Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.
Dienste mit Azubis sind etwas Feines, zumindest meiner Meinung nach. Nicht, weil man sich als NotSan zurücknehmen kann und einfach „Zuarbeiter“ spielt, sondern weil man hier richtig Ausbildung machen kann.
Realeinsätze bringen den meisten Azubis mehr, als bloße Skilltrainings und auswendig gelernte Fallbeispiele – einfach, weil im Realeinsatz selten die Situation derart klar ist, die Informationen oftmals begrenzt und das Drumherum einen durchaus stark beeinflussen kann.
Es ist ein RTW-Tagdienst auf meiner Heimatrettungswache, mit dabei einer unserer Azubis aus dem zweiten Lehrjahr mit schon ein paar Jahren Rettungsdiensterfahrung vor der Ausbildung.
Also: lasset die Spiele beginnen!
So viel zu tun und so wenig Zeit…
Die Schicht beginnt relativ unruhig. Nicht unbedingt einsatztechnisch, sondern eher in Bezug auf die täglichen Wachenaufgaben – in den letzten Tagen ist einiges liegen geblieben, was wir heute nun aufholen müssen.
Zwei Fahrzeuge müssen in die Werkstatt, dem RS-Praktikanten auf dem KTW fehlt noch das Thema „Immobilisation & Transport“, Routinedesinfektion, Verfalldatenkontrolle und Tanken müssen wir auch dringend…
Naja. Nach Übergabe und Kaffee machen wir uns ans Werk. Die Werkstattfahren sind einigermaßen zügig organisiert, Fahrzeugcheck, Verfalldatenkontrolle und Routinedesinfektion nahmen schon mehr Zeit in Anspruch. Aber: erledigt.
Bevor wir zum Frühstück übergehen, geht es erstmal in den Ort zwecks Kraftstoffversorgung. Nicht, dass wir bei einem Einsatz in die Bredouille kommen. Und kurz vor Ende des Tankens war es dann soweit.
Einsatzdaten
Einsatzmeldung: Gastrointestinale Blutung.
Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, ohne Sonder-/Wegerechte.
Unser Einsatzort befindet sich gerade mal drei Straßen weiter. Ich tanke noch zu Ende, dann geht es mit zwei Minuten Anfahrtszeit Richtung E-Stelle. Mein Azubi führt.
Scene – Safety – Situation
Scene: Winter, morgen, 8:30 Uhr, kalt, Einfamilienhaus, Kleinstadt.
Safety: keine augenscheinlichen Gefahren.
Situation: Ehemann der Patientin öffnet die Tür. Die Patientin, Mitte 40, sitzt im Wohnzimmer und klagt über mehrmaliges, heftiges „Kaffeesatzerbrechen“ sowie Magenschmerzen seit zwei Stunden.
Nun, die Einsatzmeldung scheint mal zu stimmen. Die Entscheidung fällt für ein
Ersteinschätzung
Potentiell kritisch.
und wir gehen ins Primary Survey.
xABCDE
x – Exsanguination
Keine starke äußere Blutung.
A – Airway
Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose.
B – Breathing
Atemfrequenz 24/min, Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits vesikuläres Atemgeräusch, keine Halsvenenstauung, keine Dyspnoe. SpO2 100 %.
C – Circulation
Haut rosig, warm, trocken, keine stehenden Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse gut tastbar, rhythmisch, tachykard; Abdomen weich, keine Abwehrspannung; keine Schmerzangabe im Becken, Oberschenkel stabil, RR 160/90 mmHg bei Eintreffen RD. Keine Angina pectoris. EKG: Sinustachykardie ohne Ischämiezeichen.
D – Disability
GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen isokor, mittelweit, prompte Lichtreaktion; FAST & pDMS unauffällig, BZ 80 mg/dl.
E – Exposure/Environment
Schmerzangabe im Oberbauch, stechend, NRS 4 – 5, ohne Ausstrahlung, ohne Änderung im zeitlichen Verlauf, anamnestisch mehrfaches „Kaffeesatzerbrechen“, Bodycheck sonst unauffällig, keine Verletzungen, keine Beinödeme. Temp. 36,6°C.
Schon während der Untersuchung ging ich ein wenig in die Fremdanamnese mit dem Ehemann: bekannte erosive Refluxerkrankung, bereits rezidivierende GI-Blutungen bekannt, arterielle Hypertonie bekannt, Clopidogrel als Thrombozytenaggregationshemmer. Soweit, so gut – ich habe eine Basis für eine Einschätzung; und mein Azubi kann „SAMPLERn“.
