Was war denn das?

medical equipment on an operation room

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Ein EKG bietet manchmal Überraschungen

Mein Faible für merkwürdige EKGs ist vermutlich hinreichend bekannt – genauso wie meine Fähigkeit, Patienten mit EKG-Abnormalitäten irgendwie magisch anzuziehen. Nichtsdestotrotz gibt es auch hier immer wieder Dinge, die ich in einer solchen Form auch zum ersten Mal (mehr oder weniger) “live” erlebe.

Gerade dann, wenn die Einsatzmeldung eigentlich erstmal nicht an eine kardiale Ursache denken lässt, ist der Überraschungseffekt durchaus ziemlich groß. Und so war es auch bei folgenden Einsatz.

Die Anstandsfahrt des Abends?

NEF-Nachtdienst – das verspricht in aller Regel eine relativ ruhige Nacht und sorgt durchaus für die Annahme, dass man meist keine große Medizin betreiben wird. An diesem Abend ging es allerdings unmittelbar nach Fahrzeugcheck und Kaffee los.

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: Bewusstlosigkeit.

Alarmierte Fahrzeuge: NEF, mit Sonder-/Wegerechten. RTW vor Ort, fordert nach.

Die Fahrt ging zu einem unserer “Außenwachen-RTWs”, der uns nachgefordert hatte – die ursprüngliche Einsatzmeldung des RTWs hatten wir nicht. So versuchten die Notärztin und ich aus den gegebenen Informationen die Situation vor Ort gedanklich zu basteln.

Männlicher Patient, Mitte 30, Bewusstlosigkeit am frühen Abend: wir hätten jede Wette abgeschlossen, dass es sich hierbei um eine Intoxikation handelt. Dinge wie Schädel-Hirn-Trauma oder Hypoglykämie haben wir der Vollständigkeit halber mal angesprochen.

Nach einer guten Viertelstunde Anfahrt stellt sich die Lage dann aber doch gänzlich anders dar, als wir gedacht hätten…

Scene – Safety – Situation

Scene: Frühjahr, 20:00, kühl, dunkel, trocken. Patient befindet sich bereits im RTW.

Safety: Keine augenscheinlichen Gefahren.

Situation: Übergabe durch den Notfallsanitäter des RTW; der Patient liegt auf der Trage, wach, der ursprüngliche Alarmgrund waren “Atembeschwerden”, nach erfolgter Erstversorgung und der Anlage eines i.v.-Zugangs trat zunächst eine Arrhythmie auf, dann eine Asystolie über mehrere Sekunden, welche spontan beendet wurde. Der Patient war entsprechend einige Sekunden bewusstlos.

Die Situation konnte man also erstmal durchaus als

Ersteinschätzung

Kritisch.

einschätzen. Der Notfallsanitäter des RTW führte die Übergabe fort und nannte die entsprechenden Befunde:

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose.

B – Breathing

Atemfrequenz 20/min, keine obere Einflussstauung, Thorax stabil, Atemexkursionen regelrecht, Pulmo bds. VAG, SpO2 93 %. Dyspnoe bei Belastung.

C – Circulation

Haut blass, warm trocken, keine stehende Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse beidseits gut tastbar; Blutungsräume unauffällig, RR 110/80 mmHg. HF 100/min. Keine Angina pectoris.

D – Disability

GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen mittelgroß, isokor, prompte LR; quick-FAST unauffällig, pDMS intakt, BZ 97 mg/dl.

E – Exposure/Environment

Atemabhängige Thoraxschmerzen und Schwächegefühl seit heute, Temp. 37,0°C. Bodycheck unauffällig, keine erkennbaren Verletzungen.

Nachdem die Vitalparameter sonst recht unauffällig waren, entschieden wir uns für ein

Einschätzung

Ernsthaft erkrankt.

Wohlbemerkt ohne genau zu wissen, was unser Patient nun hat. Vielleicht einen Spontanpneumothorax? Eine Lungenarterienembolie? Doch nur eine Pneumonie oder verschleppte Erkältung?

Ich nutze die Gelegenheit und werfe derweil einen Blick auf den Langzeit-EKG-Ausdruck:

Ausdruck des Ereignisses (Ableitung II, 25 mm/s): erkennbar sind mehrere supraventrikuläre Bigemini (= “Doppelschläge”), gefolgt von einer Asystolie. © 2023 SaniOnTheRoad.

Es war zweifellos sehr eindrücklich: der Patient hatte ausgehend von einen normalen Sinusrhythmus (im ersten 12-Kanal-EKG)

  • zuerst einen supraventrikulären Bigeminus entwickelt,
  • ist daraufhin kurzzeitig asystol geworden, um dann
  • erneut in einen normalen Sinusrhythmus überzugehen (im zweiten 12-Kanal-EKG).

