Hui, das war knapp!

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

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Tagdienst, Außenwache, Wochenende – es gibt manche Kombinationen, die für viel Zeit oder wahlweise auch viel Langeweile sprechen. Bei solchen Diensten drängt es sich fast schon auf, sich „Arbeit“ mitzunehmen und sich um die Sachen zu kümmern, für die auf der Hauptwache wenig Zeit und Zuhause wenig Lust bleibt.

Das funktioniert teilweise auch richtig gut – aber nicht immer.

Heute ist es ein Tagdienst mit einem unserer „Senior-Rettungssanitäter“. Mein „Co“ ist bereits über 15 Jahre im Hauptamt dabei und nochmal so lange ehrenamtlich…und wahrscheinlich einer der kompetentesten RS, die wir haben.

Nach Fahrzeugcheck und dringend notwendiger Außenreinigung des RTW wollen wir erstmal in den gemütlichen Teil übergehen. Doch soweit sollte es gar nicht erst kommen. Der Melder ertönt. Klar, der RTW ist ja gerade erst sauber…

Was uns wohl erwartet?

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: kein Abfrageergebnis möglich.

Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, mit Sonder-/Wegerechten. Polizei folgt.


Tja, die Einsatzmeldung gab nicht allzu viel her. Kurz nach dem Alarm kam dann der Anruf der Leitstelle: eine Person sei Schlangenlinien gefahren, habe mehrere Leitpfosten umgefahren und wurde von anderen Autofahrern gestoppt, sie sei neurologisch auffällig.

Schlaganfall? Intoxikation? Oder doch etwas ganz anderes? Wir stellen uns vorab mal darauf ein, dass wir uns auf nichts einstellen können.

Scene – Safety – Situation

Scene: Winter, morgen, 9 Uhr, kalt, trocken, Bundesstraße.

Safety: Verkehrsabsicherung durch Ersthelfer, Stelle ist für den Verkehr gut einsehbar. Weitergehende Absicherung mittels Blaulicht, Warnblinker, Heckwarneinrichtung.

Situation: ein Fahrzeug steht entgegen der Fahrtrichtung komplett auf der Gegenfahrbahn, auf der Anfahrt waren tatsächlich einige Leitpfosten umgefahren. Die Ersthelfer berichten vom Fahren in Schlangenlinien, der Patient (ca. 65 Jahre) sei nur bedingt ansprechbar.

Ein Blick auf den Patienten zeigt, dass dieser tatsächlich deutlich bewusstseinsgemindert ist und gar nicht auf Ansprache und inadäquat auf Schmerzreiz reagiert. Die Ersteinschätzung lautete dementsprechend

Ersteinschätzung

Kritisch.

Wir entschlossen uns aufgrund der mangelnden Zugänglichkeit im PKW und der Bewusstseinsminderung für eine „Crashrettung“ mittels Rautek-Griff direkt auf die Trage. Im RTW gingen wir ins Primary Survey.

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose.

B – Breathing

Atemfrequenz 20/min, Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits leichte Spastik, keine Halsvenenstauung. SpO2 94 %.

C – Circulation

Haut rosig, warm, massiv schweißig, keine stehenden Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse mäßig tastbar, rhythmisch, normofrequent; Abdomen weich, keine Abwehrspannung; keine Schmerzangabe im Becken, Oberschenkel stabil, RR 110/70 mmHg bei Eintreffen RD. Keine Angina pectoris. EKG: Sinusrhythmus ohne Ischämiezeichen.

D – Disability

GCS 9, Orientierung nicht überprüfbar, Pupillen isokor, mittelweit, prompte Lichtreaktion; FAST & pDMS nicht durchführbar, BZ 27 mg/dl.

E – Exposure/Environment

Bodycheck sonst unauffällig, keine Verletzungen, keine Beinödeme, keine Insulinpumpen. Temp. 35,9°C.

Tja, das Problem war offensichtlich: der Patient ist massiv hypoglykäm – was sich auch in das Gesamtbild einfügt.

Einschätzung

Kritisch.

Mein Kollege fragt „Notarzt?“ – ich verzichte zunächst darauf und wir einigen uns zügig, dass wir den Notarzt bei ausbleibender Besserung nach Ausgleich der Hypoglykämie nachfordern und dann ein Rendezvous machen.

