Es gibt immer noch erste Male im Rettungsdienst

a broken windshield of a car

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Immer mal wieder etwas Neues

Auch wenn ich schon ein paar Tage im Rettungsdienst tätig bin und als Notfallsanitäter meinen Dienst verrichte, gibt es doch immer wieder Situationen und Dinge, die ich zumindest in der Form noch nicht erlebt oder gemacht hatte.

Situationen, die zwar in der Ausbildung regelhaft gelehrt werden, in der rettungsdienstlichen Praxis aber doch eher selten vorkommen, sind da besonders interessant.

Ein typisches Beispiel sind hier Verkehrsunfälle mit mehreren Verletzen bzw. Betroffenen. Eigentlich das Paradebeispiel für einen „Mini-MANV“. So etwas wird zwar in der Berufsfachschule trainiert, kommt in der Praxis dann aber vergleichsweise selten vor.

Klar: Verkehrsunfälle kommen durchaus öfter mal vor – immerhin belegen sie Platz 13 bei meinen häufigsten Einsätzen – und es ist auch nicht der erste Verkehrsunfall, von dem ich berichte. Angefangen von meiner ersten Blaulichtfahrt über LKW-Unfälle bis hin zur Trauma-Rea.

Das erste Mal mit blauer Weste

Um es vorneweg zu nehmen: dieser Einsatzbericht ist etwas…anders, als die meisten anderen. Einfach, weil ich selbst erstaunlich wenig Medizin betrieben habe und mein eigener Fokus mehr auf der Führung des Einsatzes gelegen hat.

Es war ein sehr unruhiger RTW-Tagdienst und besagter Einsatz war bereits der fünfte in dieser Schicht. Und trotz allem waren wir noch immer motiviert. Vom Grundsetting hätte man sich hier eigentlich gar nicht mehr wünschen können für diesen Einsatz: besetzt mit zwei Notfallsanitätern, beide mit Gruppenführer-Ausbildung, beide PHTLS-Provider – und eine NotSan-Azubine mit frischer RS-Äquivalenzprüfung ist auch noch mit von der Partie.

Gerade nach dem Nachmittagskaffee auf der Wache ging es auch schon los:

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: H2 Grundstufe, VU – PKW, Info: PKW vs. Traktor, 3 Personen, auslaufende Betriebsstoffe, niemand eingeklemmt

Alarmierte Fahrzeuge: zwei RTW, ein KTW, Feuerwehr, Polizei, mit Sonder-/Wegerechten.

Es schießen einem prompt Gedanken durch den Kopf: Unfallmechanismus? Verletzungsschwere? Kliniken, die aufnehmen können? Und vor allem: sind wir ersteintreffend?

Unsere Reise geht Mitten ins Nirgendwo: ein Dorf in „Pfälzisch-Sibirien“, wo sich nicht nur Fuchs und Has‘ Gute Nacht sagen, sondern man sowohl für die Anfahrt, als auch den Transport in irgendeine Zielklinik gefühlte Ewigkeiten braucht. Naja, eine Viertelstunde zumindest für den nächsten Regelversorger, eine Dreiviertelstunde für den nächsten Maximalversorger.

Zu meinem Glück (oder Unglück) bin ich auch noch Beifahrer bei diesem Einsatz…

Die relativ lange Anfahrt nutzen mein Kollege und ich zur Taktikbesprechung. Wir gehen davon aus, dass wir das erste Rettungsmittel sein werden – KTW und zweiter RTW kommen von jeweils zwei anderen Rettungswachen.

Wir einigen uns auf einen kurzen gemeinsamen Überblick und eine anschließende Aufteilung nach Bedarf: mein Kollege und unsere Azubine übernehmen die Versorgung, ich als „1. Notfallsanitäter“ die Führung.

Scene – Safety – Situation

Scene: Winter, Nachmittag, 15:00 kühl, trocken, Hauptstraße innerorts in einem Dorf.

