Fragen an einen Rettungsdienstler IV

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Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Unbegründete Einsätze und was dazu gehört…

Wie häufig sind „unbegründete Einsätze“?

Ich finde, man muss auch bei den „unbegründeten Einsätzen“ differenzieren – also eine Unterscheidung zwischen einem mehr oder minder bewusst in Kauf genommenen Fehleinsatz und die Einsätze, wo der Gedankengang des Anrufers nachvollziehbar ist, die Lage sich aber augenscheinlich weniger schlimm als angenommen darstellt.

Bewusste Fehlanrufe – wenn also „nichts“ oder allenfalls ein mit gesunden Menschenverstand allein gut handelbares Problem vorliegt – sind meiner Erfahrung nach eher selten und stellen dann doch eine Ausnahme dar. Vorkommen tut es allerdings.

Die Kategorie „doch nur halb so schlimm“ macht da schon wesentlich mehr Einsätze aus. Es liegt hier ein – durchaus auch behandlungsbedürftiges – medizinisches Problem vor, dass allerdings augenscheinlich unter der Rettungsdienstschwelle liegt. Also Behandlung ja, Rettungsdienstindikation nein. Und das ist gar nicht mal so selten – in meinem Falle kann das auch mal Dreiviertel der Einsätze an einem Tag sein, mit etwa 3 – 4 Fahrten pro Schicht.

Wie kommt es dazu?

Ein multifaktorielles Geschehen 😉 – könnte man sagen.

Ein großer Punkt dabei ist einfach die Gesundheitskompetenz – also die Fähigkeit, in Hinblick auf die eigene Gesundheit sinnvolle Entscheidungen zu treffen.

Es fehlt in der breiten Masse der Gesellschaft oft einfach schon ein Basiswissen zu Gesundheitsthemen, was eine fehlende Entscheidungsgrundlage hervorruft. Und selbst wenn eine Entscheidungsgrundlage besteht, fehlt dann meist der Entscheidungswille. Man könnte hier auch sagen: die Menschen haben Angst vor Entscheidungen – und Angst davor, mit den Konsequenzen der eigenen Entscheidung zu leben.

Entscheiden soll dann bitte jemand anders: und das ist dann oft der Rettungsdienst.

Warum?

Wenn man sich nie mit dem Thema „Gesundheit“ oder eben auch „Krankheit“ auseinandersetzt, wird man im Fall der Fälle schlichtweg diese Beschäftigung nicht nachholen. Man will Hilfe. Und das zeitnah. Und niedrigschwellig.

Zum Hausarzt muss man ja hinfahren und oft sogar einen Termin vereinbaren, der ärztliche Bereitschaftsdienst lässt einen ja auch mal länger als zwei Minuten in der Warteschleife – nur der Rettungsdienst, der kommt. Zeitnah.

Das Anspruchsdenken hat sich doch deutlich verändert, es ist teils beträchtlich gestiegen. Ja, für manch einen ist es tatsächlich unzumutbar, nach drei Wochen Rückenschmerzen zwei Stunden zu warten und zum Hausarzt zu gehen.

Und die Alarmierung des Rettungsdienstes wird bisweilen mit einer unfassbaren Selbstverständlichkeit begründet:

„Ich habe doch ein Problem!“

Stimmt das Mantra „Lieber einmal zu viel, als einmal zu wenig“ noch?

Wenn wir uns die ursprüngliche Bedeutung vor Augen führen – nämlich die Unklarheit bei „akuter Lebensgefahr oder nicht“ – dann kann man das auch heute noch so unterschreiben.

Die Aussage hat allerdings einen erheblichen Bedeutungswandel in den letzten Jahren und Jahrzehnten durchgemacht.

Statt der Lebensgefahr ist nun scheinbar die Frage „überhaupt behandlungsbedürftig oder nicht?“ an die Stelle getreten. Das ist nicht Sinn und Zweck des Rettungsdienstes. Und da muss man sagen: in dem Falle sollte die Aussage einfach unterbleiben.

Wie ein erheblich dienstälterer Kollege mal sagte

„Früher mussten wir den Leuten sagen, dass sie anrufen sollen – heute müssen wir ihnen sagen, dass sie es nicht sollen.

