Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.
Der häufigste Einsatzklassiker – oder doch nicht?
An manchen Tagen kann man sich wirklich nichts schöneres vorstellen, als im Rettungsdienst zu arbeiten. Strahlender Sonnenschein, angenehme Kollegen, rund laufende Einsätze mit netten und dankbaren Patienten, keine Langeweile, aber auch nicht zu viel zu tun.
Wir hatten diesen Tag bislang stressfrei verbracht, alle Tagesaufgaben erledigt, in Ruhe zu Mittag gegessen, die „Anstandsfahrten“ erledigt und eigentlich dabei, die Nachmittagssonne zu genießen.
Bis der Melder die Idylle dann doch stört…
Einsatzdaten
Einsatzmeldung: Akutes Koronarsyndrom.
Alarmierte Fahrzeuge: RTW + NEF, mit Sonder-/Wegerechten.
Viel Zeit zur Vorbereitung blieb nicht – der Einsatzort war quasi „um die Ecke“. Zudem würden wir alleine nicht viel schaffen, das NEF war ebenfalls auf der Wache und der Notarzt wird wohl zwei Minuten nach uns zur Türe hereintreten.
Wir stellen uns – entsprechend unserer Einsatzmeldung – mal auf ein Standardprogramm ein. Komplettes Monitoring, 12-Kanal-EKG, Zugang, ASS und Heparin und Reise Richtung Herzkatheter
Scene – Safety – Situation
Scene: Frühjahr, Nachmittag, 15:30 Uhr, kühl, trocken, sonnig, Mehrfamilienhaus.
Safety: keine augenscheinlichen Gefahren.
Situation: wir werden von einer Nachbarin in Empfang genommen und zu unserem Patienten (Ende 50) in die Kellerwohnung geführt, wo dieser auf dem Bett liegt. Der Patient ist blass, klagt über deutliche Palpitationen und retrosternale Brustschmerzen.
Wir entscheiden uns für ein
Ersteinschätzung
Kritisch.
und gehen tatsächlich mal davon aus, dass unsere Einsatzmeldung der Wahrheit entspricht. Mein Kollege schließt das Pulsoximeter an, während ich ins Primary Survey einsteigen will. Mit einem
„Sättigung 94 %, peripherer Puls über 200/min“
werde ich erstmal aus meinem gedanklichen Standardprogramm gerissen. Doch kein Infarkt? Oder mehrere Baustellen?
Während sich mein Kollege prompt ans Monitoring macht und die Defi-Patches aufklebt, gehe ich zügig das Primary Survey durch.
xABCDE
x – Exsanguination
Keine starke äußere Blutung.
A – Airway
Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose.
B – Breathing
Atemfrequenz 25/min, Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits vesikuläres Atemgeräusch, keine Halsvenenstauung, leichte Ruhedyspnoe. SpO2 94 %.
C – Circulation
Haut blass, warm, schweißig, keine stehenden Hautfalten; Rekapillarisierungszeit > 2 Sekunden, periphere Pulse nicht tastbar; Abdomen weich, keine Abwehrspannung; keine Schmerzangabe im Becken, Oberschenkel stabil, RR initial nicht messbar. Angina pectoris-Beschwerden. EKG: regelmäßige Breitkomplextachykardie.
D – Disability
GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen isokor, mittelweit, prompte Lichtreaktion; quick-FAST unauffällig, pDMS intakt, BZ 130 mg/dl.
E – Exposure/Environment
Retrosternales Brennen, NRS 4 – 5, ohne Ausstrahlung, keine Änderung im zeitlichen Verlauf, Bodycheck unauffällig, keine Verletzungen, keine Beinödeme. Temp. 36,2°C.
Ohne Umschweife – wir denken an unsere SHIT-Kriterien – kommen wir zu der Einschätzung
Einschätzung
Kritisch.