Das 12-Kanal-EKG vor und nach dem Ereignis war vollkommen unauffällig. Keine Ischämiezeichen, keine Arrhythmien, alle Zeiten im Normbereich.

Unsere Notärztin komplettierte die Anamnese, während der Rest von uns dann doch vorsichtshalber die Reanimationsbereitschaft herstellte.

SAMPLER(S)

S – Symptome

Atemabhängige Thoraxschmerzen und Schwächegefühl; vorübergehender supraventrikulärer Bigeminus und kurzzeitige Asystolie.

A – Allergien

Keine.

M – Medikamente

Keine Dauermedikation. Durch Rettungsdienst 500 ml Vollelektrolytlösung.

P – Vorerkrankungen

Keine Vorerkrankungen.

L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang

Letzte orale Aufnahme: 18:00, Abendessen. Stuhlgang und Miktion unauffällig.

E – Ereignis

Anruf bei zunehmenden Beschwerden unklarer Genese.

R – Risikofaktoren

Nikotinabusus.

S – Schwangerschaft

Ausgeschlossen.

Wir entschieden uns aufgrund der unklaren Lage schließlich für einen Transport mit Sonder- und Wegerechten in Notarztbegleitung in den nächsten Maximalversorger mit Chest Pain Unit. Dieser verlief völlig komplikationslos.

Was ist hier passiert?

Um ehrlich zu sein: so genau wissen wir es nicht.

Wir haben letztendlich in der Nachbesprechung mehrere Theorien aufgestellt, von denen die folgende meines Erachtens die plausibelste ist…

In der Anamnese durch die Notärztin gab der Patient an, dass er a) Angst vor Nadeln habe und b) auch beim Blutabnehmen beim Hausarzt regelmäßig synkopiert.

Wie könnte sich das ausgewirkt haben? Nun, unser Erklärungsansatz ist, dass die Angst vor der Venenpunktion in Verbindung mit dem allgemein gestörten Wohlbefinden den supraventrikulären Bigeminus verursacht hat – und dass die tatsächliche Punktion der Vene einen Vagusreiz (ja, das funktioniert tatsächlich) gesetzt hat, welcher derart stark war, dass es zu einem kurzzeitigen Sinusarrest kam.

Dazu passen würde die zeitliche Beschreibung der Situation durch die RTW-Besatzung.

Klingt gut, klingt plausibel – ist allerdings dennoch nur eine Theoriefindung unsererseits. Auch im Nachgang konnten wir nicht erfahren, wo das Problem genau lag.

Fazit

Was fand ich gut?

  • Umfassende Dokumentation des Ereignisses durch die RTW-Besatzung
  • zügiges, strukturiertes Abarbeiten nach Eintreffen des NEFs
  • Transport in einen Maximalversorger mit Kardiologie

Was fand ich nicht gut?

  • Reanimationsbereitschaft – diese wurde trotz des Ereignisses erst nach Eintreffen der Notärztin hergestellt (bei einer Anfahrtszeit von über 15 Minuten)

Was ist mir wichtig? – Take-home-Message

Dieser Einsatz zeigt meines Erachtens insbesondere die Wichtigkeit eines strukturierten Arbeitens und vor allem der regelmäßigen Reevaluation. Die RTW-Besatzung hatte hier vor dem Ereignis eine vollständige, strukturierte Untersuchung durchgeführt und nach dem Ereignis den Patientenzustand erneut vollständig reevaluiert – das ist absolut vorbildlich.

Ebenso wichtig ist die Dokumentation von Zwischenfällen – dazu wurden sowohl der Ausdruck des 12-Kanal-EKGs vor und nach dem Ereignis genutzt, als auch der Ausdruck des Langzeit-EKGs, welcher sowohl den Bigeminus als auch die Asystolie aufgezeichnet hatte.

Die Take-home-Message Nummer eins bei diesem Einsatz ist allerdings: ziehe die richtigen Konsequenzen aus deinen Feststellungen!

Und das wurde leider viel zu spät (und erst nach Anweisung) durchgeführt. Bei einem jungen Patienten, der ohne primär ersichtlichen Grund eine Arrhythmie entwickelt und einen vorübergehenden Sinusarrest hat, ist eine Reanimationsbereitschaft angesagt. Das bedeutet

  • Defi-Patches werden aufgeklebt,
  • es wird mindestens mal der Beatmungsbeutel und eine Atemwegssicherung bereitgelegt und
  • es wird eine Absaugbereitschaft hergestellt.

Denn: wenn’s schnell gehen muss, muss es schnell gehen – und die Zeit zur Vorbereitung war eindeutig vorhanden.

Quellen

Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/3SZQdcW

Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3QVgyqE

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 14.04.2023

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Über SaniOnTheRoad

Was war denn das?

SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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