So sollte es nicht laufen

finger pointing to a brain scan

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Die Sache mit den Pflegeheimen

Es ist fast eine Binsenweisheit, dass Rettungsdienst und Pflege medizinische Situationen bisweilen extrem unterschiedlich einschätzen. In den allermeisten Fällen fällt die Einschätzung, gerade in Pflegeheimen, eher so aus, dass meist deutlich „überalarmiert“ wird und Einsätze eher als unbegründet empfunden werden.

Manchmal geht es aber auch andersherum – wo die Bedrohlichkeit und Dringlichkeit einer Situation deutlich unterschätzt wird und das durchaus massive Folgen für den Patienten haben kann. So war es in diesem Fall.

Frühstück? Fehlanzeige.

Ein RTW-Tagdienst auf einer Außenwache, den ich als Zusatzdienst übernommen hatte – und dieser war schon merklich „unruhig“. Seit dem Fahrzeugcheck am morgen waren wir durchgehend unterwegs und hatten bereits drei Einsätze infolge hinter uns, als der Melder zum vierten Mal klingelte…

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: Schlechter Allgemeinzustand, hypertensive Entgleisung ohne Symptome, Atmung sonstiges.

Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, mit Sonder-/Wegerechten.

Diese eher kryptische Einsatzmeldung – mit dem ersten Gedanken „Das kann doch nichts sein“ – führte uns in ein Pflegeheim am anderen Ende des Landkreises, gute 20 Minuten Anfahrt. Der eigene Hunger ist bei einer solchen Meldung dann doch größer als die Begeisterung über den Einsatz.

Dort angekommen packen wir unser gesamtes Material auf die Trage und machen uns auf der Suche nach unserem Patienten.

Scene – Safety – Situation

Scene: Winter, Nachmittag, 15:00, Pflegeheim

Safety: Keine augenscheinlichen Gefahren.

Situation: Eine Pflegekraft nimmt uns in Empfang und führt uns zu dem Patienten (91 Jahre). Sie berichtet davon, dass dieser seit 11:30 „komisch atmen“ würde und die Sättigung zwischen 78 – 97 % schwanken würde. Der Patient ist Diabetiker, der BZ sei aber auch bei mehrfacher Kontrolle in Ordnung gewesen.

Im Zimmer angekommen fällt zunächst einmal auf, dass der Patient auf unsere Anwesenheit…nicht reagiert. Zudem fällt unmittelbar ein hängender Mundwinkel linksseitig und ein deutlicher Speichelfluss aus dem Mund auf.

Wir kommen zur Ersteinschätzung

Ersteinschätzung

Potentiell kritisch.

und starten in unser Primary Survey:

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose. Kein Zungenbiss. Deutliche Deviation der Zunge nach links.

B – Breathing

Atemfrequenz 18/min, keine obere Einflussstauung, Thorax stabil, Atemexkursionen regelrecht, Pulmo bds. vesikuläres AG, SpO2 93 %. Kein pathologisches Atemmuster.

C – Circulation

Haut rosig, warm, trocken, stehende Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse beidseits tastbar, HF 100/min; Blutungsräume unauffällig. RR 180/100 mmHg. EKG: Sinustachykardie.

D – Disability

GCS 10 bei bekannter Demenz, Orientiertung nicht überprüfbar, Pupillen isokor, mittelgroß, träge LR beidseits. FAST: Hemiparese des rechten Arms, hängender Mundwinkel linksseitig, deutlicher Speichelfluss aus dem Mund, Deviation der Zunge nach links, Deviation beider Augen nach links, fehlende Lidöffnung links, Aphasie. BZ 79 mg/dl.

E – Exposure/Environment

Z.n. Unterschenkelamputation links, Bodycheck sonst unauffällig, kein vorausgegangenes Trauma. Temp. 36,8°C

Wir kommen zu einem eindeutigen

Einschätzung

Kritisch.

und bereiten i.v.-Zugang und Infusion vor, während ich die Anamnese vervollständige.

SAMPLER(S)

S – Symptome

Neu aufgetretene Hemiparese des rechten Arms und Fazialisparese linksseitig, Aphasie, fragliche Hirnnervenausfälle, Onset um 11:30 (Zeitpunkt der Feststellung), Hypertonie.

A – Allergien

Keine.

M – Medikamente

ASS 100, Ramipril, Bisoprolol, Vitamin D3, Insulin (Kurz- und Langzeitinsulin), Metamizol.

P – Vorerkrankungen

Demenz, aHT, pAVK, insulinpflichtiger Diabetes mellitus Typ 2 mit Unterschenkelamputation.

