Fakt oder Mythos: Keine Maßnahmen an der gelähmten Seite beim Schlaganfall?

medical imaging of the brain

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Auch unter meinen rettungsdienstlichen „Lieblingsmythen“ – neben dem Glucosetest bei vermuteter Liqurrhoe – findet sich auch die oft gepredigte Aussage

„Keine Maßnahmen an der gelähmten Seite bei einem Schlaganfall!“

Dies wurde über Jahre und Jahrzehnte in die Köpfe vieler Rettungsdienstler gehämmert und führt in der Praxis auch heute noch zu fragenden Blicken, ob man überhaupt ein Pulsoxymeter an der paretischen Seite anbringen darf.

Umso erstaunlicher ist es, dass dieses „Gesetz“ von seinen Vertretern in der Praxis kaum erklärt und noch weniger begründet werden kann. Ein mürriges

„Macht man halt nicht“

ist da oft das höchste der Gefühle. Selbst eine simple Google-Suche mit den entsprechenden Begriffen liefert eigentlich keine verwertbaren Ergebnisse.

Das ist für mich zumindest mal Grund genug, diesem „Mythos“ mal doch etwas näher auf den Grund zu gehen…

Kurzabriss über die Pathophysiologie des Schlaganfalls

Rufen wir uns doch noch einmal kurz ins Gedächtnis, was bei einem Schlaganfall überhaupt so passiert…

Egal, ob wir nun den klassischen ischämischen Schlaganfall betrachten oder die selteneren intrakraniellen Blutungen: wir haben eine akute Minderperfusion eines Hirnareals als Ausgangspunkt unseres Pathomechanismus.

Was passiert?

Durch die unterbrochene Blutversorgung eines Hirnareals kommt es zu einer Minderversorgung der Neuronen mit Nährstoffen – und vor allem Sauerstoff. Die Hypoxie im Gewebe ist dabei das, was letztendlich den Neuronen den Garaus macht.

Ohne Sauerstoff haben wir keine ausreichende Energiebereitstellung in Form von ATP, was dazu führt, dass alle energieabhängigen Prozesse – hier vor allem die Natrium-Kalium-Pumpe – langsam aber sicher zum Erliegen kommen. Die Folge ist eine hypoxische Depolarisation mit unkontrollierten Ioneneinstrom – die Osmolarität der Zelle nimmt zu, Wasser strömt nach und die Zelle platzt irgendwann. Wir haben eine Nekrose.

Der Sauerstoffmangel führt zudem unmittelbar zu einer Zunahme des anaeroben Stoffwechsels mit nachfolgender Lactatazidose, welche selbst unmittelbar zur Schädigung zellulärer Strukturen führen kann.

Der Haken dabei ist: Neurone im zentralen Nervensystem sind kaum regenerationsfähig. Oder anders: was kaputt ist, bleibt kaputt.

Das rettungsdienstliche Handeln legt den Fokus darauf, die Vitalfunktionen zu sichern, die Durchblutung der „Infarktrandzone“ (Penumbra) möglichst aufrecht zu erhalten und den Patienten schnellstmöglich einer geeigneten Behandlungseinrichtung zuzuführen.

Symptomatisch zeigen sich beim „Lehrbuch-Schlaganfall“, meist in Form eines Mediainfarkts, eben die typischen arm- und gesichtsbetonten Hemiparesen bis Hemiplegien und/oder akut aufgetretene Sprachstörungen eben durch einen Ausfall der entsprechenden Innervation.

Maßnahmen an der gelähmten Seite

Nun gilt beim Schlaganfall „Time is brain“ und auch eine strukturierte Abarbeitung wird erwartet. Das geht natürlich einfacher, wenn man letztendlich beide Arme zur Verfügung hat. Also: warum nicht auch den paretischen Arm nutzen? Oder sprechen gute Gründe dagegen?

Neben einem Primary Survey und einem Standardmonitoring mittels Pulsoxymetrie, EKG, engmaschiger Blutdruckkontrolle, Blutzucker- und Temperaturmessung gehört hier auch das FAST/BE-FAST zum diagnostischen Standard.

Eine Sauerstoffgabe bei drohender Hypoxie oder akut kritischen Patienten ist neben der Lagerung und einem i.v.-Zugang samt angepasster Volumentherapie der rettungsdienstliche Versorgungsstandard.

Gerade beim i.v.-Zugang – und seltener auch bei der Blutdruckmessung – scheiden sich die Geister, ob so etwas an dem gelähmten Arm zulässig ist…

Medizinische Betrachtung

Für die medizinische Betrachtung macht der Blick auf die Pathophysiologie und die daraus resultierenden Folgen durchaus Sinn.