Viel weiter sollten wir dann auch nicht kommen – unser Notarzt tritt herein, erhält eine kurze Übergabe, übernimmt den i.v.-Zugang bei eher schwierigen Venenverhältnissen, während wir den Patienten mit 15 l/min Sauerstoff erstmal großzügig präoxygenieren und Amiodaron, ASS und Heparin richten.
Die Anamnese läuft parallel dazu.
SAMPLER(S)
S – Symptome
Akut einsetzender, brennender retrosternaler Thoraxschmerz ohne Ausstrahlung, Palpitationen. Onset 30 Minuten vor Alarmierung.
A – Allergien
Keine.
M – Medikamente
Candesartan.
P – Vorerkrankungen
Arterielle Hypertonie, fragliche KHK.
L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang
Letzte Mahlzeit heute Mittag, letztes Trinken heute Mittag (Wasser), Wasserlassen problemlos, letzter Stuhlgang heute morgen (unauffällig).
E – Ereignis
Plötzlich einsetzende Beschwerden aus der Ruhe heraus.
R – Risikofaktoren
Vorerkrankungen, Nikotinabusus.
S – Schwangerschaft
Ausgeschlossen.
Das EKG möchte ich euch an dieser Stelle nicht vorenthalten 😉
Der Plan: treat first, what kills first!
Das bedeutet in diesem Falle schlichtweg 300 mg Amiodaron i.v. – unser Notarzt entscheidet sich gegen die Gabe als Kurzinfusion und zieht die titrierte Gabe als i.v.-Bolus vor. Mit Erfolg.
Aus der regelmäßigen Breitkomplextachykardie mit Frequenzen über 180/min wird letztendlich eine Schmalkomplextachykardie ~ 150/min, die Beschwerden des Patienten lassen deutlich nach. Nachdem auch jetzt die Beurteilung des EKG immer noch aufgrund der Frequenz schwierig ist, gibt es noch einen Beta-Blocker on-top. Und nach 5 mg Metoprolol i.v. haben wir dann auch tatsächlich die Konversion in den Sinusrhythmus.
Nachdem das erste 12-Kanal-EKG danach doch diverse ST-Streckenveränderungen – in diesem Falle ST-Streckensenkungen in mehreren Ableitungen zeigte, entschied sich unser Notarzt für das ACS als Ursache und der Patient erhielt, wie ursprünglich geplant, 250 mg ASS i.v. und 5.000 I.E. Heparin i.v..
Mit dem Tragestuhl ging es schließlich in den RTW, die beiden EKGs wurden an das aufnehmende Krankenhaus gesendet und die Reise ging mit unserem zwischenzeitlich beschwerdefreien und kreislaufstabilen Patienten in Notarztbegleitung in den nächsten Maximalversorger.
Kleine Trivia: während des Transports haben wir noch ein weiteres 12-Kanal-EKG zur Verlaufskontrolle geschrieben. Ergebnis: normofrequenter Sinusrhythmus ohne Ischämiezeichen. Die ST-Senkungen waren wohl die Folge der maximal hohen Herzarbeit und der kurzen diastolischen Füllungsphase; quasi ein spontanes Belastungs-EKG.
Schnell und breit ist selten gut
Regelmäßige Breitkomplextachykardien (als beschreibende Diagnose) müssen bis zum sicheren Beweis eines Gegenteils als akut lebensbedrohliche Herzrhythmusstörung angesehen werden.
Im Grunde genommen gibt es als genaue Diagnose letztendlich die Varianten
- Ventrikuläre Tachykardie (VT) oder
- Supraventrikuläre Tachykardie (SVT) mit Schenkelblock oder aberranter Leitung.
Die wesentlich bedrohlichere VT macht dabei aber, abhängig von der Quelle, 90 % der Breitkomplextachykardien aus.
Nachdem eine differenzierte Unterscheidung in der Akutsituation kaum möglich ist (auch wenn es entsprechende Schemata gibt, z.B. die Brugada-Kriterien), werden leitlinienkonform alle unklaren regelmäßigen Breitkomplextachykardien analog zur VT behandelt.
