Nicht nachlässig werden

photo of person holding paper and pen

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Es geht doch!

Ein RTW-Tagdienst auf einer Außenwache ist an für sich nichts besonderes – dass man bei uns hier mit zwei Notfallsanitätern unterwegs ist, kommt dann doch eher selten vor.

Mein Kollege – alterstechnisch gehört er mit knapp 60 sicherlich zu den „Wachenältesten“ – hat dann doch einen etwas außergewöhnlicheren Werdegang: jahrelang im Ehrenamt aktiv gewesen, den Rettungsassistenten neben seinem Hauptberuf in der Industrie als Fernlehrgang absolviert, zwischendurch jahrelang gar nicht auf der Wache gewesen, dann berufstechnisch hauptamtlich in den Rettungsdienst eingestiegen, zur Ergänzungsprüfung zum Notfallsanitäter angemeldet – und im ersten Versuch souverän bestanden.

Aber das soll auch gar nicht zum Thema werden.

Wildern im fremden Gebiet

Den ersten Einsatz des Tages hatten wir schon hinter uns – nachdem unsere Außenwache quasi unmittelbar an der Grenze zum benachbarten Leitstellenbereich steht, ist es üblich, dass wir mehr Einsätze in deren Einzugsgebiet fahren, wie in unserem eigenen.

Auf dem Rückweg in die Heimat werden wir „abgefangen“ und bekommen, wie erwartet, einen Folgeeinsatz mitten im Nirgendwo. Obwohl wir unterwegs sind, sind es über 15 Minuten Anfahrt.

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: Herz-Kreislauf sonstiges.

Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, ohne Sonder-/Wegerechte.

Sämtliche „Sonstiges“-Einsatzmeldungen erwecken den Eindruck, dass der Disponent nicht wirklich eingrenzen kann, welches Problem nun vorliegt. Die Bandbreite reicht hier wirklich von „gar nichts“ bis „hoch kritisch“ – wobei ersteres deutlich überwiegt.

Wir schlängeln uns über die unbekannten Landstraßen Richtung Zielort. Als die Hälfte der Anfahrt vorbei ist, kommt eine erneute Meldung der Leitstelle:

„Erneuter Anruf, könnte ein Schlaganfall sein, Weiterfahrt mit Signal!“

Gesagt, getan…auch wenn uns die Signalanfahrt bei den gegebenen Straßenverhältnissen nicht allzu viel bringt.

Scene – Safety – Situation

Scene: Winter, Mittag, 13:00 kühl, trocken, Einfamilienhaus in ländlicher Umgebung, Erdgeschoss.

Safety: Keine augenscheinlichen Gefahren.

Situation: Die Ehefrau des Patienten (80 Jahre) nimmt uns in Empfang, führt uns zu ihrem in der Küche sitzenden Mann und berichtet, dass sie einkaufen wollten und ihr Mann plötzlich nicht mehr richtig sprechen und aufstehen konnte. Im „First Look“ fällt eine Fallneigung nach rechts auf.

Die erste Verdachtsdiagnose der Leitstelle schien sich zu bestätigen. Wir einigen uns auf ein

Ersteinschätzung

Kritisch.

Und starten ins Primary Survey.

…Naja, so ähnlich. Mein Kollege führt den Einsatz und die Angewohnheit der „Rettung nach Art des Hauses“ tritt dann doch zutage. Ein wirkliches Primary Survey war es nicht, um die Darstellung beizubehalten, tun wir mal so als ob 😉

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose. Zunge belegt, kein Zungenbiss.

B – Breathing

Atemfrequenz 20/min, keine obere Einflussstauung, Thorax stabil, Atemexkursionen regelrecht, Pulmo bds. vesikuläres AG, SpO2 94 %. Kein pathologisches Atemmuster.

C – Circulation

Haut rosig, warm, trocken, stehende Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse gut tastbar, HF 90/min; Abdomen weich, nicht druckdolent. Becken und Oberschenkel ohne erkennbare Verletzung und stabil. RR 160/90 mmHg. EKG: Sinusrhythmus, ohne Ischämiezeichen

D – Disability

GCS 15, 4-fach orientiert, deutlich verlangsamt, Pupillen isokor, mittelgroß, prompte LR. FAST: langsame, stockende Sprache, Fallneigung nach rechts, fragliche beinbetonte Hemiparese rechts, pDMS intakt. BZ 140 mg/dl.

E – Exposure/Environment

Schädel stabil, Wirbelsäule nicht druck-/klopfschmerzhaft, kein vorausgeganges Trauma.

Es sieht eigentlich genauso aus, wie ursprünglich gedacht – wir bleiben bei einem

Einschätzung

Kritisch.

und mein Kollege übernimmt die Anamnese, während ich den Transport vorbereite.