L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang

Nahrungsaufnahme 08:00 Frühstück (wurde normal angereicht), Miktion und Stuhlgang unauffällig.

E – Ereignis

Aus der Ruhe heraus, wurde mit Symptomatik vorgefunden.

R – Risikofaktoren

Alter, Vorerkrankungen.

S – Schwangerschaft

Ausgeschlossen.

Der Trichter wird aufgemacht und man kommt recht schnell zum Ergebnis: Schlaganfall oder intrakranielle Blutung.

Der i.v.-Zugamg wird noch vor Ort angelegt, der Patient erhält eine Vollelektrolytlösung und, nach nochmaliger Kontrolle des Blutzuckers und einem weiteren Absinken, 8 g Glucose i.v. Aufgrund eines weiteren Abfalls der Sauerstoffsättigung auf 91 % entschieden wir uns zudem für eine Sauerstoffgabe (3 l/min) über eine Sauerstoffbrille.

Sachen zusammenpacken, Abfahrt mit Lichterglanz und Glockenschall in die nächste Stroke Unit. Auch wenn wir hier mittlerweile außerhalb des Lysefensters sind, geben einem die massiven neurologischen Ausfälle des Patienten zu denken.

Die Aussage der Pflege im Krankenhaus bei der Übergabe mit

„Das ist ja mal ein eindeutiger Schlaganfall“

kann man im angesicht der Geschehnisse durchaus mal infrage stellen.


Die Einschätzung der Pflege – und die Sache mit den Hirnnerven

Ich finde es beeindruckend und zugleich beängstigend, was hier abgelaufen ist.

Es wurde hier schlichtweg ein Schlaganfall in Vollausprägung von medizinischem Fachpersonal übersehen. Man kann der Pflege noch nicht mal vorwerfen, hier nichts getan zu haben – es wurden seit Symptombeginn mehrfach (!) die Vitalparameter des Patienten kontrolliert.

Das Problem ist: es wurde sonst nichts gemacht. Es wurde hier zwar eine regelmäßige apparative Diagnostik mit Blutdruck- und Blutzuckermessung durchgeführt, aber scheinbar nicht einmal dem Patienten ins Gesicht geschaut. Und: der Rettungsdienst wurde viel zu spät alarmiert. Einen Notfall erkennen ist scheinbar doch nicht so selbstverständlich.

Der Blick für das Wesentliche – und in diesem Fall das Eindeutige – hat vollends gefehlt. Auch an dieser Stelle und auch für die Pflege gilt die Devise: den Patienten behandeln, nicht den Monitor!

Beeindruckend waren an dieser Stelle insbesondere die Ausfallerscheinungen der Hirnnerven – wobei man tatsächlich nur bedingt sagen kann, welche nun genau betroffen waren – teilweise lassen sich die Symptome durchaus mit dem typischen Arteria-cerebri-media-Infarkt erklären (so beispielsweise die Hemiparese des rechten Arms oder die Aphasie), teilweise eben weniger oder gar nicht (Blick- und Zungendeviation, massiver Speichelfluss, fragl. Unfähigkeit zu schlucken).

Denkbar ist hier natürlich ein Infarkt im Bereich des Hirnstamms – aufgrund der möglichen Hirnnervenausfälle und auch der berichteten (aber im Endeffekt durch uns nicht festgestellten) auffälligen Atmung. Eine Basilaristhrombose (oder auch eine Blutung) macht den Schlaganfall durch Beeinträchtigung lebensnotwendiger Zentren zu einem unmittelbar lebensbedrohlichen Ereignis.

Weiterführende Literatur

Topka H., Eberhardt O. (2023): Neurologische Notfälle, 2. überarbeitete Auflage. Georg Thieme Verlag KG.

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Fazit

Was fand ich gut?

  • kein Fixierungsfehler durch die irreführende Einsatzmeldung
  • zügiges Feststellen des eigentlichen Problems des Patienten und sorgfältige Abarbeitung

Was fand ich nicht gut?

  • das Nicht-Erkennen des Schlaganfalls des Fachpersonals vor Ort
  • der lange Zeitraum bis zur Rettungsdienstalarmierung

Was ist mir wichtig? – Take-home-Message

Es soll hier absolut kein „Pflege-Bashing“ werden – das würde weder der Berufsgruppe, noch der Situation gerecht werden.

Ein Teil der Take-Home-Message ist ganz eindeutig: man muss sich auf Notfälle vorbereiten, diese erkennen, und richtig handeln – einfach im Sinne der Erste-Hilfe-Basics.

