Die erste Blaulichtfahrt

an ambulance of the chicago fire department on the street

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Jung, unerfahren – und hilflos?

Zwischen dem Lernen für Anatomie und Physiologie habe ich dann doch die Zeit gefunden, mal wieder im gedanklichen Einsatzarchiv zu wühlen und bin relativ früh in meiner Anfangszeit hängengeblieben: und zwar bei meiner ersten „Blaulichtfahrt“ als Fahrer überhaupt.

Für diese kleine Zeitreise geht es ein paar Jährchen zurück: ich war 19, die Rettungssanitäter-Urkunde fast noch druckfrisch und FSJler – zu dem Zeitpunkt ein knappes Vierteljahr im Rettungsdienst.

Wie zu diesem Zeitpunkt üblich bestand meine Beschäftigung zu diesem Zeitpunkt aus…KTW fahren. Neue Kollegen wurden zu damaligen Zeiten erstmal auf dem KTW eingesetzt, bis sie „bereit“ für den RTW waren.

Aus heutiger Sicht frage ich mich umso mehr, inwiefern ein reines KTW-Fahren ohne erfahrene Kollegen einen auf die doch…andere Tätigkeit in der Notfallrettung vorbereiten soll…

Nun ja – ich hatte mich so langsam auf der Wache eingelebt und die typischen Abläufe des Krankentransports begannen, so langsam in Fleisch und Blut überzugehen. Und fairerweise muss ich dazu sagen: etwas auch nur halbwegs „dramatisches“ hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht erlebt.

Der Dienst

Zehn-Uhr-KTW – fast eine meiner Standardschichten. Unser KTW, der von 10 – 18 Uhr an allen Wochentagen lief, war unter den Rettungssanitätern eine der unbeliebtesten Schichten – nicht nur, weil allein von der Zeit her der ganze Tag gelaufen war, sondern man fast durchgehend unterwegs war.

Mit der Schicht nahm man an Dialysetagen sowohl die Hin- als auch Rückfahrten mit und deckte so ziemlich alle Pausenzeiträume der anderen KTWs im Kreis mit ab. Um 10 Uhr „andrücken“ bedeutete meist also auch ab 10 Uhr unterwegs sein.

An diesem Tag sollte es aber anders sein…

Ich hatte mit einer ehemaligen FSJlerin aus der Stadt Dienst – diese war erst seit kurzem auf unserer Wache, auch erst seit kurzem hauptamtlich…und hatte in der Notfallrettung genauso viel Erfahrung wie ich selbst: Keine.

Das ist für die üblichen qualifizierten Krankentransporte kein Problem – so sollte es allerdings nicht losgehen.

Als wir die Wache betraten, waren alle anderen Fahrzeuge unterwegs. Alle. Wir waren das letzte verbliebene Fahrzeug an unserer Wache. Zu dem Zeitpunkt war der Gedanke eher „Wir werden heute die Wache nicht mehr sehen“ als „Wir kriegen einen Notfall“.

Also: Auto gecheckt, angedrückt…und gewartet. Obwohl alle unterwegs waren, kam und kam kein Einsatz.

Es war über eine Stunde vergangen, bis der Melder ertönte:

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: VU – Motorrad.

Alarmierte Fahrzeuge: KTW solo, mit Sonder-/Wegerechten.

Meine Kollegin und ich schauten uns ungläubig an: ein Notfall?!

Wahrscheinlich waren wir noch nie so schnell nach der Alarmierung am KTW. Und wahrscheinlich auch nie mehr so unter Adrenalin stehend. Mir schossen gefühlt hunderte Gedanken durch den Kopf und mein Herz schlug bis in den Hals.

Durchatmen. Es ging auf eine Landstraße, zwei Ortschaften entfernt.

Der Plan: meine (zumindest etwas) erfahrenere Kollegin macht die Transportführerin – und ich fahre.