Während mein Kollege das Monitoring komplettiert und die Absaugbereitschaft herstellt, lege ich einen i.v.-Zugang am Unterarm und bereite die Glucose vor. Die Lagekontrolle mittels Aspiration über den 3-Wege-Hahn und NaCl-Bolus gelingt problemlos, und der Patient erhält die dringend notwendige Glucose; einmal 8 g direkt i.v. zur parallel laufenden Infusion und nochmals 8 g als Infusionszusatz.

Die zwischenzeitlich eingetroffene Polizei hat die weitere Absicherung des Verkehrs übernommen und kam zu uns in den RTW.

Der Patient klarte zügig auf – und fuchtelte erstmal so wild rum, dass ich Angst hatte, dass der Zugang disloziert. Also: Infusion abgedreht, die Polizei hielt ihn fest, bis der „Spuk“ nach einer Minute vorbei war. Erneute Lagekontrolle, alles prima, die Infusion läuft weiter.

Wir reevalulieren den Zustand – mittlerweile ist der Patient bei einer GCS von 15 und vierfach orientiert, BE-FAST und pDMS sind unauffällig, der BZ bei 130 mg/dl. Kein weiteres Buchstabenproblem, kein Notarzt mehr erforderlich.

Während die Polizei die Formalien und den Verbleib des Fahrzeugs klärt, gehe ich in die SAMPLER-Anamnese.

SAMPLER(S)

S – Symptome

Bewusstseinsminderung, Hypoglykämie.

A – Allergien

Keine.

M – Medikamente

ASS, Ramipril, Formoterol, Metformin, Insulin glargin (Lantus, heute morgen 18 Einheiten).

P – Vorerkrankungen

Arterielle Hypertonie, KHK, COPD, insulinpflichtiger Diabetes mellitus Typ 2.

L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang

Letzte Mahlzeit gestern abend, letztes Trinken heute morgen (Kaffee), Wasserlassen problemlos, letzter Stuhlgang heute morgen (unauffällig).

E – Ereignis

Patient war einkaufen, hatte Langzeit-Insulin gespritzt und noch nichts gegessen; Hypoglykämie infolge eines Ess-Spritz-Fehlers.

R – Risikofaktoren

Alter, Vorerkrankungen.

S – Schwangerschaft

Ausgeschlossen.

Auch wenn das „Problem“ ein relativ einfaches war: allen Beteiligten war klar, dass das hätte gänzlich anders ausgehen können – eine Bundesstraße mit 100 km/h zulässiger Höchstgeschwindigkeit, eine Bewusstseinstrübung und ein Fahrzeug mitten auf der Gegenfahrbahn sind ein Russisch-Roulette-Spiel.

Der Patient – obwohl langjähriger Diabetiker – hatte bisher kaum Hypoglykämien und kannte die Symptome schlichtweg nicht. Diese, in dem Falle gefährliche, Fehldeutung ist ein völlig anderes Beispiel der fehlenden Gesundheitskompetenz.

Die Polizei konnte die Ehefrau des Patienten erreichen, welche sich um das Auto kümmert, und wir verbrachten den Patienten in die nächstgelegene Innere.

Der strafrechtlich relevante Diabetes mellitus

Die Polizei sah die Sache – auch nach der Schilderung des Betroffenen selbst – wenig entspannt. Er ist ein Fahrzeug gefahren, obwohl er körperlich nicht dazu in der Lage war, und hat ein erhebliches Risiko für sich und für andere dargestellt.

Es blieb in diesem Fall – Gott sei dank – nur bei einem geringen Sachschaden.

Analog zu Alkohol, Drogen oder Medikamenten gilt auch bei körperlichen Erkrankungen: wer nicht in der Lage ist, sein Fahrzeug sicher zu führen, macht sich strafbar.

§ 315c StGB – Gefährdung des Straßenverkehrs

(1) Wer im Straßenverkehr

1.ein Fahrzeug führt, obwohl er

a) infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel oder

b) infolge geistiger oder körperlicher Mängel

nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen […]

und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. […]

(3) Wer in den Fällen des Absatzes 1

  1. die Gefahr fahrlässig verursacht oder
  2. fahrlässig handelt und die Gefahr fahrlässig verursacht,wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Insbesondere Diabetiker müssen die Gefahren einer Hypoglykämie erkennen und entsprechend handeln – sonst droht nicht nur eigene Lebensgefahr, sondern auch eine Gefährdung Dritter neben strafrechtlichen Konsequenzen.

