Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.
Dass man Einsatzmeldungen nicht zwangsläufig trauen kann, ist keine Neuigkeit. Unsere Einsatzmeldungen enthalten zum Teil Verdachtsdiagnosen, Situationsbeschreibungen oder auch: Zustandsbeschreibungen.
Einer meiner „Anti-Favoriten“ der Zustandsbeschreibungen ist der „schlechte Allgemeinzustand“. Überraschenderweise trifft die Beschreibung oft ziemlich gut zu. Sie sagt nämlich nichts anderes aus als
„Dem Patienten geht es insgesamt nicht gut.“
Das wars. In der Alarm- und Ausrückeordnung ist diese Einsatzmeldung eine KTW-Fahrt, also ein primär unkritischer Krankentransport ohne große diagnostische und interventionelle Möglichkeiten.
Und das ist unglaublich problematisch: denn hinter der vermeintlichen KTW-Fahrt ins Krankenhaus stecken oft genug wirklich kritische Probleme des Patienten.
Unruhiger Tagdienst
Ich habe Tagdienst auf einer unserer Außenwachen – wir waren den ganzen Morgen über schon unterwegs und irgendwie scheint der Tag nicht ruhiger zu werden. Kurz nach dem (etwas hastigen) Mittagessen sollte die Reise auch schon weitergehen.
Einsatzdaten
Einsatzmeldung: schlechter Allgemeinzustand
Alarmierte Fahrzeuge: RTW (als „KTW dringend/sofort“), ohne Sonder-/Wegerechte.
Die Reise geht in das örtliche Pflegeheim. Die Begeisterung hält sich in Grenzen.
Ich muss zugeben, dass auch ich in diesem Falle dem Gedanken
„Warum fährt das kein KTW?“
gefolgt bin.
Background-Info – KTW dringend/sofort
Hier handelt es sich um eine Einsatzpriorität – „KTW dringend/sofort“ bedeutet letztendlich nicht mehr als „Abarbeitung vor allen anderen KTW-Fahrten“, wobei es immer noch ein (reiner) Krankentransport ist. Steht kein KTW in absehbarer Zeit zur Verfügung, darf hier tatsächlich ein RTW alarmiert werden.
Die Anfahrt ist kurz – keine zwei Minuten später stehen wir am Pflegeheim.
Scene – Safety – Situation
Scene: Sommer, Mittag 13:00 Uhr, warm, Pflegeheim.
Safety: keine augenscheinlichen Gefahren.
Situation: Eine Pflegekraft nimmt uns an der Tür in Empfang und führt uns zum Patienten. Sie berichtet, dass er seit Tagen immer mehr abbaut, heute mittag wurde dann letztendlich Fieber mit über 39°C festgestellt.
Ein Blick auf den Patienten bestätigt die Vermutung, dass hier doch mehr dahintersteckt als „nur“ der schlechte AZ.
Wir kommen zu der Ersteinschätzung
Ersteinschätzung
Potentiell kritisch.
Und starten prompt in das Primary Survey
xABCDE
x – Exsanguination
Keine starke äußere Blutung.
A – Airway
Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, blass, keine Zyanose.
B – Breathing
Atemfrequenz 24/min, keine obere Einflusstauung, Thorax stabil, Atemexkursionen regelrecht, Pulmo bds. basal feuchte Rasselgeräusche, sonst vesikulär, mäßige Dyspnoe. SpO2 92 %.
C – Circulation
Haut rosig, deutlich warm, trocken, stehenden Hautfalten; Rekapillarisierungszeit > 2 Sekunden, periphere Pulse schlecht tastbar, zentrale Pulse gut tastbar; Blutungsräume unauffällig, RR 100/60 mmHg. EKG: Tachyarrhythmia absoluta, HF 110-130/min.
D – Disability
GCS 11 (A4, V1, M6) bei bekannter Demenz, Orientierung nicht überprüfbar, Pupillen isokor, mittelweit, prompte Lichtreaktion; FAST nicht durchführbar, BZ 141 mg/dl.
E – Exposure/Environment
Leichte Beinödeme beidseits, Bodycheck sonst unauffällig, kein liegender DK, keine Verletzungen erkennbar, kein vorausgegangenes Trauma, Temp. 39,4°C.
Wir kommen zu der Einschätzung
Einschätzung
Kritisch.
Im Prinzip winkt die Sepsis schon hier fast überdeutlich – der Patient erhält einen 6 l/min Sauerstoff über Maske, einen i.v.-Zugang (17 G) am Unterarm und eine zügig laufende Infusion. Parallel erhebe ich fremdanamnestisch noch einmal eine genaue Anamnese:
SAMPLER(S)
S – Symptome
Seit mehreren Tagen Schwäche, Kraftlosigkeit und neu aufgetretene Immobilität, heute wurde erstmalig Fieber festgestellt, zudem häufigeres Husten.
A – Allergien
Keine.
M – Medikamente
Rivaroxaban, Ramipril, Torasemid, Bisoprolol, Pantoprazol, Amlodipin, L-Thyroxin. Bei Bedarf Metamizol sowie Heimsauerstoff (2 l/min).