Vorher tritt natürlich unser 10-4-10 mit der Einschätzung. Und die eröffnet er mit
„Wir haben kein Buchstabenproblem…“
– und ich stutze schon. Okay, erstmal weiter im Text. Dann kam die Einschätzung
Einschätzung
Nicht kritisch.
Ich werfe meine Ergebnisse der Kurzanamnese ein.
Plan? Einladen, in den örtlichen Grundversorger fahren, keine Voranmeldung. Nun, unser Grundversorger hat zwar eine Endoskopie und auch eine ITS, nur blöderweise ist das Haus seit Tagen abgemeldet – was uns auch in der morgendlichen Übergabe gesagt wurde.
Ich greife ein.
„Unkontrollierte Blutung? Thrombozytenaggragationshemmung? Hohe AF? Tachykardie?“
Wir einigen uns schon mal auf
Korrigierte Einschätzung
Ernsthaft erkrankt – Transportpriorität.
Dann kam meine zweite Frage:
„Was willst Du machen? Triff eine Entscheidung.“
Und ich sehe…blankes Entsetzen.
„Keine Ahnung…ich bin raus.“
Okay. Ich übernehme.
Wir verbringen die Patientin in den RTW – während mein Co in unserem Grundversorger anruft (und abgelehnt wird), erhält die Patientin hochdosiert Sauerstoff über die Maske (15 l/min) und einen i.v.-Zugang mit VEL zum Offenhalten. Tranexamsäure? Haben wir nicht auf dem RTW. Volumentherapie? Im Moment nicht erforderlich, wenn dann mit Ziel einer permissiven Hypotension. Analgesie? Die Patientin verzichtet.
Neues 10-4-10, diesmal durch mich geführt: C-Problem mit unkontrollierter Blutung und fraglich beginnender Schocksymptomatik, Transportpriorität in Richtung unseres Maximalversorgers. Ich bleibe bei der Patientin, mein Co spielt den Chauffeur.
Während des Transports mit Lichterglanz und Glockenschall komplettiere ich dann auch das SAMPLER:
SAMPLER(S)
S – Symptome
Mehrfaches Kaffeesatzerbrechen, Oberbauchschmerzen, Übelkeit.
A – Allergien
ASS.
M – Medikamente
Clopidogrel, Candesartan, Pantoprazol, Atorvastatin, Metformin, Metamizol bei Bedarf.
P – Vorerkrankungen
Arterielle Hypertonie, Hyperlipidämie, erosive Refluxerkrankung, nicht-insulinpflichtiger Diabetes mellitus Typ 2, paroxysmales VHF.
L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang
Abendessen und trinken 18:00 Uhr, Wasserlassen problemlos, letzter Stuhlgang gestern abend (unauffällig).
E – Ereignis
Patientin ist mit starker Übelkeit und Oberbauchschmerzen aufgewacht, daraufhin mehrfaches, massives Kaffeesatzerbrechen.
R – Risikofaktoren
Mäßige Adipositas, Clopidogrel-Patientin.
S – Schwangerschaft
Ausgeschlossen.
Die Fahrt verläuft unspektakulär – in unserem Maximalversorger angekommen werden wir vom diensthabenden Internisten prompt mit in die Endoskopie genommen.
Einmal ÖGD mit allem, bitte!
Einsatznachbesprechung
Eine Einsatznachbesprechung gehört eigentlich zu jedem Einsatz – innerhalb der Ausbildung, egal ob NFS-Azubi oder RS-Praktikant, ist sie Pflicht.
Dementsprechend hat mein Azubi diese auch selbst eingefordert.
Er rekapituliert den Einsatz kurz, und kommt dann auf die Probleme zu sprechen. Am Ende können wir uns auf zwei „Hauptprobleme“ einigen
Zum einen ist es schlichtweg die Fehleinschätzung gewesen – er stellte selbst fest, dass ihm das Problem gar nicht so bewusst war bzw. er die Dringlichkeit falsch eingeschätzt hat. „Beachte und verwende alle verfügbaren Informationen“ und „Erkenne und vermeide Fixierungsfehler“ als CRM-Grundsätze.
Wichtige Informationen wurden – trotz Close-the-Loop – schlichtweg nicht beachtet, der relativ gute Allgemeinzustand der Patientin führte zum Fixierungsfehler „Ist doch nicht so schlimm„, obwohl Akutereignis, Vorerkrankungen, Medikation und hohe Atemfrequenz und Tachykardie als Frühzeichen des kompensierten Schocks definitiv vorhanden waren.