Unterm Strich stimmt die Aussage immer noch, wenn man sie präzisiert – nämlich akute oder drohende Lebensgefahr oder die Gefahr schwerer gesundheitlicher Schäden anstelle von allgemeinmedizinischen Problemen.

Stören dich ungerechtfertige Einsätze? Sind sie ein Problem?

Ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass mich ungerechtfertigte Einsätze nicht stören. Das geht mir genauso wie den allermeisten Kollegen.

„Dafür habe ich nicht drei Jahre gelernt“

Der Knackpunkt ist ja, dass ein Großteil der ungerechtfertigten Einsätze – also medizinische Probleme ohne Rettungsdienstindikation – einfach vermeidbar wären. Beispielsweise, in dem bei nicht lebensbedrohlichen Problemen einfach der Hausarzt aufgesucht wird und nicht gewartet wird, bis „es gar nicht mehr geht“. Oder durch eine halbe Minute logisches Nachdenken.

Eigentlich ist das sogar so einfach, dass man es mit einem maximal simplen Flussdiagramm darstellen kann:

© 2022 SaniOnTheRoad. Quelle: eigenes Werk – Beitrag „Welche Notrufnummer ist die richtige?„.

Und ärgerlich ist es vor allem, dass es trotz allem nicht funktioniert. Eine leitsymptombasierte Ersteinschätzung wäre ein erster Ansatz.

Zweiter Punkt des Ärgers ist eigentlich genau die zweite Teilfrage: ja, ungerechtfertigte Einsätze können zum Problem werden.

Führend ist da vor allem, dass sie Zeit fordern und Personal wie Equipment binden – man steht letzten Endes ja nicht zur Verfügung, obwohl man keine hochtrabende Notfallmedizin betreibt (für die man eigentlich gedacht ist).

Ich fahre z.B. in einem Flächenlandkreis – Landrettung par excellence. Ist „unser“ RTW unterwegs, braucht der nächste RTW 15 Minuten. Mindestens. Dass hier das „unnötige“ Blockieren durch Einsätze, die schlichtweg kein Tätigwerden des Rettungsdienstes erfordern würden, unmittelbar riesengroße Lücken in der notfallmedizinischen Versorgung hinterlässt, ist da wenig verwunderlich.

Von der reinen Einsatztaktik weg sind diese Einsätze allerdings auch schlichtweg…ermüdend. Es ist ermüdend, zum fünften Mal am Tag den Patienten die Aufgaben des Rettungsdienstes und das Vorhandensein von Allgemeinmedizinern (oder des ärztlichen Bereitschaftsdienstes) zu erklären. Mit etwas mehr Zynismus:

„Man stumpft weitaus mehr durch die Stumpfsinnigkeit vieler Einsätze ab, als durch belastende oder anstrengende Notfalleinsätze.“

Und darin sehe ich auch ein Problem.

Hilft Aufklärung dagegen?

Ja – und nein.

Erfahrungsgemäß hilft die Aufklärung durchaus dabei, unnötige Einsätze zu vermeiden und den Patienten an eine geeignete Stelle zur Lösung des Problems zu verweisen. Aber nicht immer. Und die Aufklärung ist selten im Voraus möglich – sie erfolgt durch den Rettungsdienst nämlich erst dann, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.

Am Ende müsste man hier andere Stellen deutlich mehr einbinden – zum Beispiel die niedergelassenen Fachärzte und Kliniken.

Das Problem an einer Aufklärung der „breiten Masse“ ist simpel: diejenigen, die sie am meisten bräuchten, erreicht man kaum bis gar nicht.

Was müsste sich zukünftig ändern?

Letztendlich sehe ich hier zwei Ansatzpunkte, die man auch durchaus gemeinsam nutzen kann.

Der erste Punkt wäre der gesellschaftliche Ansatz. Man muss hier versuchen, die Zahl der „unnötigen Notrufe“ durch die breite Bevölkerung an sich zu reduzieren. Sprich: ein edukativer Ansatz.

