Einweisung: akuter STEMI

white and blue graphing paper

Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.

Das kann doch nicht sein!

Das spezielle Arbeitsumfeld Rettungsdienst trägt manchmal Auswüchse, die einen entweder aus dem Staunen oder aus dem Kopfschütteln nicht mehr herauskommen lassen. Nach ein paar Jahren hat man schon Pferde kotzen sehen. Mehrfach.

So ziemlich jeder Rettungsdienstler, der regelmäßig fährt, hat sein Potpourri an lustigen, kuriosen oder auch bedenklichen Einsätzen gesammelt und kennt mehr als eine fragwürdige Entscheidung, die im Umfeld des Einsatzes getroffen wurde.

Das war bei diesem Einsatz nicht anders – und auch wenn er schon eine ganze Weile zurückliegt, blieb er mir wegen der Umstände gut in Erinnerung.

Routine-Nachtschicht?

Eigentlich war eine halbwegs lockere Nacht zu wünschen gewesen – wenn auch der Tagdienst etwas Überstunden gemacht hat. Dazu sollte es aber erst einmal nicht kommen.

Während der etwas verspäteten Übergabe werden mein Kollege – seines Zeichen Praxisanleiter – und meine Wenigkeit prompt zum Einsatz herausalarmiert.

Einsatzdaten

Einsatzmeldung: Akutes Koronarsyndrom.

Alarmierte Fahrzeuge: RTW + NEF, First Responder, mit Sonder-/Wegerechten.


Eigentlich stellen wir uns auf einen absoluten Routineeinsatz ein. Das akute Koronarsyndrom, was mehrere Erkrankungen mit „Herzinfarktsymptomatik“ zusammenfasst, ist schließlich einer der häufigsten Einsätze überhaupt.

Der Notarzt ist direkt mitalarmiert, kommt aber vom anderen Notarztstandort im Landkreis, und der First Responder des Ortes – rund 20 Minuten entfernt – spielt auch mit.

Gedanklich sind wir eigentlich schon im Routineschema. Der First Responder wird vor Ort sein und den Großteil der Basics bis zu unserem Eintreffen erledigt haben, der Notarzt dürfte zeitgleich mit uns eintreffen, EKG, ASS und Heparin und die Reise, je nach Ergebnis, entweder direkt ins Herzkatheterlabor oder in die Zentrale Notaufnahme.

Ganz so sollte es sich allerdings nicht bewahrheiten.

Scene – Safety – Situation

Scene: Herbst, Abend, ca. 20:00 Uhr, kühl, Einfamilienhaus in ländlicher Gegend

Safety: keine augenscheinlichen Gefahren.

Situation: Paralleles Eintreffen mit dem NEF, die Ehefrau des Patienten nimmt uns in Empfang. Ihr Mann habe seit heute morgen Brustschmerzen und war beim Hausarzt, es wird allerdings nicht besser. Dieser sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer.

Der First Responder ist nicht vor Ort. Wir entscheiden uns für ein

Ersteinschätzung

Potentiell kritisch.

Mein Kollege und ich kümmern uns um das Primary Survey, während der Notarzt in die Anamnese einsteigt und der NEF-Fahrer sich um die Dokumentation kümmert.

xABCDE

x – Exsanguination

Keine starke äußere Blutung.

A – Airway

Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose.

B – Breathing

Atemfrequenz 18/min, Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits vesikuläres Atemgeräusch, keine Halsvenenstauung, leichte Dyspnoe. SpO2 93 %.

C – Circulation

Haut rosig, warm, trocken, keine stehenden Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse gut tastbar; Abdomen weich, keine Abwehrspannung; Blutungsräume sonst unauffällig, RR 180/100 mmHg. Anhaltende Angina pectoris-Beschwerden. EKG: Sinustachykardie, ST-Streckenhebungen in II, III, aVF, V5, V6.

D – Disability

GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen isokor, mittelweit, prompte Lichtreaktion; quick-FAST unauffällig, pDMS intakt, BZ 138 mg/dl.

E – Exposure/Environment

Retrosternale Schmerzen, NRS 6, mit Ausstrahlung in den linken Arm und Oberbauch, nicht auslösbar, nicht atemabhängig; sonstiger Bodycheck unauffällig, keine Verletzungen Temp. 36,8°C.

