Fakt oder Mythos: Nur NaCl 0,9% bei Dialysepatienten zur Infusionstherapie?

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Dialysepatienten sind eine Patientengruppe, die im qualifizierten Krankentransport recht häufig – und in der Notfallrettung erstaunlich selten sind.

Die maßgebliche rettungsdienstliche Interaktion beschränkt sich meist auf „Einladen, Fortfahren, Absetzen“ und das Wiegen vor und nach der Dialyse. Große Notfallmedizin wird hier nicht betrieben…eigentlich wird hier meist gar keine Notfallmedizin betrieben.

Das führt dazu, dass eine erstaunlich große Unsicherheit besteht, wenn unsere Stammpatienten ein wirkliches notfallmedizinisches Problem haben – und das fängt schon bei etwas so banalem wie der Wahl der Infusionslösung an…

Beliebt ist und auch immer noch gelehrt wird die Aussage „Ausschließlich kaliumfreie Infusionen bei Dialysepatienten!“ – was im Rettungsdienst meist gleichbedeutend mit NaCl 0,9 % ist – mit der wir uns im folgenden dann doch unter dem Gesichtspunkt „Fakt oder Mythos?“ auseinandersetzen wollen.

Kurzabriss über die Problematik

Eine dialysepflichtige Niereninsuffizienz bringt schlichtweg mehrere Probleme gleichzeitig mit sich – die Einschränkung der Nierenfunktion führt dazu, dass die lebensnotwendigen Funktionen der Niere durch die Hämodialyse übernommen werden müssen.

Im Wesentlichen ergeben sich hierbei vier Grundprobleme:

  • Volumenhaushalt – durch die Abnahme der Filtration kommt es zur Flüssigkeitsretention. Die Betroffenen können überschüssiges Wasser nicht mehr in dem Maße ausscheiden, wie es notwendig ist; es kann zur Hyperhydratation und in der Folge zu Ödemen kommen.
  • Elektrolythaushalt – analog zur Wasserausscheidung ist auch die Ausscheidung der Elektrolyte vermindert. Problematisch ist hier vor allem das Kalium, welches physiologisch nur geringe Abweichungen toleriert. Bei einer Niereninsuffizienz besteht das Risiko einer Hyperkaliämie.
  • Säure-Basen-Haushalt – sowohl durch die verminderte Ausscheidung von Protonen direkt als auch indirekt durch Verschiebungen der Elektrolyte droht eine Azidose.
  • Urämie – die Ansammlung harnpflichtiger Substanzen im Blut.

Das Volumenmanagement wird meist relativ einfach über eine Beschränkung der Trinkmenge (meist „Ausscheidung der letzten 24 Stunden + 500 ml“) gelöst, um eine Hyperhydratation und eine Bildung von Bein-, Lungen- oder Hirnödemen zu vermeiden.

Die Regulation des Elektrolythaushalts beruht vor allem auf der Vermeidung bestimmter – vor allem kaliumreicher – Lebensmittel sowie der Hämodialyse an sich. Zur Vermeidung der Urämie ist letztendlich die Dialyse, bei der die harnpflichtigen Substanzen gezielt entzogen werden, unerlässlich.

All das ist prinzipiell ein gut eingespieltes und sensibles System – ungezielte Eingriffe können hierbei durchaus Schaden verursachen und ein paar Grundüberlegungen sind notwendig.

Im rettungsdienstlichen Setting könnte man als Ziele definieren:

  • Vermeidung einer Hyperhydratation und eine eher restriktive Volumentherapie,
  • Vermeidung einer Hyperkaliämie und
  • Vermeidung von Störungen des Säure-Basen-Haushalts; v.a. eine metabolische Azidose.

Die Sache mit der Natriumchloridlösung

Die Zielsetzungen führen letztendlich dann dazu, dass entweder gar keine Infusionstherapie erfolgt (obwohl diese indiziert ist) – oder das munter zur NaCl 0,9 % gegriffen wird.

