Einsätze, die einen fuchsen

photo of man touching his head

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Ernsthaft?

Im Rettungsdienst erlebt man durchaus viele Dinge, die wirklich im Trash-TV nicht besser dargestellt werden könnten. Die unbewusste Suche nach der versteckten Kamera kann man sich doch nicht immer verkneifen.

Die Frage

„Ernsthaft?“

ploppt in manchen Situationen wirklich unweigerlich im Kopf eines Rettungsdienstlers auf. Und – da bin ich absolut ehrlich – manchmal verhindert wirklich nur eine exzellente Erziehung und grenzenlose Frustrationstoleranz das zu sagen, was man in dieser Situation wirklich denkt.

Oft handelt es sich hierbei um klassische Bagatelleinsätze – so auch in diesem Fall, der meine Kollegen und mich zum Zweifeln an der Menschheit gebracht hat.

„War das nicht richtig?“

Ein NEF-Nachtdienst ist meist doch ein Garant für eine halbwegs ruhige Nacht und tendenziell berechtigte Einsätze. Gerade dann, wenn man mit dem dienstältesten Notarzt unterwegs ist, kann man doch meist recht entspannt an den Dienst rangehen: selbst wenn etwas dramatisches passiert, wird es laufen.

Es sollte auch nur einen einzigen Einsatz in der Nacht geben: kurz nach Mitternacht geht der Melder.

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: Akute Atemnot.

Alarmierte Fahrzeuge: RTW + NEF, mit Sonder-/Wegerechten.

Wir rücken zusammen mit einem RTW einer unserer Außenwachen aus – wir haben etwas über 15 Minuten Anfahrt, der RTW etwa 5 Minuten. Wir können also guten Gewissens davon ausgehen, dass so ziemlich alles erledigt ist, bis wir eintreffen.

Akute Atemnot…sagt alles und nichts. Ob es nun ein Asthmaanfall, eine exazerbierte COPD, eine Anaphylaxie, eine Aspiration oder eine Pneumonie ist – im Zweifelsfall geht man bei diesem Stichwort mal davon aus, dass tatsächlich ein potentiell lebensbedrohlicher Zustand vorliegt.

In einer kurzen Besprechung mit unserem Notarzt auf der Anfahrt kommen wir überein, dass wir es höchstwahrscheinlich mit einem Infekt zu tun haben – die übliche Frühjahrs-Krankheitswelle würde schon mal passen.

Vor Ort stellt sich die Situation dann doch etwas anders dar, als gedacht…

Scene – Safety – Situation

Scene: Frühling, Nacht, 1:00, kühl, trocken, Einfamilienhaus in ländlicher Gegend.

Safety: Keine augenscheinlichen Gefahren.

Situation: Übergabe durch die RTW-Besatzung; Alarmierung erfolgte durch Ehefrau des Patienten (70 Jahre), welcher seit zwei Tagen über Halsschmerzen und eine verstopfte Nase („kriege keine Luft durch die Nase“) klagt und deshalb nicht schlafen könne.

Wir treffen die Ersteinschätzung

Ersteinschätzung

Nicht kritisch.

und von der „akuten Atemnot“ gibt es bei dem entspannt auf einem Stuhl in der Küche sitzenden Patienten wirklich nicht die leiseste Spur. Eigentlich hatte hier der Ersteindruck und die Übergabe des RTW schon ziemlich gut festgelegt, wie der Einsatz weitergehen sollte…

Ich mache mich an meine Sekretärsarbeit, während wir nochmal alles durchkauen:

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose. Kein Zungenbiss. Rachen leicht gerötet

B – Breathing

Atemfrequenz 16/min, keine obere Einflussstauung, Thorax stabil, Atemexkursionen regelrecht, Pulmo bds. VAG, SpO2 97 % unter Raumluft.

