Quo vadis, Rettungsdienst in Berlin?

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Rettungsdienst aktuell – Themen die den Rettungsdienst, seine Mitarbeiter und Interessierte beschäftigen. Von leitliniengerechter Arbeit bis zur gesellschaftskritischen Diskussion.

Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Dass der Rettungsdienst in Deutschland teils an der Belastungsgrenze agiert und teils schon darüber hinaus, ist spätestens seit der COVID-Pandemie auch in der Allgemeinbevölkerung bekannt.

Dass man trotz allem stets annehmen konnte, im Notfall eine rettungsdienstliche Versorgung „state-of-the-Art“ zu erhalten, war trotz vieler schlechter Nachrichten meist die eine gute Nachricht.

Nun kann man aber auch diese Aussage nicht mehr unterschreiben – die Bundeshauptstadt hat nun eine Verordnung mit dem schönen Namen „Verordnung über Abweichungen von den Fahrzeug- und Besetzungsregelungen für Einsatzmittel des Rettungsdienstes in besonderen Lagen„, kurz RDAbweichV, erlassen.

Klingt ja erstmal nicht dramatisch – „besondere Lagen“ sind ja schließlich Ausnahmefälle, die kaum vorkommen. Oder nicht?

Man könnte es fast als ironisch bezeichnen, dass bei den Diskussionen rund um die Rettungssanitäterausbildung und ihre Kompetenzen – siehe meine kürzlich erfolgten Beiträge dazu – nun auf einmal der Rettungssanitäter als Verantwortlicher in der Notfallrettung eingesetzt werden soll.

Exkurs: rettungsdienstliche Ausbildungen

Um die Problematik zu verstehen, muss man einen kurzen Blick auf die rettungsdienstlichen Ausbildungen werfen: in der Praxis spielen hier fast ausschließlich Rettungssanitäter und Notfallsanitäter eine Rolle.

Trotz der Namensähnlichkeit existieren zwischen den beiden Ausbildungsstufen himmelweite Unterschiede in Ausbildungsdauer und Kompetenzen.

Der Rettungssanitäter ist keine Berufsausbildung, sondern eine Qualifikation im Umfang von 520 Stunden – das entspricht etwa drei Monaten in Vollzeit. Angesichts der kurzen Ausbildungsdauer werden Rettungssanitäter üblicherweise nur als Fahrer und Assistenzkräfte in der Notfallrettung eingesetzt.

Der Notfallsanitäter ist hingegen eine dreijährige Berufsausbildung – im Vergleich zum Rettungssanitäter ist die Ausbildung somit wesentlich umfangreicher, die Kompetenzen wesentlich weitreichender und umfassen diverse invasive Maßnahmen wie z.B. die Medikamentengabe. Der Notfallsanitäter ist grundsätzlich in allen Bundesländern – auch in Berlin – die verantwortliche Einsatzkraft in der Notfallrettung.

Das Berliner Problem

Nun hat der Rettungsdienst unserer Bundeshauptstadt aber schon seit einer gefühlten Ewigkeit massive Personalprobleme. Die Problematik in Berlin ist weitaus schärfer als im Rest der Bundesrepublik.

Der „Ausnahmezustand“ wird im Berliner Rettungsdienst in den letzten Jahren immer öfter ausgerufen. Das bedeutet unter anderen: es werden Fahrzeuge der Feuerwehr abgemeldet, um zusätzliche RTWs zu besetzen.

Der Ausnahmezustand ist hier schon zum Regelzustand geworden. Und mit Verabschiedung der Verordnung wird es tendenziell nicht besser.

Berlin ist nicht der Rest von Deutschland

Derart drastische Maßnahmen, wie nun in Berlin verabschiedet wurden, sind praktisch einmalig – oder: sie sind woanders schlicht nicht notwendig. Und gerade das sollte man noch viel mehr als alarmierend betrachten.

Schauen wir uns an, worum es nun konkret geht…

Was hat sich nun geändert?

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Die RDAbweichV dreht sich – wie die Langfassung des Namens schon sagt – um Abweichungen von Qualifikationen des eingesetzten Personals und der eingesetzen Fahrzeuge in „besonderen Lagen“.