Wenn man sich einmal anschaut, was unsere „physiologische Kochsalzlösung“ zu bieten hat, fällt ziemlich schnell auf, dass diese alles andere als physiologisch ist. Zum einen fehlen Elektrolyte (Kalium, Magnesium, Calcium), zum anderen hat sie „zu viel“ Elektrolyte (Chlorid), zum anderen fehlen metabolisierbare Anionen.

Unsere Natriumchloridlösung ist isoton – das war’s dann auch schon. Und sie ist kaliumfrei – das wäre doch eigentlich eine schicke Sache, oder?

Der Denkfehler

Ich glaube, das Problem liegt tatsächlich an einem gewissen Denkfehler:

„Kalium im Blut + Kalium in der Infusion = noch mehr Kalium im Blut“

Das klingt ja erstmal total logisch. Und es ist grundfalsch.

Wir führen letztendlich nicht nur Kalium hinzu (Stoffmenge), sondern auch Volumen – die alleinige Betrachtung der zuführten Stoffmenge ist hier untauglich, wir müssen die Konzentrationen betrachten. Diese sind für die Problematik und allein schon für die Definition der Hyperkaliämie entscheidend.

Das funktioniert so lange, wie der Kaliumgehalt der Infusion unter dem Kaliumgehalt des Serums liegt. Die kaliumhaltige Infusion

Das neue Problem

Leider bastelt uns NaCl 0,9 % hier ein neues Problem: der Teufel ist ein Eichhörnchen – oder ein fehlendes metabolisierbares Anion.

Das Problem liegt hier tatsächlich im Säure-Basen-Haushalt. Durch die fehlenden metabolisierbaren Anionen basteln wir uns eine metabolische Azidose – einerseits durch die physikalische Verdünnung des Hydrogencarbonats (und damit die Abnahme der Konzentration), andererseits durch die Zufuhr und den kompensatorischen Anstieg der Chloridionenkonzentration. Man spricht von einer hyperchlorämischen Azidose.

Eine Störung des Säure-Basen-Haushalts wollen wir – man denke an unsere oben genannten Ziele – eigentlich vermeiden. Die Azidose ist an sich schon erst einmal unschön.

Noch unschöner ist allerdings: den Elektrolythaushalt zerschießen wir gleich mit. Warum?

Simpel ausgedrückt:

„Wo H+ ist, ist auch K+!“

Eine Azidose kann selbst zu einer Hyperkaliämie führen oder eine bestehende Hyperkaliämie verschlimmern. Wie funktioniert’s?

Die Zellen unseres Tubulussystems der Niere verfügen über einen Protonen-Kalium-Austauscher (H+/K+-ATPase). Dieser wird sowohl von Änderungen der Wasserstoffionenkonzentration als auch der Kaliumkonzentration beeinflusst.

Haben wir nun eine Azidose – mit erhöhter Wasserstoffionenkonzentration – werden diese verstärkt in die Niere abgegeben. Und im Ausgleich verstärkt Kalium resorbiert. Das führt dazu, dass die Kaliumkonzentration im Plasma sogar ansteigt.

Was ist dran?

In einem Punkt ist sich die Literatur tatsächlich einig: eine restriktive Volumentherapie ist sinnvoll, um nachfolgende Probleme der Hypervolämie zu vermeiden. Das kann man getrost als Fakt bezeichnen.

Eine notwendige Volumensubstitution muss differenziert und bedacht erfolgen – blind irgendeine Infusionslösung in den dialysepflichtigen Patienten laufen lassen ist ein No-Go!

Hinsichtlich der Wahl der Infusionslösung zeichnet sich allerdings – im Gegensatz zu den immer noch verbreiteten Lehrmeinungen – ein klares Bild ab: balancierte Vollelektrolytlösung, keine NaCl 0,9 %. Dass diese Mittel der Wahl bei Dialysepatienten ist, kann man getrost als Mythos abtun.

In mehreren Studien wurde bislang deutlich, dass man Patienten mit NaCl 0,9 % als „Grundinfusion“ keinen Gefallen tut – im Gegenteil: Komplikationen und Elektrolytentgleisungen treten hier deutlich häufiger auf, als es bei balancierten VEL der Fall ist.

Fazit

Interessenkonflikte

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Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

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Über SaniOnTheRoad

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Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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