Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.
Jede Rettungswache hat sie, jeder Rettungsdienstler kennt sie und beim Namen und der Adresse kommt ein reflexartiges
„Nein, nicht schon wieder!“
Die Rede ist von „Stammkunden“, Daueranrufern oder – wie es bei Fire Department Chronicles so schon heißt – Frequent Flyers.
Stammkunden im Rettungsdienst sind wahrscheinlich eine der unbeliebtesten und bisweilen auch herausfordernsten Patientengruppen, mit denen man in Berührung kommt.
Die Bandbreite ist hierbei extrem groß: vom stadtbekannten Alkoholiker, dem Schläger über die ältere Dame mit Versorgungsproblem und den Hypochonder bis zu dem tatsächlich chronisch Kranken, der dann tatsächlich immer ein relevantes medizinisches Problem hat.
Der Haken an der Stammkundschaft ist, dass die eigentlichen Beschwerden oft bis sehr oft psychisch oder psychosomatisch überlagert sind und das Grundproblem gerne außerhalb jedes Zuständigkeitsbereichs des Rettungsdienstes liegt – und andere sich wenig bis gar nicht zuständig fühlen.
Im folgenden Beitrag werfen wir einen Blick auf einen Einsatz mit einem unserer „Frequent Flyer“.
Nenn‘ niemals den Namen!
Der gemeine Rettungsdienstler ist erstaunlich abergläubig – Sätze wie
„Ist aber ganz schön ruhig heute“
oder
„Wir haben Herrn/Frau X schon lange nicht mehr gefahren“
gelten quasi als Beschwörung der Rettungsdienstgötter und führen genau zu dem Fall, über den man geredet hat. Soweit die anekdotische Evidenz.
Im Endeffekt trifft die Beobachtung weitaus öfter nicht zu, als dass sie zutrifft. Manchmal passt es dann aber doch.
Einsatzdaten
Einsatzmeldung: Atmung sonstiges.
Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, ohne Sonder-/Wegerechte.
Wir sind gerade auf dem Rückweg von der Werkstatt, als die Leitstelle uns anspricht und quasi zu einem unserer Stammkunden beordert. Anfahrtszeit 20 Minuten.
Als wir den Namen auf dem Melder lesen, kommt das reflexartige
Nennen wir unseren Stammkunden Herr Gern-Nie – weil er gern wegen jeder kleinsten Befindlichkeitsstörung anruft, und grundsätzlich nie mitfahren will (und es effektiv auch nicht tut).
Unsere Begeisterung hält sich wahrlich in Grenzen.
Kleine Vorgeschichte
Herr Gern-Nie ist Anfang 70, lebt mit seiner asiatischen Ehefrau (die auch nach Jahren noch kein Wort Deutsch kann) in einer kleinen, durchaus gehoben eingerichteten Wohnung und ruft tatsächlich gerne wegen „Nichtigkeiten“ den Rettungsdienst.
Persönlicher Favorit: „gestern mit AstraZeneca geimpft, nun schwillt Bauch an“ – nachts um drei. Es war eine Blähung.
Vor einem steht, sitzt oder liegt ein gepflegter und durchaus gebildet wirkender Mann – der mit einer chronisch-myelotischen Leukämie auch tatsächlich krank ist – dem aber dennoch jede Form der Gesundheitskompetenz abhanden geht.
Die Besprechung mit dem Kollegen auf der Anfahrt fällt mit
„Standardprogramm? Standardprogramm!“
in dem Falle kurz und bündig aus.
Scene – Safety – Situation
Scene: Sommer, Morgen, ca. 09:00 Uhr, warm, Einfamilienhaus in ländlicher Gegend
Safety: keine augenscheinlichen Gefahren.
Situation: Die Ehefrau nimmt uns in Empfang und führt uns in das Schlafzimmer, wo der Patient auf dem Bett liegt und uns schildert, dass er seit heute morgen merkwürdige Schmerzen in der rechten Schulter und Achsel hat.
In Anbetracht der Schilderung und des Gesamteindrucks entscheiden wir uns für ein erwartbares
Ersteinschätzung
Nicht kritisch.
Nichtsdestotrotz erhält auch Herr Gern-Nie seine komplette Untersuchung mit Primary Survey und Anamnese.
xABCDE
x – Exsanguination
Keine starke äußere Blutung.
A – Airway
Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose.
B – Breathing
Atemfrequenz 12/min, Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits vesikuläres Atemgeräusch, keine Halsvenenstauung, keineDyspnoe. SpO2 99 %.
C – Circulation
Haut rosig, warm, trocken, keine stehenden Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse gut tastbar; Abdomen weich, keine Abwehrspannung; Blutungsräume sonst unauffällig, RR 120/70 mmHg. Keine Angina pectoris-Beschwerden. EKG: normofrequenter Sinusrhythmus ohne Ischämiezeichen
D – Disability
GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen isokor, mittelweit, prompte Lichtreaktion; quick-FAST unauffällig, pDMS intakt, BZ 90 mg/dl.
E – Exposure/Environment
Bewegungsabhängige Schmerzen in rechter Schulter und Achsel, NRS 2-3, Onset unmittelbar nach dem Aufstehen, ziehend, ohne Ausstrahlung, ohne Änderung im zeitlichen Verlauf. Temp. 36,2°C.
Und auch hier kommt es zur Einschätzung
Einschätzung
Nicht kritisch.
Also, weiter im Text und „samplern“…
SAMPLER(S)
S – Symptome
Isolierte bewegungsabhängige Schmerzen in rechter Schulter und Achsel.
A – Allergien
Keine.
M – Medikamente
Candesartan, Bisoprolol, Imatinib, Quetiapin, Amitriptylin.
P – Vorerkrankungen
Arterielle Hypertonie, chronisch myelotische Leukämie, bekannte Depression.
