Rettungsdienst aktuell – Themen die den Rettungsdienst, seine Mitarbeiter und Interessierte beschäftigen. Von leitliniengerechter Arbeit bis zur gesellschaftskritischen Diskussion.
Ein Blick auf das aktuelle Versorgungssystem in der Präklinik
„Das hätten wir auch ohne Notarzt hinbekommen“
Ein Satz, den viele Rettungsdienstler schon gesagt und noch mehr schon gehört haben. Nun, dass diese Aussage eher auf Bauchgefühl und persönlichen Eindrücken beruht als auf breiter Evidenz, hätte man sich auch denken können.
Letzteres hat sich allerdings geändert: eine Studie hinterfragt nun den Sinn eines notarztgestützten Rettungsdienstsystems – genauer: Sinn und Zweck der Notarzteinsätze und die durchgeführten Maßnahmen.
Und das Ergebnis ist schon fast erschreckend…
Ergebnisse der Studie
Die Studie von Prause et al. (2020) teilt die Notarzteinsätze in drei Kategorien entsprechend der durchgeführten Maßnahmen ein. Achtung: es wurden hier explizit nur NEF-/NAW-Einsätze betrachtet!
Die Kategorie I entspricht dabei spezifische notärztliche Maßnahmen wie die endotracheale Intubation, Thoraxdrainagen, Reanimation, Katecholamintherapie sowie Beatmung, Narkose und auch Behandlung eines ACS. Es erfolgte also keine Beschränkung auf absolut exotische Maßnahmen.
Kategorie II umfasst medizinische Maßnahmen, die keine speziell notärztlichen Maßnahmen sind – unter anderem Diagnostik eines 12-Kanal-EKGs, Anlage eines periphervenösen Zugangs sowie ausgewählte medikamentöse Therapien.
Kategorie III umfasst alle Einsätze ohne spezielle medizinische Maßnahmen – darunter rein sanitäts- oder rettungsdienstliche Basismaßnahmen (Lagerung, Schienung, Sauerstoffgabe…), Fehlfahrten und primäre Todesfeststellungen ohne Maßnahmen.
Beachtlich ist die Verteilung der Einsätze auf die Kategorien.
Auf die Kategorie I, welche man auch salopp als „indizierte Notarzteinsätze“ bezeichnen könnte, entfallen grade mal 18 % der Einsätze.
Einsätze der Kategorie II – die auch von entsprechend ausgebildeten nicht-ärztlichen Fachpersonal abgearbeitet werden können – machen hingegen 47 % der Einsätze aus.
Die Einsätze, die schon derzeit von Rettungsfachpersonal abgearbeitet werden können oder für die andere Stellen zuständig sind (Kategorie III), machen 35 % aller Notarzteinsätze aus.
Was bedeutet das konkret? Wir interpretieren!
Auch wenn diese Studie in Österreich durchgeführt wurde (mit geringeren Qualifikationen des nicht-ärztlichen Rettungsfachpersonals), lässt sich aufgrund der Ähnlichkeit beider Rettungsdienstsysteme ein guter Rückschluss auf die Situation in Deutschland ziehen.
In Deutschland gibt es jährlich rund 16 Millionen Rettungsdiensteinsätze (Quelle). Davon sind knappe 20 % Notarzteinsätze (n = 3.200.000), etwa 60 % Notfalleinsätze ohne Notarzt.
Und auch hier gehen wir mal davon aus: vier von fünf Notarzteinsätzen erfordern keinen Notarzt.
Bedeutet: von den 3,2 Millionen Notarzteinsätzen bräuchte man nur in 640.000 Fällen wirklich einen Notarzt. Rund 2,5 Millionen Notarzteinsätze könnte auch entsprechend ausgebildetes Rettungsfachpersonal abarbeiten. Das gibt es bereits. Es nennt sich Notfallsanitäter.
Warum wird es nicht gemacht? Weil der Notfallsanitäter es nicht darf – die Berufsausübung, die entsprechende Ausbildungsziele sogar definiert, wird vor allem aus Standesdünkel verwehrt.
Die Studie sollte zum Nachdenken bewegen – auch die Standesvertreter der Ärzteschaft. Dass Patienten von einem Notarzt profitieren, wenn ein entsprechender Zustand vorliegt, steht meines Erachtens außer Frage.
Nur: besagter Zustand liegt in vier von fünf Fällen, in denen ein Notarzt alarmiert wird, eben nicht vor. Vier von fünf notärztlich Versorgten profitieren nicht vom anwesenden Notarzt. Und das ist keine Gefühlssache mehr, sondern das Ergebnis einer Studie, die insgesamt über 15.000 Notarzteinsätze ausgewertet hat.
