Die Sache mit der Gesundheitskompetenz

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Photo by Miguel u00c1. Padriu00f1u00e1n on Pexels.com

Ich liebe den Begriff „Gesundheitskompetenz“ – ein total hochtrabender, wichtig klingender Begriff für eine (eigentlich) ganz unspektakuläre Sache: Die Fähigkeit, auf einem medizinischen Basiswissen sinnvolle Entscheidungen in Bezug auf die eigene Gesundheit zu treffen.

So unspektakulär meine Definition davon klingt, so wichtig ist diese Kompetenz bei unseren Patienten. Auffallen tut sie dann, wenn es daran mangelt. Und das ist erfahrungsgemäß gar nicht so selten.

Ein

„Hat der Patient denn gar keine Ahnung?!“

ist eigentlich nichts anderes als die Frage nach der Gesundheitskompetenz – nur in anklagend und als rhetorische Frage verpackt.

Bei nicht wenigen Einsätzen stellt man nach der Einschätzung fest: kein Fall für den Rettungsdienst – das Wissen und die Fähigkeiten des Patienten für die jeweilige Situation sind eher das Problem. Und einen solchen Fall möchte ich euch nicht vorenthalten.

Warum denn gerade jetzt?

RTW-Nachtschicht – die Nacht war anstrengend und viel Schlaf hatten wir nicht bekommen. Als der Melder ging, war es fünf Uhr morgens, fünfter Einsatz für die Nacht. Und ich wurde erst einmal unsanft aus dem „Tiefschlaf“ gerissen.

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: Hypertensive Entgleisung

Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, ohne Sonder-/Wegerechte.


Es geht in das Nachbardorf. Knappe 10 Minuten Anfahrt. Beim „geistigen Aufwachen“ während der Anfahrt stelle ich mir die Frage, wie man auf die Idee kommt, sich um diese Uhrzeit den Blutdruck zu messen…

Scene – Safety – Situation

Scene: Herbst, morgen, 5:00 Uhr, kalt, neblig, Einfamilienhaus, ländliche Gegend.

Safety: keine augenscheinlichen Gefahren.

Situation: Patientin, Anfang 50, öffnet die Tür. Sie gibt an, die Nacht über aufgrund von Unruhe nicht geschlafen zu haben, nun würde der Blutdruck deutlich ansteigen, bis auf über 190 mmHg systolisch.

Die Patientin ist augenscheinlich wach und orientiert, in der Lage, ohne Probleme die Tür zu öffnen und sich sinnvoll zu artikulieren. Auffallen tut lediglich, dass sie einen unruhigen und „gehetzten“ Eindruck macht.

Wir kommen zu der Ersteinschätzung

Ersteinschätzung

Nicht kritisch.

und räumen uns damit etwas mehr Zeit für unsere Untersuchungsgänge ein. Im Wohnzimmer angekommen geht es dann in unser Primary Survey.

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose.

B – Breathing

Atemfrequenz 18/min, Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits vesikuläres Atemgeräusch, keine Halsvenenstauung, keine Dyspnoe. SpO2 100 %.

C – Circulation

Haut rosig, warm, trocken, keine stehenden Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse guttastbar, rhythmisch, normofrequent; Abdomen weich, keine Abwehrspannung; keine Schmerzangabe im Becken, Oberschenkel stabil, RR 150/80 mmHg bei Eintreffen RD. Keine Angina pectoris.

D – Disability

GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen isokor, mittelweit, prompte Lichtreaktion; FAST & pDMS unauffällig, BZ 99 mg/dl.

E – Exposure/Environment

Bodycheck unauffällig, keine Verletzungen, keine Beinödeme. Temp. 37,0°C.

Wir können feststellen, dass wir nichts feststellen können. Primär kein akutes Buchstabenproblem, lediglich die unterschwellige Agitiertheit. Mein „Co“ und ich teilen uns in die weitere Diagnostik und die Anamnese auf.

Einschätzung

Nicht kritisch.

Während mein Teampartner das 12-Kanal-EKG klebt, gehe ich in die Anamnese.

SAMPLER(S)

S – Symptome

Unwohlsein, Agitiertheit, anamnestisch hypertensive Entgleisung als Alarmierungsgrund.

A – Allergien

Keine.

M – Medikamente

Enalapril, Simvastatin.

P – Vorerkrankungen

Arterielle Hypertonie, Hyperlipidämie, Z.n. Appendektomie vor über 10 Jahren.

L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang

Abendessen 20:00 Uhr, Wasserlassen problemlos, letzter Stuhlgang gestern morgen (unauffällig).

