Nur ein akuter Bauch?

question mark on chalk board

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Das diagnostische Dilemma

Trotz aller Ausbildung und aller technischen Möglichkeiten, die die präklinische Notfallmedizin mittlerweile bietet, gibt es einfach bestimmte Krankheitsbilder, bei denen man „nicht drin steckt“.

Gerade „Bauchgeschichten“ sind für die Differentialdiagnose im Rettungsdienst sozusagen der Endgegner. Es gibt dutzende Möglichkeiten für Bauchschmerzen, die sich von der Symptomatik her recht ähnlich sind, die Abgrenzung gestaltet sich schwierig und „unangenehm, aber nicht schlimm“ und akut lebensbedrohlich liegen oft sehr nah beieinander.

Deshalb arbeitet man hier auch mit dem Begriff des akuten Abdomens – oder eben dem „akuten Bauch“ – als Arbeitsdiagnose. Darunter werden alle potentiell lebensbedrohlichen Erkrankungen des Bauchraums mit den Leitsymptom „abdomineller (Vernichtungs-)Schmerz“ sowie ggf. Peritonismus (Abwehrspannung) und Kreislaufinsuffizienz zusammengefasst.

Das Problem ist hier auch das oftmals fehlende Feedback von der Klinik, was das „akute Abdomen“ denn nun wirklich war.

In diesem Fall hat es nach einiger Zeit tatsächlich mich erreicht – und es war…erschreckend.

Hoffentlich eine ruhige Nacht…

Auch wenn ich Nachtschichten prinzipiell mag: diese Nachtschicht hatte ich eher auf Ruhe gehofft – tagsüber viel zu tun und keine Zeit zum Ausruhen, und dann noch mit einer maximal unmotivierten Kollegin unterwegs, die auch fachlich…weniger fit ist.

Gerade eine halbe Stunde im Bett, geht der Melder zu Einsatz Nummer 2:

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: akutes Abdomen

Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, ohne Sonder-/Wegerechte.


Die Begeisterung hält sich in Grenzen: halb zwei Morgens. Die Reise geht in ein Dorf, zwei Orte von unserer Wache entfernt. Anfahrtszeit etwa 10 Minuten.

Scene – Safety – Situation

Scene: Herbst, Morgen, ca. 01:30 Uhr, kühl, Einfamilienhaus in ländlicher Gegend

Safety: keine augenscheinlichen Gefahren.

Situation: Die Ehefrau begrüßt uns an der Straße und schildert, dass ihr Mann seit etwa einer halben Stunde massive Bauchschmerzen habe und sie sich Sorgen macht. Ihr Mann, 84 Jahre, sitzt mit deutlich schmerzverzerrten Gesicht in der Küche.

Zumindest beim Ersteindruck kommt uns schon der Gedanke, dass da doch etwas „mehr“ dahinterstecken könnte als einfache Bauchschmerzen.

Ersteinschätzung

Potentiell kritisch.

Nach einem kleinen Gesamtüberblick, wo das Problem liegt, entscheiden wir uns, das Primary Survey bei besseren Platzverhältnissen im RTW durchzuführen. Die Wohnung ist ebenerdig und das Heranfahren mit der Trage ist kein Problem. Umlagern, ab in den RTW, ab ins Primary Survey.

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose.

B – Breathing

Atemfrequenz 25/min, Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits vesikuläres Atemgeräusch, keine Halsvenenstauung, keine Dyspnoe. SpO2 92 %.

C – Circulation

Haut rosig, warm, trocken, keine stehenden Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse gut tastbar; Abdomen weich, keine Abwehrspannung, Schmerzen und Druckdolenz im Unterbauch; Blutungsräume sonst unauffällig, RR 170/80 mmHg. Keine Angina pectoris-Beschwerden. EKG: normofrequenter Sinusrhythmus ohne Ischämiezeichen

D – Disability

GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen isokor, mittelweit, prompte Lichtreaktion; quick-FAST unauffällig, pDMS intakt, BZ 129 mg/dl. Der Patient ist deutlich agitiert und motorisch unruhig.

