Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.
Triggerwarnung
Die Beschreibung wird teilweise sehr bildlich – und blutig.
Nach der Ausbildung geht das Lernen erst richtig los
Der erste Dienst als NotSan ist einfach etwas besonderes: die durchaus anstrengenden Prüfungen hinter einem, die neue Verantwortung und Herausforderungen vor einem. Umso schöner fand ich es, dass ich bei einer unserer ehemaligen Azubis der Teampartner für den ersten Dienst nach der Ausbildung ausgewählt wurde.
Ein RTW-Tagdienst auf einer Außenwache und damit dann doch relativ auf sich allein gestellt. Nachdem meine Kollegin sich gewünscht hat, für den Dienst „Beifahrerin“ zu spielen, kam ich in den Genuss, den ganzen Tag Chaffeur zu sein.
Bis zum späten Nachmittag – und bis dato nur einem Einsatz – war es auch tatsächlich ruhig geblieben. Das sollte sich dann allerdings ändern…
Einsatzdaten
Einsatzmeldung: Gastrointestinale Blutung, Erbrechen, schlechter Allgemeinzustand. Info: Bluterbrechen, das Blut würde aus den Augen laufen.
Alarmierte Fahrzeuge: RTW, mit Sonder-/Wegerechte.
Die Einsatzmeldung verhieß auf jedenfall schon mal nichts Gutes – und lässt wie immer die Frage offen, ob sie zutrifft oder um Welten übertrieben ist. Die Anfahrt dauerte keine zehn Minuten und führte uns in ein Pflegeheim im angrenzenden Leitstellenbereich.
Die Anfahrt hatten wir bereits für eine kurze Strategiebesprechung genutzt.
Scene – Safety – Situation
Scene: Sommer, Nachmittag, 16:00, Pflegeheim in benachbarten Leitstellenbereich.
Safety: Keine augenscheinlichen Gefahren.
Situation: Wir werden vom Pflegepersonal an der Tür in Empfang genommen und in das Zimmer der Patientin (80 Jahre) geführt, welche mit einer komplett blutverschmierten Mundpartie im Bett saß. Das Pflegepersonal gibt an, dass seit zwei Stunden Nasenbluten besteht, welches nicht kontrolliert werden konnte; die Patientin hatte zwischenzeitlich mehrfach Blut erbrochen (im Zimmer ersichtlich).
Wir treffen die Ersteinschätzung
Ersteinschätzung
Kritisch.
und starten – mehr oder weniger – in das Primary Survey:
xABCDE
x – Exsanguination
Anhaltendes, starkes Nasenbluten; Kompression der Nasenflügel als Erstmaßnahme
A – Airway
Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, blass, keine Zyanose, kein Zungenbiss. Blut im Mundraum erkennbar.
B – Breathing
Atemfrequenz ~ 20/min, keine obere Einflussstauung, Thorax stabil, Atemexkursionen regelrecht, Pulmo bds. VAG, SpO2 90 %, keine Dyspnie.
C – Circulation
Haut blass, kaltschweißig, stehende Hautfalten; Rekapillarisierungszeit > 2 Sekunden, periphere Pulse bds. schlecht tastbar, zentrale Pulse mäßig gut tastbar, HF 110/min; Abdomen weich, nicht druckdolent. Blutungsräume unauffällig. RR 90/50 mmHg. EKG: Sinustachykardie.
D – Disability
GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen isokor, mittelgroß, prompte LR. quick-FAST unauffällig, pDMS intakt, BZ 343 mg/dl.
E – Exposure/Environment
Anhaltendes Nasenbluten aus beiden Nasenlöchern, kein vorausgegangenes Trauma. Temp. 37,0°C.
Es bleibt bei einem
Einschätzung
Kritisch.
Warum mehr oder weniger Primary Survey? Naja – fairerweise hat das Bild meine Kollegin doch so aus dem Konzept gebracht, dass die Punkte irgendwie nach und nach abgehakt wurden. Ein Primary Survey in diesem Sinne war es nicht.
Ein strukturiertes Vorgehen hätte durchaus auch das Risiko eines Fixierungsfehlers minimieren können: sie hat nämlich mehrfach nach Ösophagusvarizen und Leberzirrhose gefragt…obwohl das Blut augenscheinlich aus der Nase lief.
