Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.
Nicht jeder Notfall ist ein Notfall
Es ist praktisch ein offenes Geheimnis, dass wohl jeder Rettungsdienstler nach vergleichsweise kurzer Zeit erfährt: nicht jeder Einsatz ist gerechtfertigt.
Dabei geht es noch nicht einmal um die Einsätze mit psychosozialer Indikation – die weitläufig als „unnötig“ empfunden werden – sondern um die Einsätze, wo man tatsächlich jegliche Indikation für den Rettungsdienst infrage stellen muss. Einfach aus dem Grund, da es einem medizinischen Laien mit einfachsten, naheliegenden Überlegungen möglich ist, eine akute Lebensgefahr oder dringenden Handlungsbedarf auszuschließen.
Derartige Einsätze bringen gleich mehrere Probleme mit sich: einerseits verursachen sie vermeidbare Kosten, sie produzieren „unnötige“ Einsätze, blockieren Rettungsmittel und verursachen (bei korrekter Durchführung) denselben Dokumentationsaufwand wie ein akuter Notfall.
Ein solcher Einsatz der letzten Wochen fiel leider genau in diese Kategorie…
Einsatzdaten
Einsatzmeldung: Herz-Kreislauf sonstiges, Atmung sonstiges. Info: Anrufer nicht vor Ort.
Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, mit Sonder-/Wegerechten.
Der ausgeprochen ruhige Tagdienst auf einer unserer Außenwachen wird am Nachmittag durch einen Einsatz unterbrochen – es geht in ein Nachbarort, die Anfahrt beträgt etwas mehr als fünf Minuten.
Und schon die Einsatzmeldung lässt vermuten:
„Das kann nichts gravierendes sein.“
Nichtsdestotrotz „tun wir so, als ob“ – und gehen auf der Anfahrt die Überlegungen der Worst-Case-Szenarien durch und besprechen die Strategie.
Scene – Safety – Situation
Scene: Winter, Nachmittag, 16:00, kalt, trocken, Einfamilienhaus in ländlicher Umgebung.
Safety: Keine augenscheinlichen Gefahren.
Situation: Nachbar des Patienten weist uns ein; er habe auf Wunsch des Patienten angerufen. Die sichtlich aufgelöste Ehefrau empfängt uns an der Tür und führt uns zu dem Patienten (ca. 80 Jahre), welcher im Schlafzimmer im Bett liegt.
Unser Patient fixiert uns beim Hereinkommen und begrüßt uns freundlich. Die Ersteinschätzung ist mit
Ersteinschätzung
Nicht kritisch.
dann doch nicht besonders überraschend. Entspannung. Um die immer noch unklare Grundsituation etwas abschätzen zu können, frage ich den Patienten, was wir für ihn tun können.
„Seit über einer Woche habe ich so Husten und es wird nicht besser.“
Ich stutze. Die Frage „Warum haben sie anrufen lassen?“ konnte ich einfach nicht blumiger umschreiben.
„Ich hatte letzte Nacht so schlecht Luft bekommen“
Ich blicke auf die Uhr im Schlafzimmer. Kurz nach 16 Uhr. Letzte Nacht war es so schlimm. Vorneweg also mal locker zwölf Stunden seit dem „Akut“ereignis. Unwillkürlich frage ich mich, ob irgendwo eine versteckte Kamera ist. Erneute Nachfrage meinerseits: warum haben sie jetzt anrufen lassen? Hat es sich verschlimmert?
Auf erstere Frage konnte der Patient keine wirkliche Antwort geben – die zweite Frage hat er eindeutig verneint.
In Anbetracht der Gesamtsituation starten wir dann doch – mäßig entnervt – ins Primary Survey:
xABCDE
x – Exsanguination
Keine starke äußere Blutung.
A – Airway
Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose.
B – Breathing
Atemfrequenz 14/min, keine obere Einflussstauung, Thorax stabil, Atemexkursionen regelrecht, Pulmo bds. VAG, SpO2 96 %. Aktuelle Dyspnoe wird seitens des Patienten verneint. Gelegentliches Husten
C – Circulation
Haut rosig, warm trocken, stehende Hautfalten; Rekapillarisierungszeit > 2 Sekunden, periphere Pulse beidseits gut tastbar; Blutungsräume unauffällig, RR 130/90 mmHg. EKG: Sinusrhythmus, HF 75/min.
D – Disability
GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen isokor, mittelweit, beidseits prompte Lichtreaktion; quick-FAST unauffällig, pDMS intakt, BZ 121 mg/dl.
E – Exposure/Environment
Bodycheck: keine erkennbaren Verletzungen, kein vorausgegangenes Trauma, keine Beinödeme, Temp. 36,6°C. SIRS & qSOFA negativ.
Ebenfalls wenig überraschend bleibt es bei einem
Einschätzung
Nicht kritisch.
Mein Kollege beginnt schon mal, die Sachen zusammenzuräumen, während ich mich um die Anamnese kümmere.
SAMPLER(S)
S – Symptome
Unproduktiver Husten seit über einer Woche, keine akute Dyspnoe; Pat. habe in der Nacht kurzzeitig schlecht Luft bekommen. Keine Änderung der Symptomatik im zeitlichen Verlauf.
A – Allergien
Keine.
M – Medikamente
Bisoprolol, Ramipril, Torasemid.
P – Vorerkrankungen
aHT, Herzinsuffizienz; sonst keine weiteren ermittelbar.
L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang
Letzte orale Aufnahme: Mittagessen, 12:00. Stuhlgang und Miktion unauffällig.
E – Ereignis
Kein Akuterereignis.
R – Risikofaktoren
Vorerkrankungen, Alter.
