Psychosoziale Notfälle im Rettungsdienst

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Rettungsdienst aktuell – Themen die den Rettungsdienst, seine Mitarbeiter und Interessierte beschäftigen. Von leitliniengerechter Arbeit bis zur gesellschaftskritischen Diskussion.

Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Sie haben zweifellos einen schlechten Stand im Rettungsdienst: die psychosozialen Notfälle. Oftmals löst schon die Einsatzmeldung “Soziale Krise” oder “Versorgungsproblem” Abneigung aus. Psychosoziale Notfälle gelten aus Sicht vieler Kollegen als, hart ausgedrückt, “Pillepalle-Einsätze”, die sowieso nichts für den Rettungsdienst sind. Der Fehleinsatz, der noch vor Drücken des Status 3 zu einem gemacht wird.

Soviel zu den Vorurteilen.

Wir müssen jedoch festhalten: psychosoziale Notfälle sind keine Randerscheinung. Sie machen schon heute einen erheblichen Anteil aller Rettungsdiensteinsätze aus. Und auch diese Menschen haben einen Anspruch auf Hilfe.

Wir halten weiterhin fest: der Rettungsdienst ist ebenfalls in den 2020ern angekommen und muss sich entsprechenden Herausforderungen annehmen. Das schließt einen professionellen Umgang mit psychosozialen Hilfeersuchen einfach mit ein.

Denn: Pillepalle sind sie nicht. Einen Schwerverletzten kann man strukturiert nach xABCDE abarbeiten. Beim psychosozialen Notfall braucht es Hirnschmalz, um eine individuelle Lösung zu finden.

Was ist ein psychosozialer Notfall?

Psychosoziale Notfälle sind teilweise nur schwer von psychiatrischen Notfällen und Problemen sowie medizinischen Problemen abzugrenzen; übergreifendes Kennzeichen ist jedoch meist ein Versagen sozialer “Auffangstrukturen”. Das kann von der Familie bis zur Gesellschaft als Ganzes reichen.

“Ein psychosozialer Notfall ist eine durch eine soziale Mangelsituation getriggerte Exazerbation einer psychischen Erkrankung oder Störung, welche im Gegensatz zur Krise eine unmittelbare gesundheitliche Gefahr in sich birgt. Gemeinsames Charakteristikum ist das Versagen sozialer Ressourcen in Familie, Wohn- und Arbeitsumfeld oder Gesellschaft.”

Thieme.de: Psychosoziale Notfälle – Einsatz für den Notarzt?

Dementsprechend häufig sind (Bedrohung von) Obdachlosigkeit, Verwahrlosung, Pflegenotstände, Verlust des Arbeitsplatzes, Tod naher Angehöriger etc. Ursachen für soziale Krisen und gegebenenfalls auch Einsatzgrund für den Rettungsdienst.

Das Vorgehen bei psychosozialen Notfällen

Hauptziele rettungsdienstlichen Handelns

  • medizinische Behandlungsnotwendigkeiten erkennen
  • akutes psychosoziales Problem identifizieren und
  • an geeignete Hilfseinrichtungen weitervermitteln.

Um es vorneweg zu nehmen: eine offene und möglichst vorurteilsfreie Grundhaltung wird den Umgang mit psychosozialen Notfällen wesentlich erleichtern. Auch, wenn es schwer fällt.

Ein pauschaler Transport ins Krankenhaus ohne medizinische Indikation ist ebenso wenig notwendig wie sinnvoll – kurzfristig mag damit zwar Abhilfe geschaffen werden, langfristig ändert sich am zugrundeliegenden Problem nichts.

Eine Klinikeinweisung macht nur dann Sinn, wenn ein medizinisches Problem vorliegt, dass dies rechtfertigt. Um dies zu evaluieren, macht neben einer “normalen” Notfallanamnese nach SAMPLER auch ein xABCDE-Vorgehen Sinn.

Meist wichtiger ist allerdings eine entsprechende psychosoziale Anamnese. Und für die sollte man sich Zeit nehmen und zuhören. Klingt einfach – ist es für viele allerdings nicht. Zuhören bedeutet

  • Interesse zeigen,
  • die Bereitschaft und
  • die Fähigkeit

zuzuhören aufbringen zu müssen. Das aktive Zuhören nach Carl Rogers bietet eine gute Basis für ein sinnvolles und zielführendes Gespräch – dem Patienten ist eine positive Wertschätzung entgegen zu bringen (Verurteilungen bringen keinen der Beteiligten weiter), ein empathischer Umgang mit dem Patienten sollte selbstverständlich sein und die Kommunikation des Rettungsdienstlers sollte authentisch wirken.

Im Verlauf des Gesprächs ist zu ermitteln:

Wo liegt aus der Sicht des Betroffenen das Problem? Aus welchem Grund wurde der Rettungsdienst alarmiert? Wie ist die Lebenssituation des Betroffenen? Welche Hilfsangebote aus dem privaten Umfeld (Freunde, Familie, Nachbarn, Kollegen) können oder sollen aktiviert werden? Welche professionellen Hilfsangebote sollen oder werden in Anspruch genommen? Aber auch: welche Hilfe ist aus Sicht des Rettungsdienstes erforderlich?