Den Begriff der „Tamponade“ hat das Pflegepersonal wohl sehr wörtlich genommen: sie haben tatsächlich versucht, die Blutung mit handelsüblichen Tampons zu stoppen.
Wir entschieden uns hier für eine Transportpriorität und die weitere Versorgung im RTW, zwischen Tür und Angel wurde dann noch die Anamnese erhoben:
SAMPLER(S)
S – Symptome
Spontaner Onset des Nasenblutens vor zwei Stunden, keine Blutungsstillung durch Basismaßnahmen oder Tamponade möglich, Bluterbrechen, Schocksymptomatik.
A – Allergien
Keine bekannt.
M – Medikamente
Apixaban, Clopidogrel, Metformin, Bisoprolol, Candesartan, Torasemid, Salbutamol bei Bedarf.
P – Vorerkrankungen
aHT, KHK, pAVK mit Z.n. Stenting, NIDDM Typ 2, Herzinsuffizienz, Asthma bronchiale.
L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang
Mittagessen, 12:00. Stuhlgang und Miktion unauffällig.
E – Ereignis
Aus der Ruhe heraus/kein erkennbarer Auslöser.
R – Risikofaktoren
Alter, Antikoagulation, Adipositas.
S – Schwangerschaft
Ausgeschlossen.
Zunächst wollten wir dann den zügig entwickelten Plan A umsetzen: Basismaßnahmen mit Kompression der Nasenflügel und Kühlkompresse im Nacken, i.v.-Zugang und zügige Reise solo in die örtliche Klinik zur Erstversorgung umsetzen. Meine Kollegin übernimmt die Voranmeldung, ich den Zugang.
Wie alle schönen Pläne wurde auch dieser Plan nichts: der Blutdruck ist zwischenzeitlich auf 70/40 mmHg abgefallen, die Blutung konnte immer noch nicht kontrolliert werden, und die örtliche Klinik hat uns bei der telefonischen Voranmeldung abgelehnt.
Also, Plan B: Notarztnachforderung, i.v.-Zugang, Volumenbolus, Transport in den nächsten Maximalversorger in die HNO. Gesagt, getan. Mit dem i.v.-Zugang (17 G), dem beständigen Wechsel der durchgebluteten Kompressen und einer Sauerstofftherapie bei abfallender Sättigung (15 l/min über Maske, nur durch Vorhalten möglich) war die Zeit bis zum Eintreffen des Notarztes auch gut überbrückt.
Kurze Übergabe, dann entsprechend die Entscheidung zum zügigen Transport. Und kurz danach nochmal anhalten und auf das NEF warten – der eingetroffene Notarzt hatte sich dazu entschieden, doch lieber das Videolaryngoskop mit in den RTW zu nehmen.
Während dem Transport lag der Fokus weiterhin auf eher grundlegenden Dingen – es wurde mittels Otriven-Nasentropfen (relativ erfolglos) versucht, die Blutung zu vermindern, was dazu führte, dass während der halben Stunde Fahrzeit der Notarzt und meine Kollegin abwechselnd die Nasenflügel komprimieren mussten. Zumindest die Volumentherapie zeigte Wirkung und wir konnten den Zielblutdruck der permissiven Hypotension erreichen.
In der Klinik
Nach einer relativ langen, aber unspektakulären Fahrt ging es nach der Übergabe in der HNO-Klinik weiter. Nachdem diese – als Maximalversorger – in der Ambulanz über kein funktionierendes Pulsoxymeter verfügten, wurden wir darum gebeten, die Untersuchung (die ohnehin auf unserer Trage stattfand), doch bitte noch abzuwarten.
Die diensthabende HNO-Ärztin hat großzügig die Nase abgesaugt…bis sie dazu übergegangen ist, mehrere fingerdicke und mehrere Zentimeter lange Blutkoagel nach und nach aus der Nase zu ziehen, um die Blutungsquelle irgendwie lokalisieren zu können. Die Suche dauerte trotz allem mehrere Minuten, bis eine Stelle verödet wurde – und es immer noch unklar war, ob es die einzige war.
