Wie kurios darf es denn heute sein?

close up of a sentence on a letter board

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Ein kleiner Abriss über die Geschichten, die das Leben schreibt

Im Leben eines Rettungsdienstlers gibt es einfach Einsätze, die man nicht anders als „kurios“ beschreiben kann – und es geht hier problemlos auf das Level, was RTL & Co. tagtäglich als Scripted Reality präsentieren.

Manche dieser Einsätze führen zu einem Schmunzeln, andere eher zu einem Kopfschütteln oder zum Nachdenken. Und manche zu allen drei Varianten.

So ist auch der folgende Einsatz medizinisch und einsatztaktisch eher unspektakulär – die Rahmenbedingungen haben dann aber doch dafür gesorgt, dass er im Gedächtnis blieb.

Ein kleiner Abriss

Es war bis dato ein recht unspektakulärer Dienst – zwei Einsätze hatten wir bereits, und angesichts der brütenden Hitze war die Motivation zu noch einem Einsatz dann doch recht begrenzt. Eben ein Wochenenddienst im Sommer.

Die Ruhe sollte uns dann aber doch nicht vergönnt sein – am späteren Nachmittag ging dann doch nochmal der Melder

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: Schlaganfall, > 24 Stunden Symptombeginn.

Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, ohne Sonder-/Wegerechte.

Die Begeisterung hielt sich tatsächlich in Grenzen. Wenn es ein Schlaganfall ist und der „Onset“ stimmt, ist nicht mehr wirklich viel zu retten – angesichts der seit Tagen brütenden Hitze ist aber auch eine Exsikkose, eine Hitzeerschöpfung, ein Hitzschlag oder ein Sonnenstich genauso denkbar. So viel zum Trichtern vorab.

Wir dürfen an den Rand unseres Einsatzgebietes fahren – ein Dorf mitten im Nirgendwo im Nachbarlandkreis. Gute 15 Minuten Anfahrt.

Scene – Safety – Situation

Scene: Sommer, Nachmittag, 16:00, heiß, trocken, sonnig, Einfamilienhaus in ländlicher Gegend.

Safety: Keine augenscheinlichen Gefahren.

Situation: Der Patient, Mitte 70, sitzt mit einer jüngeren Dame auf der Treppe vor der Haustür; die Dame nimmt uns in Empfang und berichtet, dass der Patient verwirrt sei und nicht mehr laufen könne. Außerdem habe er sich eingestuhlt.

„Patient wartet an Haustüre“ ist für Rettungsdienstler eine Red Flag – entweder dahingehend, dass der Patient eigentlich eine Taxifahrt ist, oder dass Patient und/oder Angehörige aus irgendwelchen Gründen vermeiden wollen, dass man einen näheren Einblick in die Lebenssituation erhält.

Und ich konnte mir den unmittelbaren Eindruck „ungepflegt“ nicht verkneifen. Die Kleidung war hatte wohl seit mehreren Wochen wohl keine Waschmaschine gesehen und der Patient wohl auch ebenso lange keine Dusche von innen. Die zentimeterlangen, gelben bis bräunlichen Finger- und Fußnägel taten ihr übriges. Wie auch der strenge Geruch des Patienten, den man leider Gottes nicht ignorieren konnte.

Nichtsdestotrotz nehmen wir mal ein

Ersteinschätzung

Potentiell kritisch.

an und starten in unser Primary Survey.

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose. Kein Zungenbiss. Schlechter Zahnstatus.

B – Breathing

Atemfrequenz 18/min, keine obere Einflussstauung, Thorax stabil, Atemexkursionen regelrecht, Pulmo bds. VAG, SpO2 94 %. Keine Dyspnoe.

C – Circulation

Haut rosig, warm, trocken, stehende Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse beidseits gut tastbar; Blutungsräume unauffällig, RR 110/80 mmHg. Sinusrhythmus, ohne Ischämiezeichen, HF 90/min.