Die Anamnese wurde hier aber schon zum ersten Stolperstein…und das gehörig. Eigenanamnestisch war wirklich nicht viel zu holen – fremdanamnestisch durch die Ehefrau sah es fast noch schlimmer aus.

Eine SAMPLER(S)-Anamnese ist schon eine relativ kompakte und schnelle Notfallanamnese, aber selbst hier konnten wir – trotz mehrfacher, gezielter Nachfrage – nicht alle Punkte abhaken.

SAMPLER(S)

S – Symptome

Die Symptome beschränken sich im Wesentlichen auf unsere Feststellungen: langsame, stockende Sprache, Fallneigung nach rechts, fragliche beinbetonte Hemiparese rechts, deutliche Verlangsamung. Der Onset ließ sich nur schätzungsweise auf 11:00 eingrenzen.

A – Allergien

Keine.

M – Medikamente

ASS, Tamsulosin, Metoprolol, Ramipril.

P – Vorerkrankungen

aHT, Prostatahyperplasie, sonst nicht ermittelbar.

L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang

Nahrungsaufnahme Frühstück am morgen, ca. 8:00.

E – Ereignis

Es wurden uns hier so viele unterschiedliche Geschichten präsentiert, dass einfach nur die Feststellung bleibt: wir wissen nicht wirklich, was hier passiert ist.

R – Risikofaktoren

Alter, Vorerkrankungen.

S – Schwangerschaft

Ausgeschlossen.

Nach dem anamnestischen Desaster und unserer Einsicht, dass hier einfach nicht mehr zu holen ist, beschließen wir den Patienten in den RTW zu verbringen und transportbereit zu machen. Nach dem Umlagern auf den Tragestuhl…erbricht der Patient erstmal großzügig. Auch das schien unseren Verdacht durchaus zu bestätigen.

Mit dem Tragestuhl ging es dann in den RTW, Umlagern auf die Trage, nochmaliges Erbrechen des Patienten – und wir machen uns an die Arbeit. Ich baue das Monitoring wieder dran, während mein Kollege versucht, einen i.v.-Zugang zu legen. Zweimal daneben, ich probiere nochmal mein Glück – und scheitere ebenfalls.

Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, verzichten wir auf den i.v.-Zugang bei einem nach wie vor kreislaufstabilen Patienten.

Mein Kollege macht sich an die Voranmeldung in der nächsten Stroke Unit, wo ich das Gespräch nur teilweise mitbekomme. Grobe Schilderung der Situation und die typische Abfrage der Neurologen: Symptome? Beginn? Antikoagulation? Blutzucker? Temperatur? Eintreffzeit?

Nachdem alles geklärt war, machen wir uns über die Serpentinen auf zur nächsten Stroke Unit – knappe 25 Minuten trotz Sondersignal.

Hatten wir das gemacht?

Mitten auf der Fahrt überlege ich mir:

„Hatten wir eigentlich die Temperatur gemessen?“

Ich signalisiere meinem Kollegen, dass mir das gerade noch eingefallen ist und er holt die Temperaturmessung nach: 39,4°C. Und die fast schon eindeutige Diagnose schwindet mehr oder weniger dahin…

Im Krankenhaus angekommen „beichten“ wir unseren Fehler – die diensthabende Neurologin scheint ebenfalls nicht begeistert, entscheidet sich angesichts der fortbestehenden und mittlerweile diffuser gewordenen Symptome jedoch für ein CCT.

Sie entscheidet sich ebenfalls, nochmal die Ehefrau zwecks Anamnese anzurufen – und beißt sich erstaunlicherweise genauso die Zähne daran aus, wie wir. Zehn Minuten Telefonat für „keine brauchbare Erkenntnis“.

Die Aussage der Ehefrau mit

„Ich brauche erstmal ein paar Stunden Ruhe“

im Angesicht der Fragestellung „Lysetherapie oder nicht?“ hat die Neurologin mit

„So etwas habe ich noch nie erlebt!“

kommentiert. Wir ziehen daraufhin von dannen und machen unsere Einsatznachbesprechung.

Fazit

Was fand ich gut?

  • Strategieentscheidung – sowohl hinsichtlich der mehr oder weniger ausgeprägten Unmöglichkeit der Anamnese, als auch hinsichtlich der erschwerten Anlage des i.v.-Zugangs
  • Fehlende Diagnostik ist aufgefallen und wurde nachgeholt

Was fand ich nicht gut?