Hier soll möglichst simpel und eine möglichst große Gruppe angesprochen werden und die wichtigsten Fragen einfach erklärt werden:

  • Was ist ein Notfall?
  • Wann ist der Rettungsdienst die richtige Anlaufstelle?
  • Wann ist der Hausarzt oder der ärztliche Bereitschaftsdienst Mittel der Wahl?
  • Wann sollte man sich einfach selbst in der Notaufnahme vorstellen?

Das Ganze ließe sich natürlich auch mit den Grundlagen der Ersten Hilfe hervorragend verbinden. Dieser Ansatz würde am ehesten an der „Wurzel“ des Problems ansetzen – die Ersthelfer und Betroffenen sollen schon grob selbst vorab entscheiden, wohin die Reise geht. Und zwar im besten Fall richtig.

Der zweite Punkt wäre der systemorientierte Ansatz – also letztendlich die korrekte und sinnvolle Weiterleitung an die passende Versorgungseinrichtung durch Fachpersonal. Die Speerspitze bei einem solchen Vorgehen wäre schlicht und ergreifend die integrierte Leitstelle – die in diesem Falle auch den ärztlichen Bereitschaftsdienst (mit)koordiniert.

Mit einer sinnvoll strukturierten Abfrage können dringende Akutfälle durchaus von allgemeinmedizinischen Problemen differenziert und passend weitergeleitet werden. Ergänzen kann man das bisweilen auch durch eine telemedizinische Beratung durch einen Arzt – so macht es zum Beispiel der französische Rettungsdienst und vermeidet damit einen erheblichen Teil an Einsätzen, die hierzulande zu einem Rettungsdiensteinsatz werden.

Gleichzeitig muss man auch festhalten, dass schlicht und ergreifend mehr in die „Nicht-Notfallversorgung“ im ambulanten Bereich investiert werden muss. Der ärztliche Bereitschaftsdienst muss zweifellos ausgebaut werden, um einerseits Anfragen zeitnah beantworten zu können, andererseits um auch innerhalb einer angemessenen Zeit Hausbesuche durchführen zu können – das ist eine Grundvoraussetzung, um eine echte „Alternative“ für viele Anrufer darstellen zu können.

Ansonsten bleibt auch einfach der Blick auf die hausärztliche Versorgung: es braucht schlichtweg mehr Allgemeinmediziner, gerade in der Fläche. Langfristig wird es ohne „mehr Studienplätze“ nicht gehen; und hier muss die Tätigkeit als niedergelassener Allgemeinmediziner, auch auf dem platten Land, schlichtweg attraktiver gestaltet werden.

Konzepte wie der Gemeindenotfallsanitäter sollten meines Erachtens das System nur bedingt ergänzen – es führt die derzeit eigentlich sehr klar definierte Aufgabenstellung des Rettungsdienstes ad absurdum. Ein „Fahr‘ mal gucken“-Fahrzeug ist letztendlich die Arragierung mit einem nicht funktionierenden System.

Ihr habt noch Fragen?

Stellt sie mir!

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

SaniOnTheRoad (2022): Themenübersicht „EH-Basics“, abgerufen unter https://saniontheroad.com/eh-basics/ am 11.06.2022

SaniOnTheRoad (2022): Welche Notrufnummer ist die richtige?, abgerufen unter https://saniontheroad.com/notrufnummern/ am 11.06.2022

SaniOnTheRoad (2022): DocCheck: Personalkosten, Digitalisierung und Versorgungsengpässe, abgerufen unter https://saniontheroad.com/doccheck-personalkosten-digitalisierung-und-versorgungsengpaesse/ am 11.06.2022

SaniOnTheRoad (2021): Die Sache mit der Gesundheitskompetenz, abgerufen unter https://saniontheroad.com/die-sache-mit-der-gesundheitskompetenz/ am 11.06.2022

SaniOnTheRoad (2020): Der ärztliche Bereitschaftsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/der-arztliche-bereitschaftsdienst/ am 11.06.2022

SaniOnTheRoad (2019): Leitsymptombasierte Patienteneinschätzung durch Ersthelfer, abgerufen unter https://saniontheroad.com/leitsymptombasierte-patienteneinschatzung-durch-ersthelfer/ am 11.06.2022

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Über SaniOnTheRoad

Fragen an einen Rettungsdienstler IV

SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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