Der eine Schluck Wasser, den die Patientin erhalten hatte, führte prompt zum erneuten Erbrechen einmal über die Trage und den Boden der HNO-Ambulanz…sehr zur Freude der beiden (in erster Linie nur anwesenden) studentischen Hilfskräfte.
Noch wesentlich beeindruckender stelle sich während der Untersuchung heraus: ein Großteil der Nasenscheidewand der Patienten war atrophiert – man konnte bequem vom rechten Nasenloch in den linken Nasengang schauen – was den mangelnden Erfolg der Blutungskontrolle neben der Antikoagulation und Thrombozytenaggregationshemmung durchaus erklärt.
Finale Übergabe an die Überwachungsstation der HNO, Aufräumen – und der Weg Richtung Feierabend.
Fazit
Was fand ich gut?
- zügige Entscheidungsfindung und Reevaluation der Situation
- sinnvolle Aufgabenteilung – auch dadurch möglich, dass zwei NFS vor Ort waren
- gute Zusammenarbeit mit dem Notarzt und der aufnehmenden Klinik
Was fand ich nicht gut?
- kein strukturiertes Arbeiten – auch wenn es mehr als angebracht gewesen wäre
- weitergehende Maßnahmen (z.B. Gabe von Tranexamsäure) wurden nicht angesprochen
Was ist mir wichtig? – Take-home-Message
Bei diesem Einsatz können wir durchaus bequem mehrere Take-home-Messages formulieren…
Die vielleicht augenscheinlichste Take-home-Message betrifft das Mantra „Nach der Ausbildung geht das Lernen erst richtig los“ – auch nach einer dreijährigen Ausbildung sollte man nicht dem Irrglauben erliegen, alles problemlos managen zu können. Man wird notgedrungen an die eigenen Grenzen stoßen und vor neuen Problemen stehen, die man nicht kennt. Die Lernkurve im ersten halben Jahr nach der Ausbildung ist definitiv nochmal richtig steil.
Umso wichtiger finde ich es, seitens der Wachenleitung/dem Dienstplanmanagement darauf zu achten, den frischgebackenen NotSans auch erstmal erfahrenere Kollegen auf’s Auto zu setzen, damit sie in ihre Rolle hereinwachsen können. Und umso wichtiger finde ich es, dass die „alten Hasen“ die jungen Notfallsanitäter auch entsprechend unterstützen.
Eine weitere Take-home-Message betrifft das Ausbildungs-Dilemma: man lernt in der NFS-Ausbildung unzählige Dinge – aber Grundprinzipien, die die Basis für die Entscheidungsfindung in neuen, ungewohnten Situationen darstellen, bleiben zu oft auf der Strecke. Trotz vielem Lernen und viel Training wird an der eigentlichen Kernkompentenz des Notfallsanitäters vorbei gelehrt.
Last, but not least mein übliches Mantra: strukturiertes Arbeiten – gerade dann, wenn es hektisch wird, gerade dann, wenn man doch einen kritischen Patienten hat. Hier hat sich meine Kollegin einfach selbst das Leben unnötig schwer gemacht.
Interessenkonflikte
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Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Quellen
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Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/4aQsX9p Affiliate-Link
Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3q8w62I Affiliate-Link
SaniOnTheRoad (2024): Das Ausbildungs-Dilemma, abgerufen unter https://saniontheroad.com/das-ausbildungs-dilemma/ am 06.09.2024
SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 04.09.2024
Scholz J., Gräsner J.-T., Bohn A. (2019): Referenz Notfallmedizin. Georg Thieme Verlag KG. ISBN 978-3-13-241290-3. DOI: 10.1055/b-006-149615. Hier erhältlich: https://amzn.to/3uhENtA Affiliate-Link
viamedici (2024): Nasenbluten (Stand 13.01.2024). Lernmodul in viamedici.thieme.de. ©2024 Georg Thieme Verlag KG. Abgerufen unter https://viamedici.thieme.de/lernmodul/8726991/4915475/nasenbluten am 04.09.2024
Ziegenfuß T. (2022): Notfallmedizin, 8. Auflage. Springer-Verlag Berlin/Heidelberg. ISBN 978-3-662-46891-3. DOI 10.1007/978-3-662-46892-0. Hier erhältlich: https://amzn.to/3uNocxX Affiliate-Link
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