Fazit – oder: wie sollte das geändert werden?
Grundsätzlich ergeben sich aus meiner Sicht Punkte hieraus, die hinterfragt werden müssen:
- Notarztindikationskatalog und strukturierte Notrufabfrage
- Rechtssicherheit und festgelegte Kompetenzen für Notfallsanitäter
- Qualifikation und Einsatzprinzip der Notärzte
Notarztindikationskatalog und strukturierte Notrufabfrage
Der erste Schritt zur Vermeidung unnötiger Notarzteinsätze ist: unnötige Notarzteinsätze zu vermeiden. Klingt blöd, ist aber so.
Der Notarztindikationskatalog sollte dahingehend überarbeitet werden, dass lebensbedrohliche Störungen, wo konkret notärztliche Maßnahmen zu erwarten sind, sicher erfasst werden – Indikationen, wo dies nur im Ausnahmefall zu erwarten ist, sind zu streichen.
„Pauschalarmierungen“ ohne Rücksicht auf den Patientenzustand (Einsatzbezogene Indikationen) sind kritisch zu hinterfragen.
Zu guter Letzt muss entschieden werden: wann liegt ein Zustand vor, der den Einsatz der Ressource „Notarzt“ rechtfertigt? Dazu braucht es standardisierte Abfrageschemata, die über einen einzelnen Leitstellenbereich hinausgehen – und eine entsprechende Auswertung, bei welchem Meldebild nun ein Notarzt Sinn macht oder nicht.
Eine gewisse „Überalarmierung“ wird immer bestehen, allein schon, um im Zweifelsfall die bestmögliche Versorgung zu gewährleisten. Eine Quote von „in 80 % der Fälle nicht notwendig“ ist allerdings aus meiner Sicht nicht vertretbar und bringt den Patienten auch keinen Benefit.
Rechtssicherheit und festgelegte Kompetenzen für Notfallsanitäter
Heißt nichts anderes als: den Notfallsanitätern, die kraft des Notfallsanitätergesetzes genau die Maßnahmen der Kategorie II (und teilweise auch der Kategorie I) beherrschen müssen, genau diese Behandlungskompetenz auch zustehen.
Diese medizinischen, nicht-notärztlichen Maßnahmen lassen sich genauso gut durch entsprechend qualifiziertes, nicht-ärztliches Rettungsfachpersonal durchführen.
Weiterer Benefit: der Notfallsanitäter wird entsprechend aktueller Leitlinien ausgebildet und unterliegt einer spezifischen notfallmedizinischen Fortbildungspflicht. Das bringt dem Patienten meist eine bessere und sicherere Behandlung als die durch den Allgemeinmediziner, der vor 30 Jahren den Notarztschein gemacht hat und zweimal im Jahr auf ein NEF steigt.
Qualifikation und Einsatzprinzip der Notärzte
Um den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen: die Ressource Notarzt ist wichtig und soll nicht abgeschafft werden.
Sie muss allerdings sinnvoll eingesetzt werden – nämlich dort, wo es Sinn macht. Das sind die Fälle, in denen der Patient einen Benefit von der notärztlichen Behandlung hat.
Und dann muss man auch sagen: der Notarzt muss dann definitiv notfallmedizinisch etwas leisten können – xABCDE muss genauso bekannt sein, wie die Therapie eines ACS oder die Anlage einer Thoraxdrainage. Der Notarzt muss ein Experte in der präklinischen Notfallmedizin sein, vielleicht auch mit maximal invasiven Maßnahmen in der Präklinik umgehen können.
Das ist derzeit einfach nicht gewährleistet. Kein Facharztstandard. Keine spezifische Fortbildungspflicht in der Notfallmedizin. Ausbildung? Zwei Jahre Klinik, ein 80-Stunden-Kurs, Einsätze unter Aufsicht – mehr ist der Notarzt derzeit meist nicht. Und das muss sich ändern!
Quellen
Bundesamt für Straßenwesen (2019): Analyse des Leistungsniveaus im Rettungsdienst für die Jahre 2016 und 2017, abgerufen unter https://bast.opus.hbz-nrw.de/opus45-bast/frontdoor/deliver/index/docId/2319/file/M290.pdf am 03.02.2022
Prause G., Orlob, S., Auinger, D., Eichinger, M., Zoidl, P., Rief, M., Zajic, P. (2020): System- und Fertigkeitseinsatz in einem österreichischen Notarztsystem: retrospektive Studie; Der Anaesthesist 69, pages 733–741 (2020), abgerufen unter https://link.springer.com/article/10.1007/s00101-020-00820-8 am 03.02.2022. DOI: 10.1007/s00101-020-00820-8
SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 9: Der Notarzt im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-9/ am 03.02.2022.
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