Ich finde es tatsächlich bezeichnend, dass dreijährig ausgebildetes Gesundheitsfachpersonal – wie Pflegefachkräfte – in Notfallsituationen eine Handlungskompetenz zeigt, die oftmals schlechter ist als die vieler medizinischer Laien als Ersthelfer.

Klar: Notfallmedizin ist hier einfach oft nicht Kerngebiet der Tätigkeit und sie macht nicht unbedingt einen Ausbildungsschwerpunkt aus. Das sollte sich meines Erachtens unbedingt ändern. Man arbeitet hier mit oft schwer kranken Menschen, bei denen das Auftreten akuter medizinischer Notfälle durchaus wahrscheinlich ist.

Notwendig ist aus meiner Sicht hier deutlich mehr Training im professionellen Management von Notfällen und eine verstärkte Sensibilisierung. Wenn seitens der Arbeitgeber hier nichts kommt, sollte auch jede Pflegefach- und Pflegehilfskraft schon aus eigenen Stücken tätig werden und sich fort- und weiterbilden; auch, weil es irgendwo zum Berufsethos dazu gehört.

Im Grunde hat man hier sogar einen doppelten Nutzen davon:

  • einerseits werden kritische Notfälle als solche erkannt und zielführend gehandelt,
  • andererseits wird die teils deutlich ungerechtfertige „Überalarmierung“ reduziert.

Der zweite Teil der Take-home-Message ist: man sollte auch einfach mal einen Blick auf die Patienten werfen und mit etwas gesundem Menschenverstand an die Dinge herangehen.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass es sich bei den verlinkten Büchern um Affiliate-Links handelt. Eine Einflussnahme bei der Auswahl der Literatur ist dadurch nicht erfolgt.

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/458DGcB Affiliate-Link

Deutscher Berufsverband Rettungsdienst e.V. (2023): Musteralgorithmen 2023 zur Umsetzung des Pyramidenprozesses im Rahmen des NotSanG, Version 8.0, abgerufen unter https://dbrd.de/images/algorithmen/DBRGAlgo23_Web.pdf am 02.02.2024

Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e.V. (2022): S3-Leitlinie Schlaganfall, AWMF-Registernummer 053-011, abgerufen unter https://register.awmf.org/assets/guidelines/053-011l_S3_Schlaganfall_2023-05.pdf am 02.02.2024

Deutsche Gesellschaft für Neurologie (2022): S2e-Leitlinie zur Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls, AWMF-Registernummer 030-046, abgerufen unter https://dnvp9c1uo2095.cloudfront.net/cms-content/030-046l_Akuttherapie_Isch%C3%A4mischer_Schlaganfall_V5.1_221109_1669646650700.pdf am 02.02.2024

Dönitz S., Flake F. (2015): Mensch Körper Krankheit für den Rettungsdienst, 1. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3-437-46201-6. Aktuelle Auflage (4. Auflage, 2022) hier erhältlich: https://amzn.to/41bEM5G Affiliate-Link

Litmathe J. (2016): Neurologische Notfälle: Präklinische und innerklinische Akutversorgung, 1. Auflage. Springer-Verlag GmbH. ISBN 978-3662497746. Hier erhältlich: https://amzn.to/42pNeQf Affiliate-Link

Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3q8w62I Affiliate-Link

SaniOnTheRoad (2020): Erste Hilfe: Schlaganfall, abgerufen unter https://saniontheroad.com/erste-hilfe-schlaganfall/ am 02.02.2024

SaniOnTheRoad (2020): Einen Notfall erkennen, abgerufen unter https://saniontheroad.com/einen-notfall-erkennen/ am 02.02.2024

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 02.02.2024

Schmeißer M., Schumann S. (2020): Kurzlehrbuch Neuroanatomie, 2. vollständig überarbeite Auflage. Georg Thieme Verlag KG. ISBN 978-3131429520. DOI: 10.1055/b-004-132208. Hier erhältlich: https://amzn.to/49CjodR Affiliate-Link

Scholz J., Gräsner J.-T., Bohn A. (2019): Referenz Notfallmedizin. Georg Thieme Verlag KG. ISBN 978-3-13-241290-3. DOI: 10.1055/b-006-149615. Hier erhältlich: https://amzn.to/3uhENtA Affiliate-Link

Topka H., Eberhardt O. (2023): Neurologische Notfälle, 2. überarbeitete Auflage. Georg Thieme Verlag KG. ISBN 978-3132438156. Hier erhältlich: https://amzn.to/480Wlb2 Affiliate-Link

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Über SaniOnTheRoad

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Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im klinischen Abschnitt des Studiums. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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