  • kein strukturiertes Arbeiten – durch die unstrukturierte Führung wurde die Temperatur als diagnostisches Kriterium schlichtweg vergessen
  • falsche Grundannahme – als mein Kollege die Frage der Neurologin der Temperatur verneint hatte, bin ich fälschlicherweise davon ausgegangen, dass er diese gemessen hatte, obwohl er keine Temperatur genannt hatte
  • Anamnese – es war beim besten Willen nicht zu ermitteln, seit wann genau welches Problem besteht

Was ist mir wichtig? – Take-home-Message

Diejenigen, die schon etwas länger den Blog lesen oder gezielt die Einsatzberichte verfolgen, werden vielleicht Parellelen zu einem anderen Einsatz (den Kollegen hatten) finden – mit dem passenden Titel If you don’t take a temperature, you can’t find a fever„.

Im Endeffekt ist uns hier genau derselbe, blutige Anfängerfehler unterlaufen, wie den Kollegen damals – wir hatten die Temperaturmessung vergessen und sind dadurch auf eine falsche Fährte gekommen. Eine einzige, simple Maßnahme der Basisdiagnostik war hier ausschlaggebend.

Fairerweise: es hätte angesichts der Symptomatik nichts an unserem Vorgehen geändert – es hätte allerdings den Trichter der Differentialdiagnosen deutlich erweitert und zumindest zur Feststellung geführt: ein Schlaganfall ist möglich, aber nicht mehr unbedingt das wahrscheinlichste. Am Ende wäre es wohl eher in Richtung „fieberhafter Infekt mit Exsikkose“ gegangen, der Schlaganfall nur als Ausschlussdiagnose.

Zur Fehlerkultur gehört auch, Fehler zuzugeben – und das war einfach ein Fehler; geschuldet einem nicht strukturierten Vorgehen, falschen Annahmen, einem unüberwindbaren Informationsdefizit und einer scheinbar eindrücklichen Symptomatik. Auch wenn „Fixierungsfehler“ als Wahrnehmungsfehler hier ebenfalls passt, sehe ich die Gründe hier doch mehr bei den Basics.

Die Take-home-Message für unsere Kollegen ist eindeutig: arbeitet strukturiert, nutzt xABCDE – man leistet mitnichten bessere Arbeit, wenn man es nicht tut. Man baut lediglich mehr unnötige Fehler ein, die wie in diesem Fall einfach nur peinlich sind, im schlechtesten Fall einen Patientenschaden nach sich ziehen.

Nutzt und lebt Crew Resource Management – damit fallen Fehler, die man nicht vermeiden konnte, zumindest zeitnah auf.

Die Take-home-Message für den Rest der Welt: bereitet euch auf Notfälle vor – ihr könnt uns mit eurer Kompetenz unglaublich weiterhelfen, oder für alle Beteiligten die Arbeit an die Grenze der Machbarkeit bringen.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass es sich bei den verlinkten Büchern um Affiliate-Links handelt. Es entstehen keine zusätzlichen Kosten bei der Bestellung über den Link. Eine Einflussnahme bei der Auswahl der Literatur ist dadurch nicht erfolgt. Siehe auch: Hinweise zu Affiliate-Links.

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/458DGcB Affiliate-Link

Deutscher Berufsverband Rettungsdienst e.V. (2024): Musteralgorithmen 2024 zur Umsetzung des Pyramidenprozesses im Rahmen des NotSanG, Version 9.1, abgerufen unter https://www.dbrd.de/images/algorithmen/DBRDAlgo24_Web_3.pdf am 18.03.2024

Dönitz S., Flake F. (2015): Mensch Körper Krankheit für den Rettungsdienst, 1. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3-437-46201-6. Aktuelle Auflage (4. Auflage, 2022) hier erhältlich: https://amzn.to/41bEM5G Affiliate-Link

Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3q8w62I Affiliate-Link

SaniOnTheRoad (2024): Gesundheitskompetenz, abgerufen unter https://saniontheroad.com/gesundheitskompetenz/ am 18.03.2024

SaniOnTheRoad (2022): CRM im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/crm-im-rettungsdienst/ am 18.03.2024

SaniOnTheRoad (2020): If you don’t take a temperature, you can’t find a fever, abgerufen unter https://saniontheroad.com/if-you-dont-take-a-temperature-you-cant-find-a-fever/ am 18.03.2024

SaniOnTheRoad (2020): Persönliche Erste-Hilfe-Ausrüstung und Notfallvorsorge, abgerufen unter https://saniontheroad.com/personliche-erste-hilfe-ausrustung-und-notfallvorsorge/ am 18.03.2024

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 18.03.2024

Scholz J., Gräsner J.-T., Bohn A. (2019): Referenz Notfallmedizin. Georg Thieme Verlag KG. ISBN 978-3-13-241290-3. DOI: 10.1055/b-006-149615. Hier erhältlich: https://amzn.to/3uhENtA Affiliate-Link

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Über SaniOnTheRoad

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SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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