Fazit

Was fand ich gut?

  • zügige und beherzte Reaktion der Ersthelfer und gute Absicherung vor Eintreffen des Rettungsdienstes – das war die Grundlage, weshalb hier gravierende Folgen verhindert wurden. An dieser Stelle ein großes Danke!
  • saubere, strukturierte Abarbeitung des Einsatzes, gute Kommunikation und gute Vorausplanung – und in diesem Fall der daraus resultierende Verzicht auf den Notarzt

Was fand ich nicht gut?

  • Fixierung des Zugangs – die initiale „Verwirrtheit“ beim Aufwachen und die damit verbundene Gefahr der Dislokation des venösen Zugangs hätte eine umfassendere Fixierung (z.B. mittels Kohäsivbinde) notwendig gemacht

Was ist mir wichtig? – Take-home-Message

Für den Rettungsdienst: Einsätze im Straßenverkehr sind immer heikel – Bundesstraßen sind, je nach Ausbauzustand und örtlicher Gegebenheit, ein absolutes Risikoumfeld, wenn der Verkehr noch rollt. Eine ordentliche Absicherung ist in Bezug auf den Eigenschutz das A und O.

Wenn die Polizei nicht ohnehin schon mitalarmiert wird und euch die Sache zu heikel erscheint: nachfordern – und das auch ruhig niedrigschwellig!

Das Thema Notarztnachforderung ist eine Sache – die einen bevorzugen eine „Reflexalarmierung“ beim kritischen Patienten, die anderen fordern dann nach, wenn es nach einem Gesamtüberblick und Einschätzung des eigenen Könnens geboten erscheint. Ich gehöre (mit Ausnahmen) zur letzteren Gruppe.

Man muss sich in diesem Fall allerdings seiner eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten bewusst sein und diese kritisch hinterfragen – und man braucht einen Teampartner, der „mitziehen“ kann. Wenn man sich seiner Sache sicher ist, die Situation sicher (!) unter Kontrolle hat und die lokalen Algorithmen es hergeben, kann man durchaus die Nachforderung nach das Primary Survey verschieben.

Bei Zweifeln, Unsicherheiten, Auffälligkeiten oder schlichten Unstimmigkeiten gilt der CRM-Leitsatz: fordere Hilfe an – lieber früh als spät! Sonst tappt man sehr leicht in einen Einsatz, der schief geht.

Für Patienten: auch bei der Volkskrankheit Diabetes muss man sich unbedingt mit der Erkrankung und den damit verbundenen Gefahren auseinandersetzen – auch, wenn „ja noch nie etwas passiert ist„. Ess-Spritz-Fehler, wie in diesem Fall, kommen bei insulinpflichtigen Diabetikern relativ häufig vor – diese muss man möglichst präventiv vermeiden und, falls sie auftreten, diese Erkennen und richtig handeln.

Praktisch für alle chronischen Krankheiten gilt: bevor man ins Auto steigt, sollte man sich fragen: Bin ich im Moment wirklich dazu in der Lage? Zu dem Thema gibt es die ursprünglich aus der Fliegerei stammende Merkhilfe „I’M SAFE„, wozu Die Zwei in Reflexstreifen einen schönen Beitrag geliefert haben.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

Bundesamt für Justiz (2022): Strafgesetzbuch (StGB) – § 315c Gefährdung des Straßenverkehrs, abgerufen unter https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__315c.html am 24.01.2022

SaniOnTheRoad (2021): Die Sache mit der Gesundheitskompetenz, abgerufen unter https://saniontheroad.com/die-sache-mit-der-gesundheitskompetenz/ am 05.02.2021

SaniOnTheRoad (2020): Warum gehen Einsätze schief?, abgerufen unter https://saniontheroad.com/warum-gehen-einsatze-schief/ am 05.02.2021

Krieger P. (2022): I’M SAFE, Die Zwei in Reflexstreifen, abgerufen unter https://die-zwei-in-reflexstreifen.blog/2022/01/20/imsafe/ am 24.01.2022

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Über SaniOnTheRoad

Hui, das war knapp!

SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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