Durch den Ausfall der Innervation aufgrund der neuronalen Schädigung kommt es hier zu Schwächung (Parese) oder vollständigen, primär schlaffen Lähmung (Plegie) der betroffenen Seite. Die augenscheinlichste Folge ist: die Muskulatur kann nicht mehr benutzt werden, der Arm kann nicht mehr bewegt werden.

Etwas weniger augenscheinlich sind die daraus resultierenden Folgen: durch den Ausfall der Muskulatur fällt zugleich einer der wichtigsten Unterstützungsmechanismen des venösen Rückstroms aus – die Muskelpumpe.

Die Verschlechterung des venösen Rückstroms kann durchaus medizinische Folgen haben, das sind vor allem

  • eine schlechtere Verteilung und ein langsamerer Wirkungseintritt von verabreichten Medikamenten ,
  • eine erhöhte Neigung zur Thrombenbildung an der Verweilkanüle durch den langsameren Rückstrom mit dem Risiko einer Thrombophlebitis,
  • ein erhöhter venöser Druck mit erhöhter Filtration von Blutplasma, im Extremfall bis zum Lymphödem.

Aus medizinischer Sicht macht hier wenigstens die Überlegung Sinn, den gelähmten Arm nicht als erste Wahl für den i.v.-Zugang zu nutzen. Diese Risiken sind bei einer (auch intermittierenden) Blutdruckmessung an der gelähmten Seite meines Erachtens jedoch zu vernachlässigen.

Gleichermaßen muss man sich die Frage stellen: welche Relevanz haben diese Probleme in einem notfallmedizinischen Setting?

Praktische Betrachtung

Man kann die ganze Angelegenheit natürlich auch „rettungsdienstlich-pragmatisch“ betrachten.

Eine gelähmte Extremität kann nicht aktiv bewegt werden und beispielsweise herunterfallen, irgendwo hängen bleiben und entsprechend zur Dislokation eines dort gelegten venösen Zugangs führen.

Ist die Sensibilität gestört, kann das im ungünstigsten Fall unbemerkt geschehen und sowohl zu Paravasaten als auch zu Blutungen führen. Bei der Blutdruckmessung sind solche Effekte nicht zu erwarten.

Aus rein praktischen Gesichtspunkten bietet es sich ebenfalls an, zumindest einen intravenösen Zugang möglichst auf der nicht gelähmten Seite zu etablieren.

Was sagen Literatur und Leitlinien?

Hier wird es nun spannend…

Betrachtet man entsprechende Leitlinien zur Schlaganfallversorgung – hier berücksichtigt die S3-Leitlinie Schlaganfall, AWMF-Registernummer 053-011 und die S2e-Leitlinie zur Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls, AWMF-Registernummer 030-046 – findet man keine Hinweise oder Empfehlungen hinsichtlich der Seitenwahl des venösen Zugangs oder der Seite der Blutdruckmessung.

Wirft man einen Blick auf unterschiedlichste rettungsdienstliche und weiterführende Fachliteratur wird das Ergebnis schon uneinheitlicher.

Die Anlage eines venösen Zugangs „möglichst an der nicht gelähmten Seite“ wird von einem Teil favorisiert (Topka et al. (2023), Berberich et al. (2024)), Ziegenfuß (2021), Böhmer et al. (2020)), bei anderen Quellen teils gar nicht erst erwähnt (Luxem et al. (2020), Bohn et al. (2019), Hacke (2016)).

Die im Rahmen meiner Literaturrecherche berücksichtigten rettungsdienstlichen Algorithmen (DBRD-Musteralgorithmen 2024 und die Ausbildungs- und Behandlungsalgorithmen für Notfallsanitäter in Rheinland-Pfalz (2023)) machen keine Angabe über die Seitenwahl des i.v.-Zugangs.

Hinsichtlich der Blutdruckmessung wurde keine einzige Quelle gefunden, welche von der Messung an der gelähmten Seite abrät.

Fazit

Was heißen diese Ergebnisse für die Praxis?

„Fakt“ ist: die Anlage eines venösen Zugangs sollte tatsächlich bevorzugt an der nicht gelähmten Seite erfolgen. Das ist der wahre Kern, der hinter diesem rettungsdienstlichen Mythos steckt.

Die Anlage an der gelähmten Seite wird von keiner Quelle untersagt – es wird aber auf Risiken und Probleme hingewiesen, die diese mit sich bringen kann. Es ist ein „möglichst“ – und damit ein lediglich ein „muss, wenn kann„. Sofern die Anlage eines venösen Zugangs an der nicht gelähmten Seite möglich ist, sollte sie auch dort erfolgen. Wenn nicht: dann nicht.