Safety: Feuerwehr und Polizei bereits vor Ort, Unfallstelle abgesichert, auslaufende Betriebsstoffe wurden bereits aufgenommen. Keine augenscheinlichen Gefahren.

Situation: Kollision zwischen PKW und abbiegenden Traktor, PKW an linker Frontseite deutlich deformiert, keine Airbag-Auslösung, eine Person auf der Straße liegend, mehrere Personen umstehend.

Entsprechend fällt meine erste Rückmeldung als Lage auf Sicht aus. Wir bekommen eine kurze Übergabe durch die Feuerwehr vor Ort und gehen in die Vorsichtung.

Die auf dem Boden liegende Frau erhält zuerst unsere Aufmerksamkeit…

Vorsichtung – Patient 1

Weiblich, Mitte 50, Beifahrerin des PKW. Nicht gehfähig, massive Schmerzangabe im Bereich der HWS, im linken Thoraxbereich sowie Schmerzen im Becken.

Vorsichtung: SK I – Rot

Mein Kollege und unsere Azubine übernehmen die Erstversorgung und führen das Primary Survey durch, während ich unter den Umstehenden die weiteren Unfallbeteiligten ausfindig mache.

Vorsichtung – Patient 2

Weiblich, Anfang 30, Fahrerin des PKW. Gehfähig, leichte Prellmarken im Thoraxbereich, keine Schmerzen, sichtlich aufgelöst.

Vorsichtung: SK III – Grün

Nachdem sich hier kein akuter Handlungsbedarf ergibt, verbleibt die Patientin vorerst in Betreuung durch die Feuerwehr und dem zwischenzeitlich eingetroffenen Lebensgefährten. Weiter geht’s!

Vorsichtung – Patient 3

Männlich, Ende 40, Fahrer des Traktors. Gehfähig, beschwerdefrei.

Vorsichtung: SK III – Grün

Man hätte hier auf den ersten Blick auch „unverletzt Betroffen“ sagen können. In der Kürze der Zeit habe ich mich allerdings auch hier für „Grün“ entschieden, bis eine genauere Abklärung erfolgt ist. Auch in diesem Fall verbleibt der Patient erst einmal in Betreuung durch die Feuerwehr.

Nach einem kurzen Gesamtüberblick bespreche ich mich kurz mit meinem Kollegen, welcher mich über den Zustand der ersten Patientin ins Bild setzt: Verdacht HWK-Fraktur, Thoraxtrauma mit Hämatombildung über der linken Brust, Verdacht Beckentrauma; B-Problem mit einer Atemfrequenz ~ 30/min, E-Problem mit Schmerzen NRS 9-10. Sinnigerweise entscheiden wir uns für eine Notarztnachforderung.

„Zur Lage: einmal rot, zweimal grün – benötigten noch einen Notarzt, RTW und KTW sollen anfahren“

Nachdem die anderen beiden Patienten nicht akut kritisch sind, unterstütze ich zunächst einmal die Versorgung der ersten Patientin. Zügig werden Schaufeltrage, Vakuummatratze und Beckenschlinge vorbereitet – und sogar an den Wärmeerhalt gedacht. Zugegebenermaßen haben die Ersthelfer vor Ort und die Feuerwehr hier schon gute Vorarbeit geleistet.

Zwischenzeitlich trifft der zweite RTW ein. Ich mache eine kurze Übergabe und weise ihnen die Fahrerin des PKW zu.

Die Beifahrerin des PKW wird unterdessen gemeinsam mit der Feuerwehr auf die Schaufeltrage aufgeschaufelt – unsere Azubine hatte nichts anderes mehr zu tun, als eine manuelle Inline-Stabilisierung durchzuführen – und in den RTW verbracht. Unterdessen trifft auch der Notarzt ein; dankenswerterweise aus der Luft.

Auch hier eine kurze Übergabe meinerseits und Notarzt und HEMS stürzen sich auf die erste Patientin und steigen in die Versorgung ein. Nachdem es mit vier Leuten im RTW ziemlich eng wird, bleibe ich bei der Versorgung außen vor.