E – Exposure/Environment

Massiver abdomineller Schmerz im Bereich der beiden unteren Quadranten, NRS 10, ohne Ausstrahlung, ohne Änderung im zeitlichen Verlauf. Normale Darmgeräusche. Kein Nierenklopfschmerz. Kein vorausgegangenes Trauma. Temp. 35,5°C.

Angesichts der Schmerzsituation entscheiden wir uns für ein

Einschätzung

Kritisch.

und beschließen eine unmittelbare Notarztnachforderung, allein schon, weil absehbar ist, dass Metamizol alleine wohl nicht zur Analgesie reichen wird.

Während meine Kollegin das Monitoring komplettiert, richte ich einen i.v.-Zugang und führe parallel die Anamnese durch.

SAMPLER(S)

S – Symptome

Massiver abdomineller Schmerz im Bereich der beiden unteren Quadranten, Onset vor einer halben Stunde, Verstärkung durch Druck, NRS 10, ohne Ausstrahlung, ohne Änderung im zeitlichen Verlauf.

A – Allergien

Keine.

M – Medikamente

ASS, Ramipril, Formoterol, Budenosid, sonst nicht ermittelbar.

P – Vorerkrankungen

Arterielle Hypertonie, Z.n. Koronarbypass, COPD GOLD III, sonst nicht ermittelbar.

L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang

Letzte orale Aufnahme: Abendessen, ca. 18:00 Uhr, Ausscheidungen unauffällig.

E – Ereignis

Aus der Ruhe heraus, Patient konnte nicht schlafen und hat ferngesehen.

R – Risikofaktoren

Alter, Vorerkrankungen.

S – Schwangerschaft

Ausgeschlossen.

Gefühlt bin ich dadurch nicht schlauer geworden und angesichts der Schmerzsituation ist die Anamnese, sagen wir, „schwierig“.

Der Patient wird also über den i.v.-Zugang und die beabsichtigte Medikamentengabe aufgeklärt und willigte ein, meine Kollegin bereitete unterdessen das Metamizol vor. Zugang liegt, Kurzinfusion läuft. Und ich mache den „Trichter“ auf…

Appendizitis? Irgendwas chronisch-entzündliches? Doch ein Ileus? Ein Tumorleiden? Eine Kolik mit untypischer Symptomatik? Oder gar ein Mesenterialinfarkt? Wirklich viel zusätzlichen Input kann meine Kollegin nicht liefern – das Schulterzucken habe ich mal nicht in den Trichter geworfen.

Nachdem der Patient von sich aus nicht wirklich in der Lage ist, viel zu erzählen, gehe ich notgedrungen dazu über, alle erdenklichen Erkrankungen des Bauchraums abzufragen. Einzeln. Damit gelingt es mir zumindest einen Teil des riesigen Potpourris wenigstens halbwegs sicher auszuschließen.

Irgendwann war ich beim Aortenaneurysma angekommen, was der Patient mit

„Ja, hatte ich mal“

kommentiert. Mir läuft es heiß und kalt zugleich den Rücken runter. Red Flag! Ist das unser Problem? Ausschließen!

Die Kontrolle der Femoralispulse und auch der Vergleich mit den Carotis-Pulsen scheint erst einmal unauffällig. Auch die erneute Auskultation des Abdomens ergibt keine hörbaren Strömungsgeräusche (wobei man die Beurteilbarkeit bei der anhaltenden Unruhe des Patienten als deutlich eingeschränkt bezeichnen muss), irgendetwas „pulsierendes“ sieht man jedenfalls nicht.

Unsere Notärztin trifft ein, kurze Übergabe, und die sehr schnelle Entscheidung zur Abfahrt mit Sonder- und Wegerechten in den nächsten Maximalversorger. Transportpriorität.

Nachdem die Analgesie mit Metamizol praktisch keine Wirkung zeigte, erhielt der Patient durch die Notärztin insgesamt 15 mg Piritramid – ein Opioid-Analgetikum – mit auch eher wenig Effekt. Zur Übergabe war die NRS immer noch bei 7.

Was war nun Phase?

Ein paar Wochen später hatte ich mit der selben Notärztin Dienst auf dem NEF – und wir kamen auf den Patienten zu sprechen.

