Doch weit gefehlt

road sign under clouds

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Nicht alles ist so, wie es zunächst scheint

Die Arbeit mit dem Ungewissen ist einfach etwas, was unzertrennbar mit der präklinischen Notfallmedizin verbunden ist – und es ist einer der Faktoren, der die Arbeit spannend macht. Und manchmal einfach schwierig.

Wenn eine „blöde“ Gesamtsituation herrscht, ist es sehr schnell die Quelle von Fixierungsfehlern und dem Übersehen wichtiger Punkte.

So war es auch in dem folgenden Einsatz einer der vergangenen Nachtschichten auf einer unserer Außenwachen. Zur Abwechslung waren wir mit zwei NotSans besetzt und angesichts einer „Standardeinsatzmeldung“ frohen Mutes, aus diesem Einsatz nichts besonderes zu machen:

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: Schlaganfall, unklarer Symptombeginn.

Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, mit Sonder-/Wegerechten.

Eigentlich nichts besonders – ein Schlaganfall, sofern es tatsächlich einer ist, ist Routine. Mit „unklarem Symptombeginn“ kann man in vielen Fällen davon ausgehen, dass man weit außerhalb des Lysefensters ist.

Weit haben wir es nicht. Es geht in einen Nachbarort, knappe 10 Minuten Anfahrt.

Scene – Safety – Situation

Scene: Sommer, Abend, 22:00, kühl, windig und regnerisch, Einliegerwohnung eines Mehrfamilienhauses in ländlicher Gegend.

Safety: Keine augenscheinlichen Gefahren.

Situation: Neffe und Schwester des Patienten nehmen uns in Empfang, der Patient, Ende 70, liegt in einem Pflegebett im Wohnzimmer. Es wird von einer seit heute morgen bestehenden Verschlechterung des Allgemeinzustands und Luftnot berichtet.

Klingt erst einmal nach etwas ganz anderem, als gemeldet wurde. Mit dem durchaus stickigen Zimmer und dem penetranten Geruch von Urin, der bereits beim Betreten der Wohnung entgegenschlägt, liegt natürlich der Gedanke eines Versorgungsproblems nahe.

Wir entscheiden uns für ein

Ersteinschätzung

Potentiell kritisch.

und starten in unser Primary Survey:

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose.

B – Breathing

Atemfrequenz 22/min, keine obere Einflussstauung, Thorax stabil, Atemexkursionen regelrecht, Pulmo bds. brodelnde AG, SpO2 91 % unter 2 l/min Heimsauerstofftherapie. Der Patient gibt subjektive Dyspnie an.

C – Circulation

Haut rosig, warm, trocken, stehende Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse beidseits tastbar; Blutungsräume unauffällig, RR 130/90 mmHg. EKG: Sinustachykardie mit Linksschenkelblock, HF 120/min.

D – Disability

GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen isokor, mittelgroß, prompte LR. quick-FAST/BE-FAST unauffällig, pDMS intakt. Pat. reagiert nach Aussage der Angehörigen verlangsamt.

E – Exposure/Environment

Pergamenthaut mit diversen ältereren Verletzungen, eingeschränkte Beweglichkeit der Hände bei Arthritis, keine Beinödeme, Bodycheck sonst unauffällig, Temp. 36,3°C.

Wir sortierten den Patient als

Einschätzung

Ernsthaft erkrankt.

ein. Mit dem brodelnden Atemgeräusch und den – weder den Angehörigen, noch den hektrisch zusammengesuchten Arztbriefen zu entnehmenden EKG-Auffälligkeiten – haben wir uns für die naheliegende Arbeitsdiagnose „kardiale Dekompensation, beginnendes Lungenödem“ entschieden.

Plan: Sauerstoffgabe, Notarztnachforderung, alles weitere dann im Auto mit etwas mehr Platz, als uns im in der Ecke stehenden Pflegebett zur Verfügung stand. Mit 6 l/min über die Sauerstoffmaske stieg die Sättigung erfreulicherweise auf 96 % an.

Während ich noch ein wenig mit dem Monitoring beschäftigt war, hat mein Kollege die Anamnese vervollständigt:

SAMPLER(S)

S – Symptome

Seit dem morgen aufgretetene Luftnot, AZ-Reduktion, Pat. reagiert verlangsamt. Sozialstation sei am morgen vor Ort gewesen und hat nichts unternommen.

A – Allergien

Keine.

M – Medikamente

Hypdromorphon, Metamizol, Prednisolon, Methotrexat, Vitamin D.