Man muss sich hier vor allem die Frage stellen, wie relevant dies in dem typischen präklinischen Setting ist.

Gerade wenn neben dem Schlaganfall eine vitale Bedrohung im Raum steht, ist der Nutzen eines venösen Zugangs (auch an der gelähmten Seite) meist deutlich größer als potentielle Risiken, die durch die dortige Anlage entstehen können.

Dass ein venöser Zugang unter keinen Umständen an dem gelähmten Arm gelegt werden darf – das ist ein Mythos ohne Grundlage.

Auch das „Verbot“ der Blutdruckmessung am gelähmten Arm entbehrt sich jeder fachlichen Grundlage und ist damit ebenfalls als Mythos zu betrachten.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass es sich bei den verlinkten Büchern um Affiliate-Links handelt. Es entstehen keine zusätzlichen Kosten bei der Bestellung über den Link. Eine Einflussnahme bei der Auswahl der Literatur ist dadurch nicht erfolgt. Siehe auch: Hinweise zu Affiliate-Links.

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

Ärztliche Leiter Rettungsdienst Rheinland-Pfalz (2023): Ausbildungs- und Behandlungsalgorithmen für Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter (NotSan) in Rheinland-Pfalz, Stand 30.09.2023, abgerufen unter https://www.aelrd-rlp.de/index.php/download/ausbildungsalgorithmen-notsan-rheinland-pfalz-2023/ am 18.02.2024

Berberich A. et al. (2024): Prähospitale Diagnostik und Therapie des akuten Schlaganfalls. Notfall Rettungsmed (2024). Abgerufen unter https://www.springermedizin.de/content/pdfId/26666352/10.1007/s10049-023-01273-3 am 18.02.2024. DOI 0.1007/s10049-023-01273-3

Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/458DGcB Affiliate-Link

Deutscher Berufsverband Rettungsdienst e.V. (2024): Musteralgorithmen 2024 zur Umsetzung des Pyramidenprozesses im Rahmen des NotSanG, Version 9.1, abgerufen unter https://www.dbrd.de/images/algorithmen/DBRDAlgo24_Web_3.pdf am 18.02.2024

Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e.V. (2022): S3-Leitlinie Schlaganfall, AWMF-Registernummer 053-011, abgerufen unter https://register.awmf.org/assets/guidelines/053-011l_S3_Schlaganfall_2023-05.pdf am 18.02.2024

Deutsche Gesellschaft für Neurologie (2022): S2e-Leitlinie zur Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls, AWMF-Registernummer 030-046, abgerufen unter https://dnvp9c1uo2095.cloudfront.net/cms-content/030-046l_Akuttherapie_Isch%C3%A4mischer_Schlaganfall_V5.1_221109_1669646650700.pdf am 18.02.2024

Hacke W. (2015): Neurologie, 14. Auflage. Springer-Verlag Berlin/Heidelberg. ISBN 978-3-662-46891-3. DOI 10.1007/978-3-662-46892-0. Hier erhältlich: https://amzn.to/3I3hOpn Affiliate-Link

Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3q8w62I Affiliate-Link

SaniOnTheRoad (2020): Fakt oder Mythos: Glucosetest zur Identifikation einer Liquorrhoe, abgerufen unter https://saniontheroad.com/fakt-oder-mythos-glucosetest-zur-identifikation-einer-liquorrhoe/ am 18.02.2024

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 18.02.2024

Scholz J., Gräsner J.-T., Bohn A. (2019): Referenz Notfallmedizin. Georg Thieme Verlag KG. ISBN 978-3-13-241290-3. DOI: 10.1055/b-006-149615. Hier erhältlich: https://amzn.to/3uhENtA Affiliate-Link

Topka H., Eberhardt O. (2023): Neurologische Notfälle, 2. überarbeitete Auflage. Georg Thieme Verlag KG. ISBN 978-3132438156. Hier erhältlich: https://amzn.to/480Wlb2 Affiliate-Link

viamedici (2023): Neurologische und psychiatrische Notfälle (Stand 18.09.2023). Lernmodul in viamedici.thieme.de. ©2024 Georg Thieme Verlag KG. Abgerufen unter https://viamedici.thieme.de/lernmodul/8659448/4915570/neurologische+und+psychiatrische+notf%C3%A4lle am 18.02.2024

Ziegenfuß T. (2022): Notfallmedizin, 8. Auflage. Springer-Verlag Berlin/Heidelberg. ISBN 978-3-662-46891-3. DOI 10.1007/978-3-662-46892-0. Hier erhältlich: https://amzn.to/3uNocxX Affiliate-Link

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Über SaniOnTheRoad

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SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im klinischen Abschnitt des Studiums. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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