Das zweite Problem: die Entscheidungsfindung. Mit dieser – aus meiner Sicht vollkommen unspektakulären Aufgabe – habe ich ihn erstmal komplett überrumpelt.
Er stellte fest: eigentlich hat er nie wirklich selbst die Entscheidungen im Einsatz getroffen und hat es auch nie wirklich trainiert. Stattdessen war es eine Art…“Entscheidung im Konsens“. Heißt: er macht lediglich Vorschläge, die eigentliche Entscheidung hat allerdings stets der Praxisanleiter oder NotSan abgenommen.
Sicher, am Ende hat der Verantwortliche den Hut auf – ein Eingreifen bei unvorteilhaften oder falschen Entscheidungen ist obligatorisch und gar kein Problem. Ein generelles Abnehmen der Entscheidung, was bei dieser Form der „Entscheidung im Konsens“ schlicht und ergreifend der Fall ist, ist dem Lernziel allerdings nicht zuträglich und bringt Azubis wie junge Notfallsanitäter gleichermaßen problematisch.
Fazit
Was fand ich gut?
- sauberes, strukturiertes Primary Survey als Basis für ein solides rettungsdienstliches Arbeiten
- gute Kommunikation, strukturell gutes 10-4-10, Nutzung von „Close-the-Loop“
- strukturierte Einsatznachbesprechung – Lernwilligkeit und auch Kritikfähigkeit muss man durchweg positiv loben
Was fand ich nicht gut?
- Überrumpeln meines Azubis – hätte ich die Probleme bei der Entscheidungsfindung auf dem Schirm gehabt, hätte ich es anders gehandhabt.
- Fixierungsfehler – wichtige und vorhandene Informationen wurden nicht beachtet und führten zu einer Fehleinschätzung
- Entscheidungsfindung – sehe ich hier allerdings eher als „Ausbildungsproblem“ denn als „Fähigkeitenproblem“. Wäre die Entscheidungsfindung konsequenter trainiert worden, hätte es das Problem schlichtweg nicht gegeben,
Was ist mir wichtig? – Take-home-Message
Im Grunde genommen ist es ein Paradebeispiel dafür, warum Einsätze schief gehen – auch wenn hierbei der Patientin kein Schaden entstanden ist.
Eigentlich lagen die Kernprobleme komplett im Feld des Crew Resource Managements (CRM) – Fixierungsfehler, Informationen beachten, Prioritäten dynamisch setzen, Führung übernehmen. Alles Teil der CRM-Leitsätze.
Fixierungsfehler sind absolut tödlich – für manch einen Patienten buchstäblich. Wir müssen uns immer bewusst sein, dass jeder von uns mehr oder weniger stark Fixierungsfehlern unterliegt. Dementsprechend braucht es ein gutes Teamwork, eine gute Kommunikation und auch eine solide, ehrliche Selbstreflexion, um genau diese zu vermeiden.
Die Entscheidungsfindung wird meines Erachtens viel zu wenig vermittelt – und genau das ist eigentlich die Hauptaufgabe des Notfallsanitäters. Begründet und fundiert entscheiden. Es gibt leider immer noch zu oft die Meinung, dass der Notfallsanitäter nur aus Primary Survey, SAMPLER(S) und der Medikamentengabe nach Flussdiagramm besteht. Das ist grundlegend und furchtbar falsch.
Entscheidungsfindung muss trainiert werden. In Schule, Klinik und auf der Rettungswache. Gerade im Realeinsatz ist die Herausforderung der Entscheidungsfindung eine gänzlich andere, als bei Trockenübungen – hier müssen Praxisanleiter und Notfallsanitäter die Vermittlung nicht nur ermöglichen, sondern gezielt fördern.
Meinem Azubi kann ich überhaupt keinen Vorwurf machen – das, was er vermittelt bekommen hat, hat er gut umgesetzt. Das, was er nicht vermittelt bekommen hat, konnte er nicht umsetzen.
Interessenkonflikte
Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Quellen
SaniOnTheRoad (2020): Warum gehen Einsätze schief?, abgerufen unter https://saniontheroad.com/warum-gehen-einsatze-schief/ am 05.02.2022
SaniOnTheRoad (2020): 1.10 Verhalten im Einsatz, abgerufen unter https://saniontheroad.com/1-10-verhalten-im-einsatz/ am 05.02.2022
InPASS – Institut für Patientensicherheit und Teamtraining GmbH (2022): CRM-Karte, abgerufen unter https://inpass.gmbh/p/crm-karten-kostenlos am 05.02.2022
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