Wahrscheinlich war ich noch nie zuvor so nervös, wie in diesem Moment. Das erste Mal Blaulichtfahren. Der erste „Notfall“, zudem ich ohne die Kollegen auf dem RTW fahre. Wenig Material, null Erfahrung.

Der erste Kilometer mit Blaulicht war…eigentlich von maximaler Nervosität geprägt. Entgegen meiner Erwartung hatte es wirklich überhaupt keinen Spaß gemacht – es war laut, stressig und ich musste mit sämtlichen Reaktionen anderer Autofahrer rechnen. Dann wurde es langsam besser und wir trafen an der Einsatzstelle an.

Scene – Safety – Situation

Scene: Spätsommer, Mittag, 11:30, Landstraße, Verkehr steht.

Safety: Keine augenscheinlichen Gefahren.

Situation: Ein PKW-Fahrer nimmt uns in Empfang und führt uns zu dem am Boden liegenden Mopedfahrer (Mitte 70). Der PKW-Fahrer gibt an, den Unfallgegner beim Abbiegen übersehen und touchiert zu haben, daraufhin sei dieser gestürzt.

„Nur“ ein Moped, augenscheinlich keine hohe Geschwindigkeit, unser Patient scheint auf den ersten Blick noch recht fit zu sein.

Wir entscheiden uns für ein

Ersteinschätzung

Nicht kritisch.

und starten in unser Primary Survey

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose.

B – Breathing

Atemfrequenz 20/min, keine obere Einflussstauung, Thorax stabil, Atemexkursionen regelrecht, Pulmo bds. vesikuläres AG.

C – Circulation

Haut rosig, warm, trocken, stehende Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse beidseits tastbar, ca. 90/min; RR 130/80 mmHg, Blutungsräume unauffällig.

D – Disability

GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen isokor, mittelgroß, prompte LR. quick-FAST unauffällig, pDMS intakt. BZ 110 mg/dl.

E – Exposure/Environment

Schmerzangabe am linken Unterarm, Schürfwunden an beiden Händen, Schädel stabil, Wirbelsäule nicht druck-/klopfschmerzhaft; Bodycheck sonst unauffällig.

Es blieb bei einem

Einschätzung

Nicht kritisch.

Gut, fairerweise: so professionell war es dann doch nicht. Es blieb bei einem „Das kriegen wir irgendwie alleine hin“.

Ich vervollständigte die Anamnese, während meine Kollegin Schaufeltrage, Vakuummatratze und die kleine Wundversorgung vorbereitete.

SAMPLER(S)

S – Symptome

Schmerzangabe am linken Unterarm (NRS 3) ohne sichere Frakturzeichen, Schürfwunden an beiden Händen.

A – Allergien

Keine.

M – Medikamente

ASS 100, Ramipril 5 mg, Bisoprolol 5 mg.

P – Vorerkrankungen

aHT, Herzinsuffizienz.

L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang

Frühstück, 7:00.

E – Ereignis

Verkehrsunfall mit Sturz, Geschwindigkeit ca. 25 km/h.

R – Risikofaktoren

Alter.

S – Schwangerschaft

Ausgeschlossen.

Eigentlich waren wir jetzt auch nicht viel schlauer – eine Abklärung in der Chirurgie unseres Regelversorgers hielten wir allerdings für sinnvoll.

Stifneck dran und mithilfe der zwischenzeitlich eingetroffenen Polizei haben wir unseren Patienten auf die Vakuummatratze befördert und im KTW die Schürfwunden (so gut es ging) versorgt.

Meine Kollegin tippte mich an und fragte:

„Kannst Du hinten bleiben? Ich kann kein DIVI-Protokoll schreiben.“

DIVI-Protokoll, das ist das „große Notfallprotokoll“ – prinzipiell ist auch das selbsterklärend und sollte irgendwann im Rahmen der RS-Ausbildung auch geübt werden. Ich willigte trotzdem ein und so ging die Reise dann in unseren Regelversorger im Landkreis.