E – Ereignis

Die Patientin spürte eine innere Unruhe, konnte nicht schlafen, hat daraufhin am morgen mehrmals in kurzen Abständen den Blutdruck gemessen, welcher immer mehr angestiegen war.

R – Risikofaktoren

Mäßige Adipositas.

S – Schwangerschaft

Ausgeschlossen.

In Kombination mit dem EKG, welches einen normofrequenten Sinusrhythmus ohne Ischämiezeichen zeigt, einigen wir uns im Team: das Problem ist nicht unbedingt ein medizinisches.

Schon unsere Kontrollmessung nach der Anamnese ergab nunmehr einen vollkommen akzeptablen Blutdruck von 130/80 mmHg – für eine Hypertonikerin gut und im individuellen Normalbereich.

Ein wenig…gestört hat mich allerdings das fortlaufende Hinweisen auf die eigene Messung, trotz vollkommen unauffälliger Befunde durch uns. Dementsprechend bestand unsere Patientin darauf, nochmal mit ihrem Gerät nachzumessen, welches sie im Verlauf der Untersuchung kaum aus der Hand legen wollte.

Ich nutzte die Chance. Gleichzeitiges Nachmessen am anderen Arm – und schon beim Tasten des Radialispulses war deutlich: wir sind wieder höher. So war es auch, wieder bei 150 mmHg systolisch. Gute Nachricht: ein Trigger haben wir schon mal gefunden.

Die Zeit – und die notgedrungene Wachheit – nutzen wir für eine Sozialanamnese. Und diese sollte uns direkt den zweiten Trigger liefern.

Unsere Patientin ist alleinstehend, der Ehemann vor einem Jahr verstorben, Kinder sind aus dem Haus, sie ist arbeitstätig, soziale Kontakte und Schutzfaktoren sind eher spärlich vorhanden.

Eine hohe Arbeitsbelastung gibt es – was ihre Antwort auf die Frage „Was belastet sie derzeit?“ ist. Zudem hat sie große Angst vor einem Herzinfarkt, da ihr Ehemann daran verstorben sei. So langsam schließt sich der Kreis – Stress, daraufhin Unruhe, dadurch Schlaflosigkeit, in Kombination eine Steigerung der Hypertonie, exzessives Messen, mehr Stress/mehr Angst, noch höhere Blutdruckwerte.

Klinisch zeigte sich die Patientin nach den ersten zehn Minuten völlig beschwerdefrei, der Blutdruck war nun wieder bei 130/80 mmHg.

Tja, und auf das exzessive Blutdruckmessen angesprochen: der Hausarzt habe gemeint, sie solle den Blutdruck kontrollieren – das verwendete Messgerät sei zuverlässig.

Okay, kein Problem. Nach ein paar weiteren Sätzen war allerdings deutlich, dass der Hausarzt weder auf die Häufigkeit, noch auf die Bedeutung der Blutdruckwerte und Einflussfaktoren hingewiesen hat. Eine „Alarmschwelle“ oder Maßnahmen bei einer hypertensiven Entgleisung wurden nicht besprochen – was auch den Umgang mit Gerät und Werten durchaus erklärt. Eine leider nicht adäquate Patientenschulung.

Ich beschränkte mich an dieser Stelle auf eine allgemeine Beratung und das Problem des exzessiven Blutdruckmessens in ihrem Fall – mitsamt der Empfehlung, in zwei Stunden zum Hausarzt zu gehen und eben diese Probleme anzusprechen.

Eine Vorstellung in der Klinik wurde von unserer mittlerweile symptomfreien Patientin abgelehnt – Aufklärung, Transportverweigerung, Dokumentation, Abfahrt.

Weißkittelhypertonie und Praxisnormotonie

Höhere Blutdruckwerte beim Arzt kennen recht viele Menschen als „Weißkittelhypertonie“ – allerdings gibt es mit der Praxisnormotonie auch das Gegenteil: niedrigere Blutdruckwerte bei professioneller Messung.

Hierbei besteht das Risiko, dass Hypertoniker nicht als solche erkannt werden – schließlich sind die Werte beim Doc stets im grünen Bereich.

Einen analogen Effekt kann man hier auch vermuten. Die Patientin fühlte sich im Rahmen der Betreuung wesentlich sicherer und entspannter, das Stresslevel sinkt, damit auch der Blutdruck. Ziel ist es hierbei, die Unsicherheit auch für einen längeren Zeitraum zu nehmen.

Fazit

Was fand ich gut?