Ich werfe noch einmal einen kurzen Blick auf die Unfallstelle und versuche noch etwas mehr zum Unfallmechanismus herauszufinden…wobei ich von dem nun ebenfalls eingetroffenen KTW unterbrochen werde, welcher erstmal den Traktorfahrer übernimmt.

Letztendlich kommt nicht mehr heraus, als man beim ersten Eindruck schon vermutet hat: die Fahrzeugführer haben sich wohl zu spät gesehen und die PKW-Fahrerin konnte wohl nicht mehr rechtzeitig bremsen.

Ich schaue noch einmal nach den anderen beiden Patienten vorbei: den Kollegen im zweiten RTW, welche die PKW-Fahrerin übernommen haben, fehlt noch die Versichertenkarte, welche ich organisiere – bei dem Traktorfahrer im KTW hatte sich unterdessen, abgesehen von einer Hypertonie, nichts weiter ergeben.

Also wieder zurück zu „meinem“ RTW…die Venenverhältnisse sind so schlecht, dass der Hubschraubernotarzt mittels Sonographie einen i.v.-Zugang etabliert und mit der Analgesie beginnt.

Als ich erneut beim zweiten RTW vorbeischaue, hat dieser bereits im nächsten Regelversorger angemeldet und ist abfahrtbereit. Okay.

Bei dem Patienten im KTW läuft es auf eine Transportverweigerung heraus.

Ich gebe die Patientendaten noch an die Leitstelle durch und der HEMS meldet einen Schockraum im nächsten Maximalversorger an. Dann geht es auch schon mit der Trage zum Hubschrauber, umlagern, Abflug!

Und für uns ging es in die Einsatznachbesprechung…

Die kommissarische Abschnittsleitung

Ist eine größere Anzahl von Verletzten zu versorgen, geht der Rettungsdienst langsam aber sicher in den Katastrophenschutz über – das bedeutet auch: es werden Führungsstrukturen benötigt. Nun gibt es reguläre Führungskräfte – Leitende Notärzte und Organisatorische Leiter Rettungsdienst – nicht wie Sand am Meer und sie werden auch erst ab einer gewissen Schwelle alarmiert.

Werden diese nicht alarmiert oder um die Zeit des Eintreffens zu überbrücken, müssen also Kräfte des Regelrettungsdienstes diese Aufgaben übernehmen. Das kann bundeslandspezifisch durchaus unterschiedlich aussehen.

In Rheinland-Pfalz regelt dies der Rahmen-Alarm- und Einsatzplan Gesundheit: der erste Notfallsanitäter übernimmt die Position des kommissarischen OrgL (und damit die einsatztaktische Organisation), der erste Notarzt die des komissarischen LNA (und damit die medizinische Leitung des Einsatzes).

Beide Funktionen werden mit einer blau-weiß karierten Kennzeichnungsweste nach HiK 3.0-Konzept kenntlich gemacht.

Fazit

Was fand ich gut?

  • Besetzung – man muss es sagen: dieser „geschmeidige“ Ablauf war durchaus der Tatsache geschuldet, dass wir mit zwei Notfallsanitätern und einer NFS-Azubine unterwegs waren
  • klare Kommunikation und Prioritätensetzung
  • Einhalten der gegebenen Strukturen und Aufgabenteilung
  • Ersthelfermaßnahmen

Was fand ich nicht gut?

  • keine Sichtung durch den Notarzt des Hubschraubers – obwohl dies seine Aufgabe gewesen wäre, dadurch
  • Abtransport ungesichteter Patienten und ohne Rücksprache.

Was ist mir wichtig? – Take-home-Message

„Mehrere Verletzte“ sind grundsätzlich ein Szenario, welches der Rettungsdienstler im Regelfall nicht besonders mag und noch weniger trainiert. Sich unter andere sogar unterordnen ist ebenfalls nicht gerade beliebt.

