Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.
Es gibt einfach Einsätze, die einem aufgrund der Gesamtumstände in Erinnerung bleiben – und es gibt Einsätze, die schon aufgrund ihrer Seltenheit in Erinnerung bleiben.
So auch bei diesem Einsatz, der sich vor etwas längerer Zeit abgespielt hat (und an diesem Tag zu einer „Einsatzwelle“ nach dem Mittagessen geführt hat).
Wir hatten an diesem Tag einen regelrechten „Wintereinbruch“ und mit einer schneebedeckten Landschaft bei strahlendem Sonnenschein eigentlich ein perfektes Wetter. Wenn man denn nicht arbeiten müsste…
Der Morgen war für die komplette Wache vollkommen ruhig. die Tagesaufgaben waren schnell erledigt und bis nach dem Mittagessen gab es für uns nichts zu tun – dann sollte die Ruhe für den Rest der Schicht aber vorbei sein.
Einsatzdaten
Einsatzmeldung: S1 – Flugunfall klein, Gleit-/Fallschirm/Drachen-/Kleinflugzeug; „Drachenflieger hängt im Baum“.
Alarmierte Fahrzeuge: RTW solo, Feuerwehr, Polizei, mit Sonder-/Wegerechten.
Die Reise geht an den „Berg“ unseres Landkreises, der mehrere Startplätze für Gleitschirm- und Drachenflieger hat. Und ein relativ großes Areal einnimmt. Und praktisch komplett von Wald umgeben ist.
Nähere Infos gibt es auch auf Anfrage nicht, wir sollen den Besucherparkplatz auf dem Berg anfahren und uns mit der Feuerwehr absprechen, die ebenfalls mit auf der Anfahrt ist.
Scene – Safety – Situation
Scene: Winter, Mittag, ca. 13:00 Uhr, kalt, durchgehende Schneedecke, sonnig, Waldgebiet.
Safety: keine augenscheinlichen Gefahren.
Situation: Paralleles Eintreffen mit der Feuerwehr und der Polizei am vereinbarten Treffpunkt, Lage weiterhin unklar.
Einfach auf Grundlage der Einsatzmeldung entscheiden wir uns für ein
Ersteinschätzung
Potentiell kritisch.
So, und da stehen wir nun am Parkplatz und sind erstmal genauso schlau wie zuvor. Lagebesprechung.
Auch nach nochmaliger Rücksprache mit der Leitstelle war nicht klar, wo die Suche nun beginnen soll – der Anrufer (wohl ein Wanderer) war nicht mehr erreichbar. Nachdem die Startplätze relativ weit auseinander liegen und keiner davon auf den schneebedeckten und teils vereisten Waldwegen mit unserem RTW anfahrbar ist, schwärmt die Feuerwehr aus – wir melden uns noch in der entsprechenden Funkgruppe der Feuerwehr an und warten auf eine Rückmeldung.
Und wir warten. Und warten. Und warten.
Selbst mit den wesentlich geländegängigeren Feuerwehrfahrzeugen gestaltet sich das Vorankommen schwierig.
Unterdessen male ich mir aus, wie die Situation vor Ort aussehen könnte…hängt er noch im Baum? Wenn ja, wird es auf eine Höhenrettung hinauslaufen – diese wird von der Berufsfeuerwehr gestellt und hätte nochmal 40 Minuten Anfahrt, zusätzlich zu der Suchzeit. Oder ist er abgestürzt? Dann könnte es problemlos ein Polytrauma sein.
Das Warten gehört bei manchen Einsätzen dazu, aber hier ging die Wartezeit gefühlt ins Unermessliche.
Eine halbe Stunde später kam dann die Rückmeldung
„Patient hängt nicht mehr im Baum, Verdacht Unterschenkelfraktur“
zusammen mit der Standortangabe – was prompt das nächste Problem beinhaltete: dort würden wir nicht hinkommen. Nach Rücksprache über Funk mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr entschlossen wir uns, einen neuen Treffpunkt auszumachen und dort von einem Feuerwehrfahrzeug aufgenommen zu werden.
Die Feuerwehr machte sich unterdessen an die Rettung des Patienten mittels Schleifkorbtrage.
Am Treffpunkt dann die Aufklärung, was der Plan ist: Patiententransport im MZF der Feuerwehr. Mit dem MZF kommen wir zumindest zum Patienten und können ihn aufnehmen, Nachteil ist, dass wir den Patienten auf der unbeheizten Ladefläche transportieren müssen.
Wir bereiten den RTW noch vor, richten die Vakuummatratze und drehen die Heizung voll auf – es ist eisig kalt und die Idee, nur mit Polo-Shirt und Weste rauszufahren bereue ich so langsam.