P – Vorerkrankungen

Rheumatoide Arthritis, bekanntes Plasmozytom,

L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang

Am Vortag.

E – Ereignis

Unklar, Pat. wurde heute mit den Symptomen aufgefunden.

R – Risikofaktoren

Alter, Vorerkrankungen.

S – Schwangerschaft

Ausgeschlossen.

Also: mit Unterstützung der Angehörigen und dem Tragetuch nach draußen, ab in den RTW.

Während mein Kollege nach einem Zugang gesucht hat, habe ich schon mal das Furosemid aufgezogen und mich kurz um die Angehörigen gekümmert.

Background-Info

Furosemid ist ein so genanntes Schleifendiuretikum – „Entwässerungsmittel“ – welches sowohl den Blutdruck senkt, als auch die Harnausscheidung massiv steigt. Standardmedikation bei kardialem Lungenödem mit üblicherweise 40 mg langsam (!) i.v.

Kurze Zeit später traf auch unsere Notärztin ein – Übergabe, kurze Untersuchung, kurzes Gespräch mit den Angehörigen. Nachdem mein Kollege mit dem Zugang nicht erfolgreich war, hat unsere Notärztin – glücklicherweise erfolgreich – übernommen.

Den Blutzucker hatten wir erstmal hinten angestellt und der NEF-Fahrer hatte ihn nach der Anlage des i.v.-Zugangs direkt aus der Nadel gemacht. Mit ernüchternden Ergebnis: „HI„. So hoch, dass unser Messgerät ihn nicht mehr messen konnte – also über 600 mg/dl.

Einigermaßen überrascht – da kein Diabetes mellitus bekannt war – haben wir eine zweite Messung aus Kapillarblut durchgeführt. Ergebnis: „HI„. Kein Schlaganfall, kein kardiales Lungenödem – wir ändern die Verdachtsdiagnose in Hyperglykämie. Das Furosemid verwerfen wir.

Es ging dann in Notarztbeleitung auf die Intensivstation unseres Grundversorgers. Die Blutgasanalyse hatten wir noch abgewartet: 719 mg/dl waren es dann tatsächlich. Nachbesprechung im Team.

Was war hier passiert?

Der Schlüssel lag hier in den Vorerkrankungen des Patienten – der rheumatoiden Arthritis – und der damit zusammenhängenden Behandlung – dem Prednisolon.

Prednisolon zählt zu den Glucocorticoiden und ist damit ein Cortisonderivat. Sinn und Zweck des Ganzen ist eine Hemmung der Immunabwehr, um die Entzündungsreaktion der Autoimmunerkrankung und damit das Voranschreiten der Arthritis zu verlangsamen. Soweit, so gut.

Leider haben Glucocorticoide insbesondere bei längerfristiger, systemischer Anwendung auch gravierende Nebenwirkungen. So beruhte die hoch empfindliche „Pergamenthaut“ unseres Patienten auf der Störung der Synthese von Bindegewebsproteinen.

Sie erhöhen auch den Blutzuckerspiegel – was, wie bei einem aus anderen Gründen dauerhaft erhöhten Blutzuckerspiegel – langfristig zu einem Diabetes mellitus Typ 2 führt. Das war hier passiert, der schlechte Allgemeinzustand war einfach die Erstmanifestation des Diabetes bei unserem Patienten.

Selbst unser vermeintliches kardiales Lungenödem lässt sich damit erklären: werden Glucocorticoide zu hoch dosiert, wirken sie nicht nur an den Glucocorticoid-Rezeptoren, sondern auch an Mineralocorticoid-Rezeptoren – was dazu führt, dass in der Niere vermehrt Flüssigkeit rückresorbiert wird und sich Ödeme bilden.

Tückisch in diesem Falle war, dass die typischen Symptome einer Hyperglykämie – wie Polyurie und Polydypsie, die wohlmöglich eine frühere ärztliche Kontrolle bewirkt hätten – durch die vermehrte Wasserrückresorption schlichtweg überdeckt wurden.

Pathophysiologie und Clinical Reasoning können so einfach sein – oder?

Weiterführende Literatur

Geisslinger G., Menzel S., Gudermann T., Hinz B., Ruth P. (2019): Mutschler Arzneimittelwirkungen, 11. Auflage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart.

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Fazit

Was fand ich gut?

  • strukturiertes Abarbeiten des Einsatzes
  • Erkennen des Fixierungsfehlers durch vollständiges Monitoring und Reevaluation und dessen Korrektur
  • Nachbesprechung im gesamten Team mit der Notärztin

Was fand ich nicht gut?