Das sind

„(1) Besondere Lagen im Sinne dieser Verordnung sind
a) kurzzeitige Sonderlagen, hierunter fallen insbesondere Explosi-
onen, Gefahrgutunfälle, Schadstoffausbreitungen, Terroran-
schläge, Unfälle bei Großveranstaltungen und extreme Wetter-
lagen oder
b) Auslastungslagen, in denen auf Grund einer länger anhaltenden
hohen Auslastung des Rettungsdienstes davon auszugehen ist,
dass dieser bei Einhaltung der Vorgaben des § 9 Absatz 1 und
Absatz 2 Satz 1 Buchstabe a, b, d und e des Rettungsdienstgeset-
zes voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, seine Aufgaben
angemessen zu erfüllen.

§ 2 Abs. 1 RDAbweichV

Neben den „Sonderlagen im eigentlichen Sinne“, also unvorhersehbare, kurzzeitige Schadensereignisse fallen aber eben auch die „Auslastungslagen“ darunter.

Oder anders: der Regelzustand in Berlin, wie man diversen Pressemeldungen der letzten Jahre entnehmen kann.

Die Regelung, die nach aktuellem Stand für ein Jahr gelten soll, wird also voraussichtlich oft genug zur Anwendung kommen.

Dabei sind zwei Regelungen vorgesehen:

  • Herabsetzen der Mindestbesatzung in der Notfallrettung sowie
  • Nutzung „anderer“ Einsatzmittel – namentlich KTWs.

Statt einem Notfallsanitäter als verantwortliche Einsatzkraft reicht unter den Umständen nun auch ein Rettungssanitäter mit zweijähriger Berufserfahrung als Verantwortlicher auf dem RTW und als Fahrer des NEF. Auf ITWs wird zumindest bei Auslastungslagen eine nicht näher bezeichnete „zusätzliche Ausbildung“ on top gefordert.

(1) Bei Sonderlagen nach § 2 Absatz 1 Buchstabe a kann bei der Notfallrettung, beim Notfalltransport, auf Notarzteinsatzfahrzeugen und auf Intensivtransportwagen abweichend von § 9 Absatz 2 Satz 1 Buchstabe a, b, d und e des Rettungsdienstgesetzes zur Patientenbetreuung eingesetzt werden, wer eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin oder zum Rettungssanitäter abgeschlossen hat und wer in
den letzten zwei Jahren regelmäßig im Rettungsdienst eingesetzt wurde. Die zusätzliche Besetzung der Notarzteinsatzfahrzeuge und der Intensivtransportwagen mit einer Ärztin oder einem Arzt, deren
Qualifikation sich nach § 7 Absatz 1 und 3 des Rettungsdienstgesetzes bestimmt, bleibt unberührt.

(2) Bei Auslastungslagen nach Stufe 1 gemäß § 2 Absatz 1 Buchstabe b in Verbindung mit Absatz 2 Satz 3 kann bei der Notfallrettung und beim Notfalltransport abweichend von § 9 Absatz 2 Satz 1 Buchstabe a und b des Rettungsdienstgesetzes zur Patientenbetreuung eingesetzt werden, wer eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin oder zum Rettungssanitäter abgeschlossen hat und wer in den letzten zwei Jahren regelmäßig im Rettungsdienst eingesetzt wurde.

(3) Bei Auslastungslagen nach Stufe 2 gemäß § 2 Absatz 1 Buchstabe b in Verbindung mit Absatz 2 Satz 4 kann zusätzlich zu den Abweichungen nach Absatz 2 auf Notarzteinsatzfahrzeugen und Intensivtransportwagen abweichend von § 9 Absatz 2 Satz 1 Buchstabe d und e des Rettungsdienstgesetzes neben Ärztinnen und Ärzten, deren Qualifikation sich nach § 7 Absatz 1 und 3 des Rettungsdienstgesetzes bestimmt, eingesetzt werden, wer eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin oder zum Rettungssanitäter abgeschlossen hat, in den letzten zwei Jahren regelmäßig im Rettungsdienst eingesetzt wurde und über eine zusätzliche Qualifikation verfügt.