Fazit

Das Fazit des Einsatzes sieht nach einigen Jahren im Rettungsdienst, mehr Ausbildung und mehr Erfahrung natürlich anders aus, als es unmittelbar nach dem Einsatz der Fall gewesen wäre.

Einige Punkte – wie bspw. die HWS-Immobilisation mittels Stifneck oder die Indikationsstellung zur Vollimmobilisation – würde ich heute nicht mehr unbedingt so machen, wie damals.

Was fand ich gut?

  • der Einsatz wurde entsprechend Ausbildungs-, Erfahrungs- und Ausrüstungsstand solide abgearbeitet

Was fand ich nicht gut?

  • Kommunikation – sowohl seitens der Leitstelle, die kommentarlos einen KTW auf einen „Notfall“ geschickt hat; als auch unsererseits (keine Lagemeldung)
  • unerfahrenes Team auf dem KTW – rückblickend finde ich das Wesentlich kritischer als damals; zwei unerfahrene Kollegen alleine bei einem schwerwiegenderen Notfall kann durchaus Probleme verursachen
  • Thema Dokumentation – das „Nicht-Beherrschen“ des Ausfüllens eines standardisierten Protokolls ist definitiv ein fachliches Manko.

Was ist mir wichtig? – Take-home-Message

In Hinblick auf den Einsatz an sich: setzt Euch gedanklich damit auseinander, dass Ihr eines Tages die ersten bei einem Notfall sein könntet. Bereitet euch vor, übt strukturiertes Arbeiten am Patienten und setzt euch mit eurem Material auseinander, damit im Falle des Falles die Handgriffe sitzen.

Auch (oder gerade wenn) man überwiegend bis ausschließlich KTW fährt ist ein regelmäßiges Training unerlässlich, um die Fähigkeiten, auch mal einen Notfallpatienten (erst) zu versorgen auch tatsächlich erhalten bleiben. Da ist sowohl die Belegschaft der Wache in der Pflicht – wie auch der Betroffene selbst.

Die sichere Beherrschung des Materials auf dem KTW ist genauso wie die Dokumentation etwas, was ein Rettungssanitäter können muss.

In Hinblick auf das „Blaulichtfahren“: macht euch klar, dass der Tag irgendwann kommen wird. Es macht durchaus Sinn, sich vorher schon mal Gedanken zu machen, wie der Ablauf aussehen könnte – das reicht von „Wie bekomme ich das Blaulicht überhaupt an?“ bis hin zum eigenen Fahrstil.

Keine Frage – ihr werdet nervös sein. Der eine mehr, der andere weniger. Es ist nun mal etwas, was nicht jeder „darf“ und dahingehend durchaus was besonderes. Hier empfehle ich vor allem eines: Vorsicht walten lassen.

Das bedeutet auch, vielleicht lieber nochmal durchatmen, vielleicht lieber nicht in der total Unübersichtlichen Kurve bei Gegenverkehr überholen und vielleicht lieber nicht mit über 50 km/h durch die Fußgängerzone fahren.

„Blaulicht an, Hirn aus“ ist keine empfehlenswerte Strategie.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

SaniOnTheRoad (2023): Dokumentation im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/dokumentation-im-rettungsdienst/ am 19.11.2023

SaniOnTheRoad (2022): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 29: Schaufeltrage, Vakuummatratze und Spineboard, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-29/ am 19.11.2023

SaniOnTheRoad (2022): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 28: Die HWS-Immobilisation, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-28/ am 19.11.2023

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 19.11.2023

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 11: Was muss ein Rettungssanitäter können?, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-11/ am 19.11.2023

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 7: Blaulicht, Sonderrechte und Wegerechte, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-7/ am 19.11.2023

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Über SaniOnTheRoad

Die erste Blaulichtfahrt

SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im klinischen Abschnitt des Studiums. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.


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