Wir kommen zur Einschätzung

Einschätzung

Kritisch.

und besprechen gemeinsam mit dem – mittlerweile wütenden – Notarzt unsere Ergebnisse.

SAMPLER(S)

S – Symptome

Seit heute morgen (ca. 8:00) bestehende Angina-pectoris-Symptomatik, der Patient war daraufhin am Nachmittag beim Hausarzt vorstellig, dort wurde ein EKG geschrieben und der STEMI festgestellt, nachdem die Chest Pain Unit abgelehnt hatte, wurde der Patient mit der Anweisung heimgeschickt, den Rettungsdienst zu rufen, wenn es nicht besser wird.

A – Allergien

Amoxicillin.

M – Medikamente

Ramipril, Atorvastatin, L-Thyroxin. Durch

P – Vorerkrankungen

Arterielle Hypertonie, Hyperlipidämie, Hypothyreose. Durch den Hausarzt 500 mg ASS und 600 mg Clopidogrel per os.

L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang

Letzte orale Aufnahme: Abendessen, ca. 17:00, belegtes Brot. Ausscheidungen unauffällig.

E – Ereignis

Symptombeginn aus der Ruhe heraus.

R – Risikofaktoren

Adipositas.

S – Schwangerschaft

Ausgeschlossen.

Nun, die Aufregung des Notarztes konnten wir nachvollziehen – so wirklich lege artis war das nicht.

Es lag tatsächlich ein Transportschein für einen NAW – neben dem ausgedruckten EKG und der Einweisung („Verordnung von Krankenhausbehandlung“) auf dem Wohnzimmertisch des Patienten.

Aufschlussreich war vor allem die Einweisung:

„Akutes Koronarsyndrom, ST-Hebungsinfarkt der Hinterwand“

– Diagnose

weiter hieß es

„Pectanginöse Beschwerden, ST-Streckenhebungen in II, III, aVF, V5, V6, Medikation 500 mg Aspirin + 600 mg Plavix oral, Rücksprache mit Kardiologie, CPU im Krankenhaus xxx und Krankenhaus xxx lehnen Aufnahme des Pat. ab.“

– Untersuchungsergebnisse

Zu unserer Verwunderung hat der Hausarzt des Patienten die Situation richtig erfasst und den Patienten – bis auf das „heim schicken“ auch korrekt behandelt (über die doppelte Thrombozytenaggregationshemmung in der Präklinik mag man streiten).

Was unseren Notarzt allerdings vornehmlich zum Kochen brachte war die Ablehnung eines Notfallpatienten. Das wollte er noch direkt vor Ort klären. Während der Notarzt mit dem diensthabenden Arzt der Chest Pain Unit telefonierte, versorgten wir den Patienten weiter und bereiteten den Transport ins Fahrzeug vor.

Unser EKG wurde an die CPU gefaxt, der Patient erhielt einen venösen Zugang (20 G Handrücken links) und eine Vollelektrolytlösung zum Offenhalten. Während wir den Patienten mittels Tragestuhl in den RTW beförderten, konnten wir mitbekommen, wie unser Notarzt am Telefon zunehmend lauter wurde und die Diskussion langsam entglitt.

Der diensthabende Arzt bestand auf

„Das sind keine Ischämiezeichen! Nichts für die CPU!“

Fairerweise muss man an der Stelle sagen: es waren tatsächlich keine ST-Streckenhebungen des Jahrhunderts – sie waren aber dennoch deutlich erkennbar und haben die STEMI-Kriterien zweifellos erfüllt.

Irgendwann hieß es dann „kurzer Prozess“ – der Patient erhielt bei persistierenden Beschwerden einen Hub Glyceroltrinitrat sublingual und 5 mg Morphin i.v. zur Analgesie, dann ging die Reise los. In die CPU.

Das Event des Abends war dann das Aufeinandertreffen, von unserem Notarzt schon mit den Worten

„Jetzt bringe ich denen mal ‚was über EKG-Interpretation bei!“

noch im RTW angekündigt.

