50 mmHg. EKG: Sinustachykardie, ohne Ischämiezeichen.
D – Disability
GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen isokor, mittelgroß, prompte LR. quick-FAST unauffällig, pDMS intakt, Kraftgrad 5/5 an allen Extremitäten. BZ 178 mg/dl.
E – Exposure/Environment
Deutliche Schmerzangabe im Nieren-/LWS-Bereich (NRS 8), diverse ältere Hämatome an Abdomen und Extremitäten, Schädel stabil, Wirbelsäule druckschmerzhaft im LWS-Bereich. Temp 36,4°C.
Wir revidieren unsere Ersteinschätzung und stimmen überein:
Einschätzung
Kritisch.
Wir entschließen uns zur Notarztnachforderung – und zur Nachforderung der Feuerwehr, da bei dem gegebenen Zustand ein sitzender Transport kaum ratsam (und aufgrund der Platzverhältnisse im Treppenhaus nur schwer möglich ist).
Der Patient erhält von uns 15 l/min Sauerstoff über eine Sauerstoffmaske sowie zwei i.v.-Zugänge (18 G und 20 G) sowie erstmal einen Volumenbolus mit dem Ziel einer permissiven Hypotension. Zwischenzeitlich vervollständigen wir unser Monitoring und unsere Anamnese.
SAMPLER(S)
S – Symptome
Z.n. Sturz, Schmerzangabe im LWS-Bereich, Onset nach dem Sturzereignis, Verstärkung durch Bewegung, stechend, keine Ausstrahlung, NRS 8, keine Änderung im Verlauf. Aktuell zusätzlich Diarrhoe, Appetitlosigkeit.
A – Allergien
Keine.
M – Medikamente
Rivaroxaban 20 mg, L-Thyroxin 125 µg, Pregabalin, Methocarbamol 750 mg, Ibuprofen 600 mg, Vitamin D3.
P – Vorerkrankungen
Z.n. Bandscheibenprolaps, Spinalkanalstenose, Hypothyreose, Z.n. Thrombose.
L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang
Nahrungsaufnahme vor zwei Tage, getrunken am morgen (Cola, wurde erbrochen), derzeit Diarrhoe. Miktion unauffällig.
E – Ereignis
Z.n. Sturz mit nachfolgender Zustandsverschlechterung.
R – Risikofaktoren
Alter, Vorerkrankungen, C2-Abusus, Antikoagulation,
S – Schwangerschaft
Ausgeschlossen.
Bis zum Eintreffen des Notarztes machen wir uns an die Differentialdiagnostik und das „Trichtern„: wir sind uns einig, dass unser Patient im Schock ist – nur was ist die Ursache?
An einen neurogenen Schock denkt man infolge des Sturzes und durch die Rückenschmerzen zuerst – nachdem aber keinerlei Querschnitts- oder sonstige neurologische Ausfallsymptomatik besteht, streichen wir diesen aus dem Trichter.
Ein kardiogener Schock infolge eines unerkannten Myokardinfarkts wäre ebenfalls denkbar, wird beim Fehlen von Ischämiezeichen im EKG allerdings auch gestrichten. Anaphylaxie, Sepsis oder ein obstruktiver Schock? Fehlanzeige.
Bleibt letztendlich nur ein hypovolämischer Schock – entweder aufgrund der fehlenden Flüssigkeitsaufnahme, oder einer inneren Blutung.
Der Hubschraubernotarzt trifft ein und erhält durch meinen Kollegen eine Übergabe, während der HEMS und ich gemeinsam mit der Feuerwehr einen Plan schmieden, wie wir den Patienten aus der Wohnung bekommen.
Über die Drehleiter funktioniert aufgrund der zu kleinen Fenster nicht, für Spineboard, Schaufeltrage und Vakuummatratze ist der Platz im Treppenhaus zu gering – also muss es das Tragetuch mit Unterstützung durch die Feuerwehr werden.
Der Notarzt entscheidet sich für eine Hämoglobin-Bestimmung vor Ort (ja, es gibt tatsächlich Blutzuckermessgeräte, die den Hb-Wert mitbestimmen) und eine Ultraschalluntersuchung mittels eFAST. Auch wenn keine freie Flüssigkeit im Ultraschall darstellbar ist, hat unser Patient lediglich einen Hb von 4,8 g/dl – normal wäre ein Wert von über 12 g/dl – und wir gehen dementsprechend von einem hämorrhagischen Schock aufgrund einer inneren Blutung aus.
Der Patient erhält Sufentanil zur Analgesie für den Transport und wird mittels Tragetuch in den RTW verbracht.