Vordringlich sollte abgeklärt werden, welche Ziele der Betroffene selbst hat.

Es muss gemeinsam evaluiert werden, wo das Hauptproblem liegt und welche Hilfe zur Lösung der Problematik sinnvoll und notwendig ist. Eine partizipative Entscheidungsfindung ist meist die sinnvollste Methode, um einen psychosozialen Notfall zu lösen.

Es ist nicht Aufgabe des Rettungsdienstes, diese Hilfe selbst zu leisten – es ist allerdings durchaus als Aufgabe zu sehen, den Betroffenen an die richtigen Stellen zu verweisen und diese gegebenenfalls in Einvernehmen mit dem Betroffenen zu informieren.

Welche Stellen infrage kommen, hängt grundsätzlich von der Art des psychosozialen Notfalls ab. Denkbar sind zum Beispiel

  • Frauenhäuser,
  • Familienhilfe,
  • Ordnungsamt,
  • Jugendamt,
  • Gesundheitsamt,
  • Hausarzt oder ärztlicher Bereitschaftsdienst,
  • Suchthilfeeinrichtungen,
  • Pflegenotdienste,
  • Sozialstationen oder auch
  • sozialpsychiatrische Dienste (wo verfügbar).

Wichtig ist vor allem eins: der Betroffene muss angemessene Hilfe erhalten – ansonsten entsteht schlimmstenfalls ein “Teufelskreis” aus dem Versagen sozialer Hilfe, Alarmierungen des Rettungsdienstes und einer Kette aus Fehleinsätzen.

Im Prinzip sind also durchaus ein erheblicher Teil dieser Einsätze auf ein “Versagen” des Rettungsdienstes zurückzuführen. Oder anders: für dieses Problem sind mitunter auch “wir selbst” mitverantwortlich. Sowohl in der Funktion als Rettungsdienstler, als auch als Teil dieser Gesellschaft. Zeit, es zu ändern.

Literaturempfehlung

Linden, A. E. (2019): Psychologie und Kommunikation für Notfallsanitäter, 1. Auflage. LUHRI Verlagsgesellschaft, Bonn.

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Zusammenfassung

Die wichtigsten Punkte im Umgang mit psychosozialen Notfällen

  • Zeit nehmen!
  • Vorurteilsfrei handeln! Den Patienten ernst nehmen, vorschnelle “gute Ratschläge” vermeiden.
  • Eigenschutz beachten!
  • Medizinische Probleme evaluieren! Vermeide Fixierungsfehler.
    • xABCDE
    • SAMPLER
    • Standardmonitoring
  • Psychosoziale Anamnese – wo liegt das Problem, welche Hilfe ist erforderlich? Patientenziele klären!
  • “Lenkungsfunktion” annehmen
    • Partizipative Entscheidungsfindung mit Einbindung des Patienten
    • Unterstützung bei der “Hilfe zur Selbsthilfe”
    • Aktivierung von passenden Hilfseinrichtungen und Verweis auf passende Hilfsangebote in Einvernehmen mit dem Betroffenen

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass es sich bei den verlinkten Büchern um Affiliate-Links handelt. Eine Einflussnahme bei der Auswahl der Literatur ist dadurch nicht erfolgt.

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

AMBOSS (2022): Arzt-Patient-Beziehung, Stand 22.12.2022, abgerufen unter https://next.amboss.com/de/article/OK0IgS am 20.04.2023

AMBOSS (2022): Untersuchung und Gespräch, Stand 14.10.2022, abgerufen unter https://next.amboss.com/de/article/3K0STS am 20.04.2023

Enke K., Flemming A., Hündorf H.-P., Knacke P., Lipp R., Rupp P. (2018): Lehrbuch für präklinische Notfallmedizin, Band 1, 5. Auflage. Verlagsgesellschaft Stumpf & Kossendey mbH, Edewecht. ISBN: 978-3-943174-41-0. Aktuelles Gesamtwerk (3 Bände, 6. Auflage, 2019) hier erhältlich: https://amzn.to/3UOBXVX

Faller H., Lang H. (2019): Medizinische Psychologie und Soziologie, 5. überarbeitete Auflage. Springer-Verlag Berlin. ISBN: ‎978-3-662-57971-8. DOI: 10.1007/978-3-662-57972-5. Hier erhältlich: https://amzn.to/3V7H5ol

Karutz H. (2014): Der psychosoziale Notfall: Für den Rettungsdienst ein Fehleinsatz?, abgerufen unter https://www.harald-karutz.de/wp-content/uploads/2019/09/Karutz_Artikel_Psychosozialer_Notfall.pdf am 03.02.2022

Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3KDPcDY

Thieme (2015): Psychosoziale Notfälle – Einsatz für den Notarzt?, abgerufen unter https://www.thieme.de/de/anaesthesiologie/psychosoziale-notfaelle-57119.htm am 03.02.2022

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Über SaniOnTheRoad

Psychosoziale Notfälle im Rettungsdienst

SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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