D – Disability

GCS 15, zu allen vier Qualitäten nur teilweise orientiert, Pupillen mittelgroß, isokor, verzögerte LR; FAST: deutlich erkennbare Parese des rechten Beins mit Standunfähigkeit, positiver Armhalteversuch rechts, Wernicke-Aphasie. pDMS nicht ermittelbar, BZ 110 mg/dl. Letztmalig vor zwei Tagen symptomfrei gesehen.

E – Exposure/Environment

Keine erkennbaren Verletzungen, Pat. hat eingenässt und eingestuhlt, ungepflegtes Gesamtbild, Bodycheck sonst unauffällig, Temp. 36,9°C.

Insgesamt ist es für den Schlaganfall doch recht eindeutig – neben der mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bestehenden Exsikkose. Meine Kollegin und ich einigen uns auf

Einschätzung

Ernsthaft erkrankt.

Der spannende Teil wurde dann aber die Anamnese. Nachdem eine Eigenanamnese bei einer doch recht ausgeprägten Wernicke-Aphasie mehr oder minder zum scheitern verurteilt ist, musste diese eben fremdanamestisch erfolgen.

Background-Info: Wernicke-Aphasie

Eine Wernicke-Aphasie ist eine Sprachstörung, welche das Sprachverständnis betrifft. Betroffene können zwar flüssig sprechen, allerdings ist der Sprachinhalt mehr oder weniger stark beeinträchtigt. Typisch sind beispielsweise häufige Wortneubildungen, Wortverwechselungen oder Antworten, die inhaltlich überhaupt nicht zur Frage passen.

Nachdem das Verhältnis zwischen unserem Patienten und der wohl gut drei Jahrzehnte jüngeren Dame unklar war, haben wir zunächst einmal genau danach gefragt.

„Ich bin seine Ehefrau. Also…auf dem Papier“

Unwillkürlich stutzte ich. Und die Dame führt völlig schmerzfrei aus, dass die beiden lediglich eine Scheinehe führen, damit sie das Haus bekommt. Ansonsten gehen sie sich aus dem Weg und fühlen sich auch sonst nicht weiter füreinander verantwortlich, obwohl sie im selben Haus leben.

Über den Gesundheitszustand ihres „Ehemanns“ wusste sie praktisch überhaupt nichts. Mehrfache Nachfragen und trotz allem wenig definitives. Dementsprechend „mau“ viel dann auch die Anamnese aus:

SAMPLER(S)

S – Symptome

Desorientiertheit, Hemiparese rechtsseitig, Wernicke-Aphasie. Pat. hat eingenässt/eingestuhlt. Verwahrlosung. Onset vermutlich vor mehreren Tagen, nicht genau ermittelbar.

A – Allergien

Nicht ermittelbar.

M – Medikamente

Nicht ermittelbar.

P – Vorerkrankungen

Nicht ermittelbar.

L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang

Nicht ermittelbar.

E – Ereignis

Unklar, Pat. wurde heute mit den Symptomen aufgefunden.

R – Risikofaktoren

Nicht ermittelbar.

S – Schwangerschaft

Ausgeschlossen.

Was tun?

Im Endeffekt ist die Informationslage äußert dürftig – und die moralische Lage doch sehr fragwürdig.

Wir beschließen, den Patienten mittels Tragetuch in unseren RTW zu verbringen, komplettierten das Monitoring, legten noch einen i.v.-Zugang (18 G, Unterarm links) und begannen mit einer Infusionstherapie.

Schon bei der Voranmeldung in der Neurologie war die dortige Begeisterung förmlich zu spüren – allein schon, weil wir die Hälfte der Fragen nicht beantworten konnten. Wir haben es einfach nicht herausbekommen. Unbefriedigend.

Nach einem sehr unspektakulären Transport dann die Übergabe – und spätestens nach der Schilderung der Gesamtsituation (welche der diensthabende Neurologe wortwörtlich notiert hat) wandte sich dessen Grundgenervtheit in ein Schmunzeln und Verwunderung.