Angesichts des kritischen Patientenzustands entscheidet sich der Notarzt für einen bodengebundenen Transport gegenüber dem im RTH – und so machen wir uns auf den Weg in den Schockraum des nächsten Maximalversorgers.
Was ist hier passiert?
Wir hatten hier sogar die Möglichkeit einer Besprechung mit dem Klinikpersonal nach der Erstversorgung im Schockraum und dem CT.
Ergebnis: unser Patient hatte eine stabile Fraktur eines Brustwirbelkörpers, in der Sonographie ließ sich hier ebenfalls keine freie Flüssigkeit darstellen, der Hb-Wert in der Blutgasanalyse lag nun (nach der Volumensubstitution) bei 4,1 g/dl.
Im Endeffekt ist die Klinik von einer gastrointestinalen Blutung ausgegangen und hat den Patienten auf die Intensivstation aufgenommen.
Was spricht dafür? Ein deutlicher, akuter Hämoglobin-Abfall spricht praktisch immer für einen Blutverlust – nachdem unser Patient sowohl Rivaroxaban als Antikoagulanz erhalten hat, als auch relativ hoch dosiertes Ibuprofen ohne „Magenschutz“ als auch eine Alkoholabhängigkeit aufwies, sprechen auch die Risikofaktoren hierfür.
Eine gastrointestinale Blutung muss nicht immer hoch eindrücklich mit Bluterbrechen oder Teerstuhl einhergehen.
Fazit
Was fand ich gut?
- Gutes CRM und gute Ressourcennutzung – sowohl bei den nachgeforderten Kräften als auch innerhalb der RTW-Besatzung
- Erweiterte Diagnostik – Sonographie und Hb-Messung waren hier sinnvolle Ergänzungen zum Eingrenzen des Problems
- Erkennen und Korrigieren des anfänglichen Fixierungsfehlers
Was fand ich nicht gut?
- es kam zu einem erheblichen Fixierungsfehler – der kritische Patientenzustand wurde erst relativ spät erkannt
Neutral
- Prioritätensetzung – der Wirbelsäulenimmobilisation wurde hier kein großer Stellenwert beigemessen; angesichts der Transportpriorität mag das legitim, aber nicht optimal sein
Was ist mir wichtig? – Take-home-Message
Was können wir aus diesem Einsatz mitnehmen? Wohl vor allem, dass niemand vor Fixierungsfehlern gefeit ist und man sich dieses Risiko immer wieder vor Augen führen muss.
Eine strukturierte Untersuchung und Einsatzabarbeitung, wie sie in diesem Fall erfolgt ist, ist zum Erkennen und zum Vermeiden von Fixierungsfehlern unerlässlich. Dementsprechend sollte man sich nicht auf den „ersten Eindruck“ verlassen, sondern Entscheidungen fundiert und strukturiert treffen sowie regelmäßig reevaluieren.
Einsatzbedingungen können natürlich suboptimal sein und man wird in der Realität selten ein „Lehrbuchfallbeispiel“ vorfinden. Vielleicht wäre das Ergebnis anders gewesen, wenn der Patient zuerst strukturiert untersucht worden wäre, bevor er auf die Toilette gegangen ist. Vielleicht wäre das Ergebnis anders gewesen, wenn man ebenerdig und mit viel Platz hätte arbeiten können.
Man muss Entscheidungen und Prioritäten dynamisch setzen – und man darf sich keineswegs zu fein sein, um suboptimale Entscheidungen zu korrigieren.
Siehe auch
Interessenkonflikte
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Quellen
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Dönitz S., Flake F. (2015): Mensch Körper Krankheit für den Rettungsdienst, 1. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3-437-46201-6. Aktuelle Auflage (4. Auflage, 2022) hier erhältlich: https://amzn.to/41bEM5G Affiliate-Link
Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3q8w62I Affiliate-Link
NAEMT (2020): Prehospital Trauma Life Support – Kurshandbuch Deutsche Ausgabe, 9. Edition. Jones and Bartlett Publishers, Inc. ISBN 978-1-284-19862-1. Hier erhältlich: https://amzn.to/3fDcfTN Affiliate-Link
SaniOnTheRoad (2022): Kommunikation im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kommunikation-im-rettungsdienst/ am 16.02.2024
SaniOnTheRoad (2022): CRM im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/crm-im-rettungsdienst/ am 16.02.2024
SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 16.02.2024
Scholz J., Gräsner J.-T., Bohn A. (2019): Referenz Notfallmedizin. Georg Thieme Verlag KG. ISBN 978-3-13-241290-3. DOI: 10.1055/b-006-149615. Hier erhältlich: https://amzn.to/3uhENtA Affiliate-Link
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