§ 3 Abs. 1 ff. RDAbweichV

Ferner sollen auch Fahrzeuge des Krankentransports die Notfallrettung entlasten – wie dies praktisch umgesetzt werden soll, lässt die Verordnung offen.

(5) Bei Sonderlagen und Auslastungslagen nach Stufe 1 und 2 können im Einvernehmen mit der Ärztlichen Leitung Rettungsdienst von § 9 Absatz 1 des Rettungsdienstgesetzes abweichende Einsatzmittel in den Dienst gestellt werden, die geeignet sind, den Rettungsdienst bei der Erfüllung seiner Aufgaben zu entlasten; beispielsweise können dies Personen oder Fahrzeuge sein, die im Krankentransport eingesetzt werden. Die für Inneres zuständige Senatsverwaltung ist hierüber zu informieren.

§ 3 Abs. 5 RDAbweichV

Die Verordnung selbst möchte ich natürlich nicht vorenthalten:

Einschätzung

Die Gesamtsituation ist in mehrerlei Hinsicht erschreckend:

  • die Problematik ist derart zugespitzt, dass eine solche Regelung notwendig wird; was bedeutet
  • dass man trotz jahrelanger bekannter Probleme nicht in der Lage oder Willens war, diese suffizient zu lösen
  • der Ausnahmezustand ist im Falle Berlins bereits zu einem „Normalzustand“ geworden
  • man schafft es nicht mehr, die üblichen rettungsdienstlichen Standards einzuhalten.

Während ich Sonderregelungen für Akutlagen durchaus für nachvollziehbar und begründbar halte, sehe ich die getroffene Regelung hinsichtlich der „Auslastungslagen“, die zumindest im konkreten Falle alles andere als selten sind, hochgradig kritisch.

Hinsichtlich Ausbildung und Kompetenzen ist ein „Rettungssanitäter mit Berufserfahrung“ eben schlichtweg keinem (voll ausgebildeten) Notfallsanitäter gleichzusetzen. Hart ausgedrückt soll nun eine Hilfskraft die Aufgaben einer Fachkraft übernehmen. Das funktioniert nicht und hier muss man sich zweifellos die Frage stellen, ob so eine Versorgung von Notfallpatienten im Jahre 2023 aussehen sollte.

Der Rettungssanitäter war bis zur Einführung des Rettungsassistenten im Jahr 1989 die höchste Qualifikation im Rettungsdienst. Danach nicht mehr.

Es ist aus meiner Sicht ein absolutes Armutszeugnis, dass eine Bundeshauptstadt sich gezwungen sieht, Rettungsdienst im Jahre 2023 auf dem Stand der 1970er/80er Jahre zu betreiben, weil sonst die Notfallrettung vollends zusammenbrechen würde.

An dieser Stelle braucht es langfristige, vernünftige und tragbare Ansätze, um auch in Berlin einen funktionierenden Rettungsdienst nach dem Stand der Technik aufrecht erhalten zu können. Das sehe ich mit dieser Regelung schlicht als nicht erfüllt an. Es ist eher eine Kapitulation vor der Lage statt ein suffizienter Lösungsansatz.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

Berlin.de (2023): Verordnung über Abweichungen von den Fahrzeug- und Besetzungsregelungen für Einsatzmittel des Rettungsdienstes in besonderen Lagen (Fahrzeug- und Besetzungsabweichungsverordnung Rettungsdienst – RDAbweichV) vom 13. Februar 2023, abgerufen unter https://www.berlin.de/sen/justiz/service/gesetze-und-verordnungen/2023/ausgabe-nr-5-vom-2222023-s-29-76.pdf am 26.02.2023

Berliner Morgenpost (2022): Rettungsdienst: Ausnahmezustand wird zum Normalfall, abgerufen unter https://www.morgenpost.de/berlin/article235799613/Retter-im-Ausnahmezustand.html am 26.02.2023