Mit Blick auf das CT – welches wir dann doch noch abgewartet haben – wurde klar: komplett nekrotisches Gewebe, keine Schwellung. Sicherer Schlaganfall, aber wohl schon mehrere Tage alt.

Ob die Symptomatik nun wirklich mehrere Tage einfach nicht bemerkt wurde oder ob hier vielleicht sogar absichtsvoll gehandelt wurde möge jeder für sich selbst entscheiden.

Fazit

Was fand ich gut?

  • routinierte Abarbeitung des Einsatzes, gute Entscheidungsfindung und Teamwork
  • gute Zusammenarbeit mit der Schnittstelle Krankenhaus
  • Handschuhe – und Desinfektionsmittel 🙈

Was fand ich nicht gut?

  • praktisch nicht vorhandene Anamnese – auch wenn das nicht unsererseits zu verschulden war, ist es dennoch unbefriedigend
  • die pflegerische Gesamtsituation des Patienten

Was ist mir wichtig? – Take-home-Message

Ich habe offen gesagt länger darüber nachgedacht, was ich hier als Take-home-Message aufnehmen soll. Und mir ist für die Rettungsdienstseite tatsächlich wenig eingefallen, was man exklusiv aus diesem Einsatz mitnehmen kann.

Klar – strukturiertes Arbeiten, CRM oder Entscheidungsfindung gehen immer.

Viel wichtiger finde ich allerdings eher die Signalwirkung dieses Einsatzes für die Allgemeinheit: man muss sich definitiv Gedanken darüber machen, wie man im Alter versorgt werden will – und von wem.

Allein die Tatsache, dass die „Ehefrau“ sich des Versorgungsproblems wohl bewusst war und absolut gar nichts dagegen unternommen hat, ist sowohl bedenklich als auch moralisch verwerflich. Dass sich augenscheinlich keinerlei Gedanken darüber gemacht wurden, wie in einem Notfall zu handeln ist, ist zudem wohl ein Kernproblem gewesen.

Daher ist meines Erachtens wohl die wichtigste Take-home-Message hier: kümmert euch um eure persönliche Notfallvorsorge – dazu gehören neben notwendigen Unterlagen wie Kopien von Arztbriefen, eine Liste mit Diagnosen, eine aktuelle Medikamentenliste auch die Klassiker Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und/oder Betreuungsverfügung. Und um all diese Dinge muss man sich kümmern, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist.

Und: man mag mich dahingehend wirklich als „konservativ“ bezeichnen – aber eine reine „Zweckehe“ sollte es nicht geben. Und wenn es sie gibt, müssen nicht nur die Rechte, sondern auch die Pflichten der Partner klar definiert werden.

Weiterführende Literatur

Litmathe J. (2016): Neurologische Notfälle: Präklinische und innerklinische Akutversorgung. Springer-Verlag GmbH, Berlin/Heidelberg.

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Interessenkonflikte

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Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

ÄLRD Rheinland-Pfalz (2023): Ausbildungs- und Behandlungsalgorithmen Notfallsanitäter, Version 2023-03, abgerufen unter https://www.aelrd-rlp.de/index.php/download/ausbildungsalgorithmen-notsan-rheinland-pfalz/#, am 28.07.2023

Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/458DGcB Affiliate-Link

Deutscher Berufsverband Rettungsdienst e.V. (2023): Musteralgorithmen 2023 zur Umsetzung des Pyramidenprozesses im Rahmen des NotSanG, Version 8.0, abgerufen unter https://dbrd.de/images/algorithmen/DBRGAlgo23_Web.pdf am 28.07.2023

Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3q8w62I Affiliate-Link

SaniOnTheRoad (2020): CRM im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/crm-im-rettungsdienst/ am 28.07.2023

SaniOnTheRoad (2020): Persönliche Erste-Hilfe-Ausrüstung und Notfallvorsorge, abgerufen unter https://saniontheroad.com/personliche-erste-hilfe-ausrustung-und-notfallvorsorge/ am 28.07.2023

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 28.07.2023

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Über SaniOnTheRoad

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SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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