Unser akuter Bauch hatte tatsächlich ein gedeckt rupturiertes Bauchaortenaneurysma und wurde noch in der selben Nacht operiert. Der Patient hatte überlebt und konnte das Krankenhaus nach einiger Zeit fit und munter verlassen.

Fazit

Was fand ich gut?

  • saubere, strukturierte Abarbeitung des Einsatzes, gute Differentialdiagnostik
  • frühzeitige Notarztnachforderung, Entscheidung zur Transportpriorität
  • Anamneseerhebung – auch wenn diese deutlich länger gedauert hat, hat sie letztendlich den entscheidenden Hinweis gegeben

Was fand ich nicht gut?

  • die erschwerte Anamneseerhebung – nachdem praktisch keine Informationen irgendwo aufzufinden waren, blieb nur die vergleichsweise langatmige Anamnese. Also: Notfallvorsorge betreiben!
  • die Transportpriorität hätte angesichts der Symptomatik noch früher kommen müssen und der Notarzt im Rendezvous-Verfahren aufgenommen werden können
  • die wenig hilfreiche „mentale“ Mitarbeit meiner Kollegin.

Was ist mir wichtig? – Take-home-Message

Im Grunde genommen kann ich mir lobend auf die Schulter klopfen und sagen „Super gemacht!“ oder kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen „Da war viel Glück dabei„. Letztendlich ist beides nicht ganz richtig.

Retrospektiv betrachtet hätte ich mit Sicherheit an dem ein oder anderen Punkt anders gehandelt – zum Beispiel früher die Femoralispulse kontrollieren, vielleicht zwei großlumige Zugänge, vielleicht eine Vollimmobilisation, vielleicht eine frühere Einleitung des Transportes.

Am Ende wurde allerdings unter der gegebenen Situation, konkret im Informationsdefizit des Rettungsdienstes, alles getan, was getan werden musste. Es wurde strukturiert untersucht, behandelt, Prioritäten festgelegt, der Patient erhielt eine Analgesie und ausführliche Differentialdiagnostik und dennoch einen zügigen Transport (Zeit von Eintreffen [Status 4] bis Abfahrt zum Krankenhaus [Status 7] 20 Minuten).

Gut fand ich auf jeden Fall, dass die Red Flag – also das überdeutliche Warnsignal für „es wird kritisch“ – wahrgenommen und darauf reagiert wurde; wobei ich tatsächlich zugeben muss: die absolute Dringlichkeit hatte ich zumindest in der Situation geringer eingeschätzt.

Wichtig wird hier wiederum eines: strukturiertes Arbeiten ist das A und O und eine saubere Differentialdiagnostik und Anamnese sind bei internistischen Erkrankungen wie auch beim akuten Abdomen einfach unerlässlich. Fixierungsfehler können hier innerhalb kürzester Zeit fatale Folgen haben.

Kursformate wie AMLS, die gerade Differentialdiagnostik und „Trichtern“ trainieren, können hier eine gute Orientierung für das Vorgehen bieten.

Was allerdings auch ein ehrliches „Take-Home“ ist: manchmal ist Rettungsdienst auch einfach „Glück haben“ – egal, wie fit und gut man ist oder für wie fit und gut man sich hält. Ein Quäntchen Glück braucht es manchmal, aber langfristig ersetzt es definitiv weder Fach-, noch Handlungskompetenz.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/3I9E1Ap

DBRD-Akademie GmbH (2022): Advanced Medical Life Support, abgerufen unter https://www.amls.de/ am 24.05.2022

Hauser H., Buhr H., Mischinger H.-J. (2016): Akutes Abdomen. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg. ISBN 978-3-7091-1472-8. DOI: 10.1007/978-3-7091-1473-5. Hier erhältlich: https://amzn.to/3NPDFSj

SaniOnTheRoad (2020): Persönliche Erste-Hilfe-Ausrüstung und Notfallvorsorge, abgerufen unter https://saniontheroad.com/personliche-erste-hilfe-ausrustung-und-notfallvorsorge/ am 24.05.2022

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 24.05.2022

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Über SaniOnTheRoad

Nur ein akuter Bauch?

SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im klinischen Abschnitt des Studiums. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.


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