  • Fixierungsfehler – auch, wenn dieser in Anbetracht der Gesamtsituation „verzeihlich“ war, hätte er früher auffallen müssen und ich habe mich tatsächlich geärgert
  • schwierige Informationsbeschaffung – die Schwester des Patienten hatte zwar die gesetzliche Betreuung, konnte aber nicht viel Auskunft geben; der Medikamentenplan war hochgradig unleserlich und Arztbriefe (vergleichsweise alt und fraglich aktuell) mussten erst mühsam zusammengesucht werden. Vorbereitung wäre sinnvoll.

Was ist mir wichtig? – Take-home-Message

Interessant – und damit berichtenswert – fand ich den Einsatz tatsächlich vor allem wegen der dahinterstehenden Pathophysiologie. Das war eine Sache, die mir zwar bekannt war, ich aber absolut nicht „auf den Schirm“ hatte.

Insofern ist der erste Teil der Take-home-Message ein klares „Hintergrundwissen ist unbedingt notwendig“ – und auch, wenn man bei Hufgetrappel zuerst an Pferde denken soll und nicht an Zebras, heißt es nicht, dass es keine Zebras gibt.

Auch wenn zu einer wahrscheinlichen Diagnose alles passt, heißt es keineswegs, dass es auch diese sein muss. Deswegen: nicht nach Bestätigung der wahrscheinlichen Diagnose suchen, sondern alles andere gezielt ausschließen. Das Trichter-Prinzip nach AMLS bietet sich hier unbedingt an.

„Erkenne und vermeide Fixierungsfehler“ ist der CRM-Grundsatz des Tages – das Erkennen hat letztendlich gut funktioniert, das Vermeiden eher nicht. Die BZ-Messung hätte auch durchaus im Primary Survey in der Wohnung erfolgen können. Eine unmittelbare therapeutische Konsequenz wäre zumindest in diesem Fall nicht daraus erwachsen.

Ein strukturiertes Arbeiten und ein komplettes Monitoring haben uns hier letztendlich vor der „falschen Fährte“ gerettet.

Unbedingt positiv hervorheben muss man die Nachbesprechung im gesamten Team: einerseits, dass sie stattgefunden hat, andererseits, dass jeder der Beteiligten etwas davon mitgenommen hat – und in Bezug auf solche Einsätze wieder etwas sensibilisierter an das Thema herangeht.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass es sich bei den verlinkten Büchern um Affiliate-Links handelt. Es entstehen keine zusätzlichen Kosten bei der Bestellung über den Link. Eine Einflussnahme bei der Auswahl der Literatur ist dadurch nicht erfolgt. Siehe auch: Hinweise zu Affiliate-Links.

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

Behrends J. et al. (2021): Duale Reihe Physiologie, 4. unveränderte Auflage. Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart. ISBN 978-3-13-243862-0.. DOI: 10.1055/b000000462. Hier erhältlich: https://amzn.to/3YlmH4w Affiliate-Link

Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/458DGcB Affiliate-Link

Deutscher Berufsverband Rettungsdienst e.V. (2023): Musteralgorithmen 2023 zur Umsetzung des Pyramidenprozesses im Rahmen des NotSanG, Version 8.0, abgerufen unter https://dbrd.de/images/algorithmen/DBRGAlgo23_Web.pdf am 04.08.2023

Geisslinger G., Menzel S., Gudermann T., Hinz B., Ruth P. (2019): Mutschler Arzneimittelwirkungen, 11. Auflage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart. ISBN 978-3-8047-3663-4. Hier erhältlich: https://amzn.to/3Kr0Oev Affiliate-Link

Gekle M. et al. (2015): Taschenlehrbuch Physiologie, 2. Auflage. Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart. ISBN: 978-3131449825. Hier erhältlich: https://amzn.to/3qb6p1F Affiliate-Link

Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3q8w62I Affiliate-Link

SaniOnTheRoad (2020): CRM im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/crm-im-rettungsdienst/ am 04.08.2023

SaniOnTheRoad (2020): Persönliche Erste-Hilfe-Ausrüstung und Notfallvorsorge, abgerufen unter https://saniontheroad.com/personliche-erste-hilfe-ausrustung-und-notfallvorsorge/ am 04.08.2023

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 04.08.2023

Vaupel P., Schaible H.-G., Mutschler E. (2015): Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie des Menschen, 7. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart. ISBN 978-3-8047-2979-7. Hier erhältlich: https://amzn.to/43POvPL Affiliate-Link

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Über SaniOnTheRoad

Doch weit gefehlt

SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im klinischen Abschnitt des Studiums. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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