S – Schwangerschaft
Ausgeschlossen.
Tja, was nun?
Ich erläutere dem Patienten die Untersuchungsergebnisse und seine Optionen – und mit dem Fallen des Wortes „Krankenhaus“ wird schnell deutlich, was der Wille des Patienten ist. Ins Krankenhaus will er natürlich nicht.
Also: morgen zum Hausarzt oder heute den ärztlichen Bereitschaftsdienst anrufen. Der Patient erklärt sich damit einverstanden, ich erledige die „Büroarbeit“ – Protokoll und Mitfahrtverweigerung – und wir machen uns mit der Rückmeldung
„Patient mit Erkältung sucht dann doch morgen lieber den Hausarzt auf“
auf dem Weg Richtung Wache.
Fazit
Was fand ich gut?
- strukturierte, umfassende Untersuchung des Patienten trotz „Genervtheit“
- konsequente Vermeidung von Fixierungsfehlern
Was fand ich nicht gut?
- Der Notruf – eine akute oder drohende Lebensgefahr lag hier augenscheinlich nicht vor; das Absetzen des Notrufs über Dritte führte hier augenscheinlich zum „Stille-Post-Prinzip“.
Was ist mir wichtig? – Take-home-Message
Man kann nun zur Debatte stellen, was die „Motivation“ hinter dem Notruf war. War es wirklich einfach eine massive Fehleinschätzung der Lage? War es ein Versuch, den Ehemann „wegzukriegen“? War es die Unlust, auf einen Termin beim Hausarzt am nächsten Tag zu warten? Oder eine Kombination von all dem?
Wichtig ist mir eine relativ simple Feststellung: es gibt viele rettungsdienstliche Einsätze, die durchaus eine Indikation haben, auch wenn sie auf den ersten Blick keineswegs offensichtlich ist – es gibt aber auch genauso gut Einsätze, die einfach eine unangemessene Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen darstellen.
Und letztere sind tatsächlich ein Problem. Sie werden zum einen immer mehr – und zum anderen sinkt die „Hemmschwelle“ immer weiter. Das geht soweit, dass man schlicht und ergreifend derartige Notrufe keineswegs mehr ausschließlich durch „Unwissen“ oder Fehleinschätzungen erklären kann.
Der Rettungsdienst wird hier bisweilen auch vollkommen wissentlich und willentlich missbraucht. Das ist durchaus auf unzureichende andere (und eigentlich zuständige) Versorgungsstrukturen wie dem ärztlichen Bereitschaftsdienst oder den Hausärzten, gerade auf dem „platten Land“, zurückzuführen; aber auch an ein deutlich gestiegenes Anspruchsdenken der Menschen, welches immer mehr in Richtung „Konsumentenmodell“ geht.
Nichtsdestotrotz gilt auch hier die Maßgabe: bis zum Ausschluss schwerwiegender Erkrankungen und Verletzungen erhält jeder Patient gleichermaßen die übliche rettungsdienstliche Standardversorgung.
Fixierungsfehler sind unbedingt zu vermeiden – dementsprechend sollte man niemals die Entscheidung „Patient kann zuhause bleiben“ undifferenziert und ohne entsprechende Abklärung (und vor allem niemals, niemals, niemals ohne vollständige Dokumentation) treffen.
Ebenfalls wichtig finde ich allerdings auch, nicht „den Bock zum Gärtner“ zu machen.
Der Rettungsdienst sollte sich nicht aneignen, Aufgaben Dritter – für die weder eine fachliche Zuständigkeit, noch die passende Ausbildung, noch das Equipment vorhanden ist – regelhaft zu übernehmen. Dies führt letztendlich dazu, dass
- die zuständigen Aufgabenträger keinerlei Notwendigkeit sehen, etwas an ihren Problemen zu beheben und
- die Patienten letztendlich eine positive Verstärkung für die unangemessene Inanspruchnahme des Rettungsdienstes erfahren und die Häufigkeit langfristig zunehmen wird.
Es gilt hier – sinngemäß zur Arztrolle nach Talcott Parsons – die funktionelle Spezifität: innerhalb des rettungsdienstlichen Aufgabengebiets muss der Rettungsdienst vollumfassend tätig werden; außerhalb des Aufgabengebiets sind die Patienten konsequent an die zuständigen Stellen zu verweisen.
Interessenkonflikte
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Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Quellen
AMBOSS (2022): Arzt-Patient-Beziehung, Stand 22.12.2022, abgerufen unter https://next.amboss.com/de/article/OK0IgS am 04.02.2022
Faller H., Lang H. (2019): Medizinische Psychologie und Soziologie, 5. überarbeitete Auflage. Springer-Verlag Berlin. ISBN: 978-3-662-57971-8. DOI: 10.1007/978-3-662-57972-5. Hier erhältlich: https://amzn.to/3HzXxad Affiliate-Link
Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3QVgyqE Affiliate-Link
SaniOnTheRoad (2021): Fehleinsätze und Fehlfahrten im Rettungsdienst und ihre Kosten, abgerufen unter https://saniontheroad.com/fehleinsatze-und-fehlfahrten-im-rettungsdienst-und-ihre-kosten/ am 04.02.2023
SaniOnTheRoad (2021): Die Sache mit der Gesundheitskompetenz, abgerufen unter https://saniontheroad.com/die-sache-mit-der-gesundheitskompetenz/ am 04.02.2023
SaniOnTheRoad (2020): Psychosoziale Notfälle im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/psychosoziale-notfalle-im-rettungsdienst/ am 04.02.2023
SaniOnTheRoad (2020): Der ärztliche Bereitschaftsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/der-arztliche-bereitschaftsdienst/ am 04.02.2023
SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 04.02.2023
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