Hier besteht stets das Risiko, dass man sehr schnell in die gewohnte Individualmedizin rutscht (wie es der zweite RTW getan hat) und ohne Rücksicht auf die Gesamtsituation sein Ding macht. Das ist in diesem Fall zwar konsequenzlos gewesen, kann aber ohne jeden Aufwand genauso gut einen Einsatz sprengen.

Die Erfahrung zeigt, dass Dinge, die schon „im Kleinen“ nicht funktionieren, im Großen noch viel weniger funktionieren. Und die Erfahrung zeigt leider auch, dass man auf die Erfahrung bauen kann…

Die Take-home-Message ist an dieser Stelle demnach kurz und bündig: setzt euch mit euren Führungsstrukturen vor Ort auseinander – und lebt sie auch!

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass es sich bei den verlinkten Büchern um Affiliate-Links handelt. Es entstehen keine zusätzlichen Kosten bei der Bestellung über den Link. Eine Einflussnahme bei der Auswahl der Literatur ist dadurch nicht erfolgt. Siehe auch: Hinweise zu Affiliate-Links.

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

Arbeitsgemeinschaft der Hilfsorganisationen im Katastrophenschutz in Rheinland-Pfalz (2018): Katastrophenschutzstrukturen des Sanitäts-, Betreuungs- und Verpflegungsdienstes in Rheinland-Pfalz, Version 3.0, abgerufen unter https://www.hik-rlp.de/fileadmin/downloads/Fuehrungs-_und_Leitungskraefte_der_Bereitschaften/Fuehrungskraefteausbildungen/HiK-Konzept_3.0_final_Endversion.pdf am 30.03.2024

Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/458DGcB Affiliate-Link

Landesfeuerwehr- und Katastrophenschutzakademie Rheinland-Pfalz (2013): RAEP Gesundheit, abgerufen unter https://lfks.rlp.de/fileadmin/LFKS/Downloads/RAEPs/RAEP-Gesundheit.pdf am 30.03.2024

Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3q8w62I Affiliate-Link

Ministerium des Innern und für Sport Rheinland-Pfalz (2001): Führungsdienst-Richtlinie, abgerufen unter https://lfks.rlp.de/fileadmin/LFKS/Downloads/Gesetze/FueRi.pdf am 30.03.2024

Ministerium des Innern und für Sport Rheinland-Pfalz (2000): DV 100, abgerufen unter https://lfks.rlp.de/fileadmin/LFKS/Downloads/FwDV/DV100.pdf am 30.03.2024

NAEMT (2020): Prehospital Trauma Life Support – Kurshandbuch Deutsche Ausgabe, 9. Edition. Jones and Bartlett Publishers, Inc. ISBN 978-1-284-19862-1. Hier erhältlich: https://amzn.to/3fDcfTN Affiliate-Link

SaniOnTheRoad (2023): Der Unterführer-Lehrgang, abgerufen unter https://saniontheroad.com/der-unterfuehrer-lehrgang/ am 30.03.2024

SaniOnTheRoad (2023): Die erste Blaulichtfahrt, abgerufen unter https://saniontheroad.com/die-erste-blaulichtfahrt/ am 30.03.2024

SaniOnTheRoad (2022): Der PHTLS-Kurs, abgerufen unter https://saniontheroad.com/der-phtls-kurs/ am 30.03.2024

SaniOnTheRoad (2022): Trauma-Rea, abgerufen unter https://saniontheroad.com/trauma-rea/ am 30.03.2024

SaniOnTheRoad (2022): 1.16 Sondersituationen III – MANV, abgerufen unter https://saniontheroad.com/1-16-sondersituationen-iii-manv/ am 30.03.2024

SaniOnTheRoad (2020): Unfall im Schnee, abgerufen unter https://saniontheroad.com/unfall-im-schnee/ am 30.03.2024

SaniOnTheRoad (2020): Die Top 20 der häufigsten Rettungsdiensteinsätze, abgerufen unter https://saniontheroad.com/die-top-20-der-haufigsten-rettungsdiensteinsatze/ am 30.03.2024

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Über SaniOnTheRoad

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SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im klinischen Abschnitt des Studiums. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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