Feuerwehrmagazin (2022): Dauerhaft im Ausnahmezustand, abgerufen unter https://www.feuerwehrmagazin.de/nachrichten/dauerhaft-im-ausnahmezustand-117428 am 26.02.2023

rbb24 (2022): Beinahe täglich im Ausnahmezustand, abgerufen unter https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2022/07/ausnahmezustand-feuerwehr-rettungsdienst-berlin.html am 26.02.2023

rbb24 (2022): Ausnahmezustand ufert bei Berliner Feuerwehr aus, abgerufen unter https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2022/04/berlin-feuerwehr-ausnahmezustand-rettungsdienst-alarm.html am 26.02.2023

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 2: Ausbildungen im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-2/ am 26.02.2023

S+K-Verlag (2023): Berlin lässt andere Fahrzeugbesatzungen im Rettungsdienst zu, abgerufen unter https://www.skverlag.de/rettungsdienst/meldung/newsartikel/berlin-laesst-andere-fahrzeugbesatzungen-im-rettungsdienst-zu.html am 26.02.2023

S+K-Verlag (2022): Rettungsdienst der Berliner Feuerwehr „nur bedingt rechtzeitig einsatzbereit“, abgerufen unter https://www.skverlag.de/rettungsdienst/meldung/newsartikel/rettungsdienst-der-berliner-feuerwehr-nur-bedingt-rechtzeitig-einsatzbereit.html am 26.02.2023

S+K-Verlag (2019): 41-mal Ausnahmezustand Rettungsdienst in Berlin, abgerufen unter https://www.skverlag.de/rettungsdienst/meldung/newsartikel/41-mal-ausnahmezustand-rettungsdienst-in-berlin.html am 26.02.2023

WELT (2022): Deutschlands Retter am Limit – „Ausnahmezustand ist Normalzustand geworden“, abgerufen unter https://www.welt.de/wirtschaft/plus242739821/Berliner-Rettungsdienste-am-Limit-Ausnahmezustand-ist-Normalzustand-geworden.html am 26.02.2023

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Über SaniOnTheRoad

Quo vadis, Rettungsdienst in Berlin?

SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im klinischen Abschnitt des Studiums. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.


3 Kommentare zu diesem Beitrag:

Das geht in Berlin schon so seit Ende der 90er Jahre.
Zuerst übernahm man qualifiziertes Personal des Rettungsamtes und wenn diese nicht volwertige Feuerwehrleute werden wollten ekelte man sie raus, kündigte sie unter Gründen, die man suchte und schaffte.
Darunter irre viele RettAss.
Schon da wurde der Fw-RTW von 1:2 auf 1:1 reduziert.
Berliner Fw-RTW fuhren z.B. ohne Notfallrespiratoren, jeder private KTW war besser ausgestattet.
Btw: Ich war einer von jenen, die man losgeworden ist, da sie nicht „vollwertig“ geworden sind, denn ich ging 1992 zur Fw um Notfallrettung zu fahren und nicht Feuer auszumachen. So war jedenfalls mein Arbeitsvertrag, bis zur Änderungskündigung.
Es gab viele Ansätze den Rettungsdienst zu reformieren und jeder mißlang.
Seitdem geht es immer wieder 1 Schritt vor und 2 zurück.
Ich bin, ehrlich gesagt, froh, dass ich nicht mehr dabei bin.
Ich bin der festen Überzeugung, dass Rettungsdienst von Menschen gefahren werden muss, die es als Berufung ansehen und nicht von Feuerwehrmännern &- frauen, die das noch zusätzlich, bzw. als Hauptberuf, zu ihrer eigentlich gewählten Tätigkeit, machen müssen.
Es gibt seit jeher Diskrepanzen zwischen jenen, die es machen müssen und jenen, die es machen möchten.
Fajt ist: Die Arbeit, die Motivation, die Qualität und die öffentliche Sicherheit und Ordnung, leiden darunter.
Ich bin, nach wie vor, für eine Spezialisierung des Personals und einem hauptberuflichen Beteich. Dass der, zum NotSan ausgebildete Fw-Mann, natürlich mal einspringen muss ist ja ok, aber es sollte die Ausnahme bleiben.

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