Fazit
Was fand ich gut?
- klare Prioritätensetzung durch das Team bzw. durch den Notarzt – „Treat first, what kills first“
- leitlinienkonforme Rhythmustherapie
- Verlaufskontrolle – es ist nicht nur der Erstbefund entscheidend, sondern auch die Entwicklung des Patienten im Verlauf
Was fand ich nicht gut?
- Differentialdiagnostik – nach der Rhythmustherapie und dem dem ersten „verwertbaren“ 12-Kanal-EKG wurde sich sehr schnell auf das ACS eingeschossen, andere „Big Five“ wurden nicht weiter abgeklärt; hier besteht das Risiko gefährlicher Fixierungsfehler
- Reanimationsbereitschaft – auch wenn die Defi-Patches geklebt wurden, wurde die Reanimationsbereitschaft nicht vollends hergestellt
Was ist mir wichtig? – Take-home-Message
Instabile Tachykardien sind meist sehr eindrückliche Einsätze, bei denen die Patienten von stabil zu reanimationspflichtig innerhalb von Sekunden umschlagen können.
Ein zügiges, strukturiertes Arbeiten, eine klare Prioritätensetzung und eine komplette Reanimationsbereitschaft sind das A und O. Viel Zeit zum „spielen“ bleibt hier meistens nicht. Gerade, wenn man die Ursachen nicht genau differenzieren kann – hier die VT von einer SVT – gilt „Im Zweifelsfall für das Schlimmere“, was statistisch hier auch das häufigere wäre.
Nichtsdestotrotz muss man auch hier Fixierungsfehler vermeiden und eine saubere Differentialdiagnostik an den Tag legen, wenn die akute Lebensgefahr abgewendet ist.
Ich kann nur jedem raten: seht euch die Leitlinien an! In diesem Falle braucht es keine hochdifferenzierte Leitlinie aus der Klinik, die allenfalls mit Fantasie auf das präklinische Setting angewendet werden kann – die instabile Tachykardie findet man als Teil des Advanced Life Support in den ERC-Guidelines (und den DBRD-Musteralgorithmen).
EKG ist für viele Kolleginnen und Kollegen ein richtiges „Hassthema“ – die Grundlagen muss man allerdings im Schlaf beherrschen. Und wenn man „EKG kann“, macht EKG auch Spaß – wie bei vielen Dingen ist es hier vor allem Struktur und Routine, die Sicherheit im Umgang mit dem EKG bringen.
Interessenkonflikte
Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Quellen
Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/3I9E1Ap
Deutscher Berufsverband Rettungsdienst e.V. (2022): Musteralgorithmen 2022 zur Umsetzung des Pyramidenprozesses im Rahmen des NotSanG, Version 7.0, abgerufen unter https://dbrd.de/images/algorithmen/DBRGAlgo1221_Web1.pdf am 08.03.2022
Deutscher Rat für Wiederbelebung (2021): Reanimation 2021 – Leitlinien kompakt, abgerufen unter https://www.grc-org.de/files/ShopProducts/download/Leitlinien%20kompakt_08.11.2021.pdf am 08.03.2022
Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3s8KEh5
SaniOnTheRoad (2020): Ist der Patient instabil? SHIT!, abgerufen unter https://saniontheroad.com/ist-der-patient-instabil-shit/ am 08.03.2022
SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 16: EKG-Basics II, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-16/ am 08.03.2022
SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 13: EKG-Basics, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-13/ am 08.03.2022
Trappe H.-J., Schuster H.-P. (2020): EKG-Kurs für Isabel, 8. aktualisierte Auflage. Georg Thieme Verlag, Stuttgart/New York. ISBN 978-3-13-220030-2. DOI: 10.1055/b000000429. Hier erhältlich: https://amzn.to/3BDwqrH
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