  • Zeit nehmen – auch wenn die Patientin aus medizinischer Sicht keinen Notfall dargestellt hat, hat sie die Zeit bekommen, die sie benötigt, eben mit dem Fokus auf Betreuung und Beratung
  • Teampartner – ein Teampartner, der in solchen Situationen mitzieht ist Gold wert

Was fand ich nicht gut?

  • Gesundheitskompetenz der Patientin – trotz bekannter Grunderkrankung bestanden augenscheinliche Defizite im Grundwissen zum Umgang damit
  • mangelnde Patientenedukation – eine adäquate Patientenschulung durch den Hausarzt fand nicht statt

Was ist mir wichtig? – Take-home-Message

Es ist bei den „Gesundheitskompetenz-Einsätzen“ so ein wenig wie bei den psychosozialen Notfällen: eigentlich ist der Rettungsdienst nicht zuständig, bei einer schlechten Arbeit machen wir uns aber langfristig selbst Probleme: wir basteln uns zukünftige Fehleinsätze selbst.

Der große Haken an der Gesundheitskompetenz ist der: eine Basis muss vermittelt werden – Angebote und Informationen rund um die Gesundheit gibt es ja zuhauf, nur muss der Patient diese erst einmal kennen und bewerten können. Ohne ein gewisses Grundwissen funktioniert weder eine eigenständige gesundheitliche Entscheidungs-, noch Handlungskompetenz.

Deshalb ist auch die Patientenedukation eine zentrale Maßnahme – der Patient wird so gut und so umfassend aufgeklärt, dass er sich sinnvoll eigenständig weiter informieren kann und sinnvoll handeln kann.

Informationsangebote können noch so zahlreich, noch so niederschwellig, noch so gut aufbereitet sein, wie sie wollen – um genutzt zu werden und genutzt werden zu können steht am Anfang erst einmal die Beratung.

Es ist falsch, dem Patienten Vorwürfe zu machen, und es ist falsch, sich auf diese Menschen nicht einzulassen – wenn andere Stellen bei der Patientenedukation keine gute Arbeit geleistet haben, liegt es (zumindest moralisch und im eigenen Interesse) durchaus auch am Rettungsdienst, diese Aufgabe zumindest im Rahmen der Möglichkeiten zu übernehmen und an die zuständigen Stellen zu verweisen.

Ich finde es massiv schade, dass es immer noch sehr viele Kollegen gibt, die Beratungsaufgaben nicht als Teil des Rettungsdienstes sehen und bei der Arbeit lediglich zwischen „Ins Krankenhaus fahren oder nicht“ unterscheiden. Bringt dem Patienten nichts, und bringt uns langfristig nichts.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

SaniOnTheRoad (2020): Psychosoziale Notfälle im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/psychosoziale-notfalle-im-rettungsdienst/ am 03.02.2022

Folgt meinem Blog!

Du möchtest nichts mehr verpassen? Neuigkeiten von mir gibt es auch per Mail!

Es gelten unsere Datenschutz– und Nutzungsbestimmungen.

Wie fandest Du diesen Beitrag?

Klicke auf die Sterne um zu bewerten!

Durchschnittliche Bewertung 0 / 5. Anzahl Bewertungen: 0

Bisher keine Bewertungen! Sei der Erste, der diesen Beitrag bewertet.

Es tut uns leid, dass der Beitrag für dich nicht hilfreich war!

Lasse uns diesen Beitrag verbessern!

Wie können wir diesen Beitrag verbessern?


Über SaniOnTheRoad

Die Sache mit der Gesundheitskompetenz

SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.


6 Kommentare zu diesem Beitrag:

Sehr interessanter Bericht. Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie unaufgeklärt manche Patienten über ihren eigenen Zustand sind. Aber natürlich sind auch die Ärzte nicht ganz unbeteiligt an dieser Situation, da viele die Patienten „durchschleusen“. Diese unschöne Erfahrung habe ich auch schon gemacht.
Danke!

Hier zeigt sich das Grundproblem, dass eine patientengerechte Beratung – auch in präventiver Hinsicht – nicht angemessen honoriert wird und dementsprechend oft zu kurz kommt.
Dazu gehört meines Erachtens nicht nur die grundsätzliche Aufklärung über das „Problem“ an sich, sondern gerade auch auf mögliche Risiken, Folgen und Verhaltensweisen – und nachfolgend auch die Vermittlung weitergehender Informationsquellen.
Das in Teilen zu übernehmen, ist eigentlich nicht ureigenste Aufgabe des Rettungsdienstes. Machen wir es in diesen Fällen jedoch nicht, macht es wahrscheinlich niemand.

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.