Rettungsdienst aktuell – Themen die den Rettungsdienst, seine Mitarbeiter und Interessierte beschäftigen. Von leitliniengerechter Arbeit bis zur gesellschaftskritischen Diskussion.
Viele kennen es – viele mussten sie lernen. Die Bestimmung des Blutzuckers aus der aus Nase oder Ohren laufenden Flüssigkeit beim schweren SHT, um eine Schädelbasisfraktur oder sonstiges offenes SHT zu identifizieren.
Auch ich gehörte zu denjenigen, denen diese „diagnostische Maßnahme“ im Rahmen der nun einige Jahre zurückliegenden Rettungssanitäterausbildung als Pflicht zu Teil wurde.
Rückblickend muss ich sagen: so, wie es gelehrt wurde, war es purer Schwachsinn – man verzeihe mir die harten Worte. Ein Hauch Wahrheit steckt aber dennoch dahinter.
Physiologie des Liquors und des Liquorsystems
Ja, den Liquor gibt es wirklich – und er kann auch tatsächlich aus Nase und Ohren austreten, sofern die harte Hirnhaut (Dura mater) und die Arachnoidea eröffnet wurde. Der Liquor findet sich außer in den äußeren Liquorräumen, die das Hirn von außen umgeben, auch in den beiden Seitenventrikeln sowie dem 3. und 4. Ventrikel innerhalb des Gehirns.
Der Liquor cerebrespinalis, die Hirn-Rückenmarks-Flüssigkeit, ist nichts anderes als ein Ultrafiltrat aus Blutplasma, welches in den Plexus choroidei im Gehirn selbst gebildet wird. Vereinfacht: der Liquor ist erstmal nichts anderes als filtriertes Blutplasma.
Mythos: Der BZ-Wert liegt höher als der im Blut
Diese Aussage ist falsch. Da der Liquor cerebrospinalis ein Ultrafiltrat des Blutplasmas darstellt, kann der Wert überhaupt nicht höher liegen. Das Gegenteil ist der Fall: die Glucosekonzentration beträgt sowohl aufgrund des Verbrauchs der Neuronen als auch der Filtration nur 50 – 70 % der normalen Blutzuckerkonzentration.
Einen „höheren BZ-Wert“ als im Blut kann man daher gar nicht feststellen.
Liquorrhoe im Rettungsdienst
Zu einem Liquoraustritt kommt es dann, wenn ein Liquorraum durch ein Trauma eröffnet wurde – das betrifft praktisch ausschließlich den äußeren Liquorraum, den Subarachnoidalraum.
Dabei kann es zum direkten Liquoraustritt – zum Beispiel bei Eröffnung der Dura mater und der Arachnoidea beim offenen SHT – oder typischer indirekt aus Ohren und Nase bei Schädelbasisfrakturen kommen.
Kann die Liquorrhoe mittels Glucosetest doch identifiziert werden?
Kann sie – allerdings nur unter bestimmten Umständen. Da die Höhe des BZ-Wertes nicht aussagekräftig ist, kommt es darauf an, was getestet wird. Sprich: Blut oder klare Flüssigkeit.
Im Falle von Blut wird ohnehin ein Blutzuckerwert messbar sein – die Aussagekraft eines Glucosetests geht bei Blutbeimengungen faktisch gegen Null.
Im Falle von klarer Flüssigkeit, z.B. aus der Nase, kann der Test allerdings ein verwertbares Ergebnis liefern. Nasensekret hat keinen signifikanten Glucosegehalt, folglich ist ein BZ-Wert im oben genannten Bereich durchaus als Nachweis einer Liquorrhoe zu sehen.
Was ist mit dem „Kompressen-Test“?
Der Kompressen-Test wird oftmals als Alternative zum Glucosetest bei Blutbeimengungen genannt. Hierbei wird eine Kompresse mit einer Ecke in das austretende Blut gehalten – im Falle einer Liquorbeimengung ergibt sich ein blasser Hof um das Blut herum.
Der Test ist zwar schnell durchführbar, aber ungenau – und damit de facto konsequenzlos.
Relevanz für den Rettungsdienst?
Die Relevanz der Untersuchungen – egal ob Glucose- oder Kompressen-Test – ist auch bei verwertbaren Ergebnissen gelinde gesagt gering. Ein schweres SHT oder eine Schädelbasisfraktur zeigt sich auch typischerweise durch weitaus eindrücklichere Zeichen, die rettungsdienstlich bereits im Primary Survey auffallen.
Oder anders: der Nachweis einer Liquorrhoe ändert nichts am präklinischen Vorgehen oder an der Auswahl der Zielklinik. Dementsprechend hat diese Untersuchung bei einem kritischen Patienten keine therapeutische Konsequenz – und damit keine Relevanz.
Liquorrhoe in der Klinik
Klinisch besteht durchaus auch die Möglichkeit, Flüssigkeiten auf Liquor zu testen. Allerdings erfolgt dies hier nicht im Rahmen des in der Praxis problematischen bis wenig zielführenden Glucosetests, sondern im Rahmen „richtiger“ Labordiagnostik.
Hierbei wird auf spezifische im Liquor vorkommende Proteine, wie Beta-2-Transferrin, getestet.
Unabhängig vom Liquornachweis erfolgen allerdings bildgebende Verfahren, allen voran das CCT, als erste diagnostische Maßnahme.
Fazit
Der Glucosetest ist nicht vollends ein Mythos – er kann durchaus verwertbare Ergebnisse liefern. Der Haken daran: bei der üblichen Auffindesituation, nämlich mit Blutbeimengungen oder Blutungen, ist er ungeeignet.
Der Kompressen-Test bietet sich als Alternative an, ist aber ungenau und damit kein sicherer Nachweis.
Unterm Strich
Beides Tests haben präklinisch keine therapeutische Konsequenz und damit keine Relevanz. Die Versorgung im Rahmen des Primary und Secondary Survey ändert sich nicht, die Auswahl der Zielklinik (Unfallchirurgie und Neurochirurgie) bei entsprechenden Verletzungen ebenfalls nicht.
Eine zielführende körperliche Untersuchung (insbesondere der Schädelstabilität, Brillen- oder Monokelhämatome, „Battle Signs“), eine zielführende neurologische Untersuchung und eine Betrachtung der Kinematik sind zur Diagnosestellung zielführender als die genannten Testverfahren, die in der derzeitigen Fachliteratur präklinisch nicht empfohlen werden.
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Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Quellen
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Zilles, K., Tillmann B. (2010): Anatomie, Springer-Verlag Berlin/Heidelberg/New York. ISBN 978-3-540-69481-6. Hier erhältlich: https://amzn.to/34WJkVy
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