C – Circulation

Haut rosig, warm, trocken, stehende Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse bds. gut tastbar, HF 80/min; Abdomen weich, nicht druckdolent. Blutungsräume unauffällig. RR 140/70 mmHg. EKG: Sinusrhythmus, ohne Ischämiezeichen.

D – Disability

GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen isokor, mittelgroß, prompte LR. quick-FAST unauffällig, pDMS intakt. BZ 90 mg/dl.

E – Exposure/Environment

Halsschmerzen, NRS 3-4, verstopfte Nase/Schnupfen. Bodycheck unauffällig, kein vorausgegangenes Trauma. SIRS & qSOFA negativ. Temp. 37,6°C.

Eigentlich hätte man schon an diesem Punkt entspannt sagen können: grippaler Infekt, vielleicht mit einer Pharyngitis.

Es bleibt augenscheinlich bei einem

Einschätzung

Nicht kritisch.

und auch die parallel durch unseren Notarzt erhobene SAMPLER(S)-Anamnese bestätigt den Verdacht:

SAMPLER(S)

S – Symptome

Seit zwei Tagen anhaltende Symptomatik eines grippalen Infekts mit subfebriler Temperatur, bisher nicht hausärztlich abgeklärt.

A – Allergien

Keine bekannt.

M – Medikamente

Candesartan, Atorvastatin.

P – Vorerkrankungen

aHT, Hypercholesterinämie.

L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang

Abendessen, 18:00. Stuhlgang und Miktion unauffällig.

E – Ereignis

Kein Akutereignis, Pat. konnte nicht schlafen, Ehefrau hat daraufhin den RD alarmiert.

R – Risikofaktoren

Alter, Vorerkrankungen.

S – Schwangerschaft

Ausgeschlossen.

Die große Frage stand uns allen ins Gesicht geschrieben:

„Was machen wir hier eigentlich?“

Es ist einer der – doch eher wenigen – Fälle, in denen es sich wirklich augenscheinlich um eine absolute Bagatelle handelt. Ein grippaler Infekt. Mehr nicht.

Nun stehen wir allerdings da und müssen auch eine passende Lösung finden.

Die Ehefrau des Patienten stellte vollkommen ernst die Frage

„War das richtig, anzurufen?“

Ich dachte wirklich, ich falle vom Glauben ab. Unser Notarzt – der es wirklich schafft, auch in den nervigsten Situationen ruhig zu bleiben – sprach dankenswerterweise das aus, was alle dachten:

„Nein – das wäre etwas für den Hausarzt morgen früh gewesen…mit einer Erkältung geht man zum Hausarzt.“

Interessanterweise wurde das keineswegs negativ aufgenommen.

Nach kurzer Besprechung über die zur Verfügung stehenden Optionen fällt die Entscheidung zugunsten des „Weges mit dem geringsten Widerstand“ – also einer Abklärung im Krankenhaus.

Der Patient erhielt für die verstopfte Nase noch Nasentropfen durch uns (ja, einmal waren sie tatsächlich sinnvoll) – und wird mit dem RTW ohne Notarztbegleitung auf die Reise geschickt.

Nach unserer Abfahrt kam dann von meinem Notarzt schlicht der trockene Kommentar

„Das war mal Bullshit“

Unerwartet – einfach, weil er definitiv nicht zu denjenigen gehört, die sich groß über Einsätze beschweren. Unterschreiben konnte ich diese Aussage aber definitiv.

Was mich geärgert hat

Ehrlich: Bagatelleinsätze findet niemand toll – sie gehören leider auch zum rettungsdienstlichen Alltag. Einsätze wie diese hatte ich schon zu Genüge und ich werde mit Sicherheit noch genügend davon fahren.

Was macht diesen Einsatz irgendwie besonders?

Eigentlich ist es wirklich die Tatsache – und das, was mich hauptsächlich geärgert hat – dass unser Patient keineswegs zum typischen Klientel der Bagatelleinsätze gehört hat. Mit einem doch schicken Einfamilienhaus in guter Wohngegend, durchaus gehoben eingerichtet und auch vom persönlichen Eindruck her weder sozial schwach, noch bildungsfern, noch in irgendeinerweise ein Versorgungsproblem.