L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang
Letzte orale Aufnahme: Frühstück, ca. 8:00 Uhr, Kaffee und Brötchen. Ausscheidungen unauffällig.
E – Ereignis
Mit den Symptomen aufgewacht
R – Risikofaktoren
Alter, Vorerkrankungen.
S – Schwangerschaft
Ausgeschlossen.
Also: eigentlich wie immer – ein „minor problem“, dass eigentlich nichts für den Rettungsdienst ist, bei einem vital stabilen und, aus Sicht der Untersuchungen, vollkommen unauffälligen Patienten. Am ehesten: „verlegen“, Verspannungen.
Augenscheinlich kein Infarktgeschehen, kein Pneumothorax, keine Lungenarterienembolie.
Wir bieten dennoch einen Transport zur Abklärung an, der – wie erwartet – abgelehnt wird. Der Patient möchte dann doch lieber – wie immer – den Hausarzt aufsuchen und es dort dann abklären lassen. Fein.
Während ich das Protokoll und die Verweigerungserklärung vorbereite (ja, auch oder gerade Transportverweigerungen müssen sauber dokumentiert werden) erzählt Herr Gern-Nie natürlich auch die Geschichte, dass sein Hausarzt und er ja gute Freunde sind und früher immer zusammen Tennis gespielt haben.
Ich muss mir diesmal tatsächlich auf die Zunge beißen, um nicht zu sagen
„Warum rufen Sie ihn dann nicht zuerst an?“
Ich beherrsche mich aber und behalte den Gedanken, auch meines Seelenfriedens Willen, einfach für mich.
Wir klären den Patienten auf, lassen ihn das Protokoll da und die Verweigerungserklärung unterschreiben und verabschieden uns – bis zum nächsten Mal.
Fazit
Was fand ich gut?
- saubere, strukturierte Abarbeitung des Einsatzes
- Vermeidung von Fixierungsfehlern beim „Stammkunden“
- kooperativer und einsichtiger Patient
Was fand ich nicht gut?
- der Notruf des Patienten, obwohl augenscheinlich kein gravierendes medizinisches Problem vorlag und eine Mitfahrt zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt war
- die Leitstelle, die Patienten mit derartigen Beschwerden um 9 Uhr morgens unter der Woche (nein, kein Feiertag) nicht an den Hausarzt verweist
- die Gesundheitskompetenz des Patienten.
Was ist mir wichtig? – Take-home-Message
Stammkundeneinsätze sind oft eine Gratwanderung zwischen „Professionalität wahren“ und „seinem Ärger Luft machen„.
Man sollte sich hier unbedingt vor Augen führen, dass letzteres nichts bringt außer Ärger. Das Problem wird dadurch nicht gelöst und die Anrufe werden auch nicht weniger.
Auch wenn man bei psychosozialen Notfällen – worunter auch die Stammkunden häufig fallen – mit gezielter Beratung und Vermittlung an die passenden Stellen den nicht indizierten Einsätzen langfristig Abhilfe schaffen kann, zeichnen sich die Stammkunden bisweilen auch durch eine gewisse Beratungsresistenz aus.
Letztendlich: man redet hier oft gegen eine Wand und steht ein paar Tage oder Wochen später wieder in der gleichen Situation.
Eine Akzeptanz dieser Grundsituation tut den solchen Fällen Not. Es hilft niemanden, sich darüber aufzuregen. Die meist sehr tiefgehenden Probleme, die unsere Stammkunden haben, wird der Rettungsdienst schlichtweg nie lösen können. Das kann hier auch nicht unser Anspruch sein.
Wichtig ist hier allerdings auch: Fixierungsfehler vermeiden. Auch Stammkunden müssen korrekt untersucht werden, auch bei Stammkunden wird die Anamnese erhoben, auch Stammkunden werden mit einem Mindestmaß an Freundlichkeit und Professionalität behandelt. Auch oder gerade dann, wenn man sich (berechtigterweise) ändert.
Auch die Stammkunden sind Teil unserer rettungsdienstlichen Arbeit.
Aber: „Bauchpinseln“ muss man sie nicht – und man darf durchaus auch ehrlich zu den Menschen sein, wobei man hier keine roten Linien des Anstands oder der Professionalität überschreiten sollte.
Interessenkonflikte
Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Quellen
SaniOnTheRoad (2021): Die Sache mit der Gesundheitskompetenz, abgerufen unter https://saniontheroad.com/die-sache-mit-der-gesundheitskompetenz/ am 21.05.2022
SaniOnTheRoad (2020): Psychosoziale Notfälle im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/psychosoziale-notfalle-im-rettungsdienst/ am 21.05.2022
SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 21.05.2022
YouTube (2022): Fire Department Chronicles, abgerufen unter https://www.youtube.com/channel/UCZbWCodPFwH2QQn772QnUxQ am 21.05.2022
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Servus Sani, danke für den tollen Beitrag. Wird denn einem Dauerkunden, der jedoch nie mitfährt, der Aufwand nicht in Rechnung gestellt? Oder zahlt die Krankenkasse diesen teuren, unnötigen Aufwand?
LG Kristine
Hallo Kristine,
vielen Dank für dein Feedback!
In aller Regel können, respektive werden, solche Fehleinsätze nicht in Rechnung gestellt – dafür fehlt in aller Regel die Grundlage, nur einige Gebührensatzungen sehen diese Möglichkeit überhaupt vor. Bei uns ist das nicht der Fall.
Die Kosten dieser Fehleinsätze werden in aller Regel auf die anderen Einsätze „umgelegt“, teilweise erstattet der Träger des Rettungsdienstes auch eine Pauschale.
Ich verweise hier einfach mal auf einen früheren Beitrag.
LG