P – Vorerkrankungen
Z.n. Myokardinfarkt mit 3-fachen Koronarbypasss, Aortenklappeninsuffizienz, Z.n. Schlaganfall (Residuen unklar), aHT, Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern, Hypothyreose, bekannte Demenz. Zustand nach Aspirationspneumonie vor zwei Monaten.
L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang
Letzte orale Aufnahme: Mittagessen, 11:30, musste angereicht werden.
E – Ereignis
Kein Akutereignis
R – Risikofaktoren
Vorerkrankungen, Antikoagulation.
S – Schwangerschaft
Ausgeschlossen.
Laut der Pflegekraft sei die Symptomatik beim letzten Krankenhausaufenthalt ähnlich gewesen – der Patient sei sonst im übrigen mobil und rede (wenn auch nicht unbedingt sinnvoll) sehr viel. Das ist nun eindeutig nicht der Fall.
Ein COVID-Schnelltest wurde heute durchgeführt, dieser war negativ. Auch sonst seien keine COVID-Fälle im Haus bekannt.
Vielleicht doch noch etwas neurologisches „on top“?
Während die Pflegekraft und ich uns ans Umlagern des Patienten machen, versucht meine Kollegin, einen Krankenhausplatz für uns zu organisieren. Drei Krankenhäuser – darunter alle mit Neurologie – lehnen ab. Anruf bei der Leitstelle mit dem Auftrag „Suche ein freies Krankenhausbett!“.
Und siehe da: der örtliche Grundversorger mit ITS im Ort unserer Hauptwache kann auf will aufnehmen.
Letztendlich treffen wir hier eine „Kompromissentscheidung der Patientenversorgung“ im Team: ein neurologisches Ereignis können wir nicht hundertprozentig ausschließen – wenn es eines ist, dann besteht es nun schon seit Tagen und ist derzeit nicht das Hauptproblem. Mit positiven SIRS, positiven qSOFA und einem möglichen pulmonalen Infektherd ist der Sepsisverdacht nun einfach prominenter. Und kritischer.
Wir packen den Patienten ein, komplettieren im Auto das Monitoring und die Reise geht mit Lichterglanz und Glockenschall los.
Im unseren Feld-, Wald- und Wiesen-Krankenhaus bin ich absolut überrascht: die diensthabende Ärztin ist direkt in der Notaufnahme anwesend, möchte eine Übergabe, hört zu und stellt sogar Fragen. Eine reibungslose Zusammenarbeit an einer Schnittstelle – ich bin begeistert.
Fazit
Was fand ich gut?
- anfänglicher Fixierungsfehler („Das ist doch nichts“) wurde zügig und konsequent behoben
- umfassende und sinnvolle Übergabe des Patienten im Pflegeheim
- saubere Zusammenarbeit an der Schnittstelle „Krankenhaus“
Was fand ich nicht gut?
- das Auftreten des anfänglichen Fixierungsfehlers – auch wenn dieser keine Auswirkungen hatte, besteht die immense Gefahr, dass man sich von ihm leiten lässt
- keine „Wunschklinik“ verfügbar – ein neurologisches Ereignis konnten wir nicht sicher ausschließen, eine nachfolgende Abklärung wäre wenigstens wünschenswert gewesen
Was ist mir wichtig? – Take-home-Message
Nehmt den „schlechten Allgemeinzustand“ ernst – auch wenn dieser oftmals von einem KTW gefahren wird.
Hinter dem „schlechten“ oder „reduzierten AZ“ stehen gar nicht selten und gar nicht so wenige kritische Probleme des Patienten, die eine zielgerichtete und schnelle Versorgung erfordern. Beispiele hierfür liefert zum Beispiel der entsprechende Beitrag von Nerdfallmedizin.
Fixierungsfehler sind ein unglaublich großes Problem und diese werden teilweise durch das Arbeitsklima, welches auf manchen Rettungswachen vorherrscht, sogar noch befeuert – ein konsequentes, gelebtes CRM bietet eine solide Möglichkeit, dem entgegenzuwirken.
Im Zweifelsfall gibt es nämlich mehrere „Leidtragende“: einmal den Patienten, der unversorgt irgendwo hingebracht wird – und den Rettungsdienstler, der sich für eine unzureichende Behandlung rechtfertigen muss.
Interessenkonflikte
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Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Quellen
Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/3SZQdcW Affiliate-Link
Fandler M. (2020): „Red. AZ“ – extrem häufige Arbeitsdiagnose, aber was tun?, abgerufen unter https://nerdfallmedizin.blog/2020/01/18/red-az-extrem-haufige-arbeitsdiagnose-aber-was-tun/ am 26.08.2022
Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3QVgyqE Affiliate-Link
SaniOnTheRoad (2022): CRM im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/crm-im-rettungsdienst/ am 26.08.2022
SaniOnTheRoad (2020): 1.3 Rettungsdienstliche Schnittstellen, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-3/ am 26.08.2022
SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 26.08.2022
SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 3: Fahrzeuge des Rettungsdienstes, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-3/ am 26.08.2022
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