Das Ehepaar hätte es somit nicht nur besser wissen können, sondern es eigentlich besser wissen müssen.

Für mich fehlt hier einfach der objektiv nachvollziehbare Grund für das Handeln, wie gehandelt wurde. Es fehlt der Grund, zwei Rettungsmittel in einer eher spärlich bestückten Gegend wegen Schnupfen zu blockieren. Es fehlt der Grund, jemand mitten in der Nacht eine Viertelstunde lang mit Sondersignal durch die Gegend fahren zu lassen.

Fazit

Was fand ich gut?

  • Professionalität – obwohl die Situation wirklich grenzwertig am Notrufmissbrauch lag, wurde ruhig, besonnen und angemessen reagiert

Was fand ich nicht gut?

  • Der Einsatz an sich 🤦🏼‍♂️
  • Fehlende Rückmeldung – eine Rückmeldung seitens des RTW über die tatsächliche Situation oder gar das Abbestellen des NEF wäre durchaus sinnvoll gewesen
  • Transport – konsequenterweise hätte es hier problemlos bei der notärztlichen Versorgung und beim Verweis auf den Hausarzt bleiben können

Was ist mir wichtig? – Take-home-Message

Offen gestanden: hier ist es mir tatsächlich recht schwer gefallen, eine gute Take-home-Message zu formulieren. Was will man aus einem solchen Einsatz – außer Frust – mitnehmen?

Für die Rettungsdienstseite ist es dann am ehesten: zur Professionalität gehört es, auch solche Einsätze auszuhalten. Auch wenn es einen selbst zu Tode ärgert, sollte man die Grundregeln des zwischenmenschlichen Umgangs und des Anstandes nicht vergessen und trotz allem Frust lösungsorientiert arbeiten.

Niemand mag diese Einsätze. Effektiv verhindern können wir sie nicht. Und erfahrungsgemäß bewirken Vorwürfe oder Unfreundlichkeit hier keinerlei Besserung.

Für die Patientenseite könnte man festhalten: Gesundheitskompetenz. Wegen einer augenscheinlichen Erkältung seit mehreren Tagen den Notruf zu wählen ist einfach eine Bankrotterklärung auf ganzer Linie. Sorry.

Man sollte schon ein wenig mit Sinn und Verstand agieren – auch in dem Bewusstsein, dass man Rettungsmittel für echte Notfälle blockiert.

Und durchaus als Reminder sinnvoll: überspannt man den Bogen zu sehr, produziert man nicht nur einen vollkommen vermeidbaren Fehleinsatz, sondern kann durchaus auch mit einer Strafanzeige rechnen.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass es sich bei den verlinkten Büchern um Affiliate-Links handelt. Es entstehen keine zusätzlichen Kosten bei der Bestellung über den Link. Eine Einflussnahme bei der Auswahl der Literatur ist dadurch nicht erfolgt. Siehe auch: Hinweise zu Affiliate-Links.

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/4aQsX9p Affiliate-Link

Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3q8w62I Affiliate-Link

SaniOnTheRoad (2024): Was sind eigentlich Bagatelleinsätze?, abgerufen unter https://saniontheroad.com/was-sind-eigentlich-bagatelleinsaetze/ am 21.09.2024

SaniOnTheRoad (2024): Gesundheitskompetenz, abgerufen unter https://saniontheroad.com/gesundheitskompetenz/ am 21.09.2024

SaniOnTheRoad (2022): Welche Notrufnummer ist die richtige?, abgerufen unter https://saniontheroad.com/notrufnummern/ am 21.09.2024

SaniOnTheRoad (2020): Der ärztliche Bereitschaftsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/der-arztliche-bereitschaftsdienst/ am 21.09.2024

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 21.09.2024

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Über SaniOnTheRoad

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SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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