Es war – zumindest für Rettungsdienst und Pflege – eine Gaudi. Zwei Ärzte, die sich anschreien und mit gegenseitigen Beschwerden über den Chefarzt drohen – der diensthabende Arzt der CPU bestreitet, dass jede Aufnahme abgelehnt wurde (der Patient hätte ja in die normale Notaufnahme gehen können) und wirft dem Notarzt eine Lüge vor, umgekehrt wird die Ablehnung eines Notfallpatienten und die Unkenntnis des Zuständigkeitsbereichs moniert.

Auf dem Weg zum Auto kann ich die Aussage

„Ich bin anfangs ganz ruhig geblieben“

von unserem Notarzt auch nur mit einem Schulterzucken quittieren.

Fazit

Was fand ich gut?

  • gute Aufgabenteilung und Absprachen vor Ort
  • korrekte Vormedikation durch den Hausarzt, Versuch der Voranmeldung
  • den Einsatz des Notarztes für den Patienten

Was fand ich nicht gut?

  • die Entlassung des Patienten nach Hause durch den Hausarzt – die Alarmierung des Rettungsdienstes hätte angesichts des Befundes schon in der Praxis erfolgen müssen
  • Abspracheproblematik mit der aufnehmenden Klinik – eine klare Zuweisungsstrategie hat hier gefehlt
  • Professionalität – weder unser Notarzt, noch der diensthabende Arzt der CPU haben hier besondere Qualitäten gezeigt

Was ist mir wichtig? – Take-home-Message

Notfallmedizin ist ein sehr spezieller Bereich – und so wie nicht alle Köche gut italienisch kochen können, so kann auch nicht jeder Arzt gute Notfallmedizin betreiben.

Im Prinzip kann man dem Hausarzt nur einen „Vorwurf“ machen: er hat den Rettungsdienst nicht gerufen. Ansonsten war die medizinische Versorgung, abgesehen von „Patient geht heim und ruft selbst den RD“ in Ordnung.

Gerade wenn Schnittstellen aufeinander treffen braucht es verbindliche Standards, egal ob es Hausarzt – Krankenhaus, Rettungsdienst – Hausarzt oder Rettungsdienst – Krankenhaus ist. Wahrscheinlich wäre mit einer klaren Kommunikation und einer klaren Absprache die Aufnahme des Patienten zugesagt worden, der Rettungsdienst hätte den Patienten in der Praxis übernommen und es wäre eigentlich alles tutti gewesen.

Letztendlich zeigt dieser Einsatz, wie leicht selbst Profis im Gesundheitswesen Fehler unterlaufen, die teilweise Ersthelfer erkennen (ja, ein Herzinfarkt muss ins Krankenhaus) – und wie wichtig eine gute Zusammenarbeit an Schnittstellen ist. Und wie sehr die Kommunikation zur Professionalität oder eben zur Unprofessionalität beiträgt.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/3I9E1Ap

Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (2017): ESC-Guidelines Therapie des akuten Herzinfarktes bei Patienten mit persistierender ST-Streckenhebung, Version 2017. Börm Bruckmeier Verlag, Grünwald. Abgerufen unter https://leitlinien.dgk.org/files/09_2017_pocket_leitlinien_stemi.pdf am 03.05.2022. ISBN 978-3-89862-979-9.

Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3s8KEh5

SaniOnTheRoad (2020): Erste Hilfe: Herzinfarkt, abgerufen unter https://saniontheroad.com/erste-hilfe-herzinfarkt/ am 03.05.2022

SaniOnTheRoad (2020): 1.3 Rettungsdienstliche Schnittstellen, abgerufen unter https://saniontheroad.com/1-3-rettungsdienstliche-schnittstellen/ am 03.05.2022

SaniOnTheRoad (2020): Kommunikation – Professionalität über’s Fachgebiet hinaus, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kommunikation-professionalitat-ubers-fachgebiet-hinaus/ am 03.05.2022

SaniOnTheRoad (2020): Die Top 20 der häufigsten Rettungsdiensteinsätze, abgerufen unter https://saniontheroad.com/die-top-20-der-haufigsten-rettungsdiensteinsatze/ am 03.05.2022

SaniOnTheRoad (2020): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 18: First Responder, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-18/ am 03.05.2022

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 03.05.2022

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Über SaniOnTheRoad

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SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im klinischen Abschnitt des Studiums. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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