Mit dem MZF geht es dann in Richtung Startrampe mitten im Wald, wo uns die Kollegen der Feuerwehr mit Patient in der Schleifkorbtrage – sichtlich angestrengt – entgegenkommen. Verständlich, wenn man einen 90-kg-Mann über mehrere hundert Meter im Schnee über Waldwege ziehen muss.
Kurze Übergabe durch die Feuerwehr, der Patient scheint augenscheinlich kreislaufstabil und die Schmerzsituation noch tolerabel; wir entscheiden uns daher, den Patienten schnellstmöglich in den RTW zu verbringen und die weitere Versorgung dort vorzunehmen.
Ein Patiententransport auf der unbeheizten Ladefläche eines MZF in der Schleifkorbtrage mit Spanngurten gesichert ist zwar nicht schön, aber selten.
Währenddessen bekommt unser Patient auch die Gelegenheit, seine Situation zu schildern: er ist auf der schneebedeckten Startrampe ins Straucheln gekommen, hatte dadurch nicht genug Geschwindigkeit aufbauen können um Höhe zu gewinnen – und ist dann prompt in den unten liegenden Baumwipfeln hängen geblieben. Letztendlich sei er samt Drachenflieger, durch die Äste gebremst, rund 10 – 15 Meter in die Tiefe gefallen.
Am RTW angekommen lagern wir den Patienten mithilfe der Feuerwehr auf unsere Vakuummatratze um und steigen erstmals ins richtige Primary Survey ein:
xABCDE
x – Exsanguination
Keine starke äußere Blutung.
A – Airway
Atemwege frei, Mundschleimhäute feucht, rosig, keine Zyanose.
B – Breathing
Atemfrequenz 15/min, Thorax stabil, regelrechte Thoraxexkursionen, beidseits vesikuläres Atemgeräusch, keine Halsvenenstauung, keine Dyspnoe. SpO2 97 %.
C – Circulation
Haut rosig, warm, trocken, keine stehende, Hautfalten; Rekapillarisierungszeit < 2 Sekunden, periphere Pulse gut tastbar; Abdomen weich, keine Abwehrspannung; keine Schmerzangabe im Becken, Schwellung und Schmerzen im linken Oberschenkel, RR 110/70 mmHg. Keine Angina pectoris-Beschwerden. EKG: normofrequenter Sinusrhythmus ohne Ischämiezeichen.
D – Disability
GCS 15, 4-fach orientiert, Pupillen isokor, mittelweit, prompte Lichtreaktion; quick-FAST unauffällig, pDMS der linken Hand auffällig, sonst intakt, BZ 112 mg/dl.
E – Exposure/Environment
Offene Unterschenkelfraktur (II°) links, Schwellung und Schmerzen im linken Oberschenkel, Schwellung Knie rechts, V.a. Handgelenks-Fraktur links, Schmerzen im BWS-Bereich, diverse Schürfwunden am ganzen Körper, Temp. 36,0°C.
Einschätzung
Kritisch.
Wir entscheiden uns aufgrund der Wirbelsäulenschmerzen und des Unfallhergangs für eine Vollimmobilisation, bei zunehmenden Schmerzen der offenen Unterschenkel-Fraktur (NRS 7-8) zudem für eine Notarztnachforderung. Die Anlage eines Stifneck wurde nicht toleriert, folglich erfolgte die Immobilisation ausschließlich mit der Vakuummatratze.
Parallel erhielt der Patient ein Standardmonitoring, 6 l/min Sauerstoff über eine Sauerstoffmaske, einen großlumigen i.v.-Zugang (14 G) am Unterarm rechts sowie eine Versorgung der Wunden und Frakturen wie einen umfassenden Wärmeerhalt.
Die SAMPLER(S)-Anamnese gestaltete sich unauffällig:
SAMPLER(S)
S – Symptome
Diverse Frakturen und Schürfwunden, zunehmende Schmerzsymptomatik vor allem im Bereich des Unterschenkels.
A – Allergien
Keine.
M – Medikamente
Keine.
P – Vorerkrankungen
Keine.
L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang
Letzte orale Aufnahme: Frühstück, 9:00, Kaffee und Brötchen. Ausscheidungen unauffällig.
E – Ereignis
Absturz mit Drachenflieger in Baum mit anschließendem Sturz (10 – 15 m) auf Boden.
R – Risikofaktoren
Nikotinabusus.
S – Schwangerschaft
Ausgeschlossen.
Nach Eintreffen der Notärztin erfolgte die Übergabe an diese. Sie entschied sich zu einer Analgesie mittels Esketamin (30 mg) und Midazolam (1 mg), woraufhin sich die Schmerzsituation auch deutlich besserte.
Der Patient wurde zwischenzeitlich durch unsere NEF-Fahrerin im Schockraum des nächstgelegenen Regelversorgers angemeldet und letztendlich komplikationslos in Notarztbegleitung dorthin transportiert.
Durchatmen.
Die Ortsangabe beim Notruf und ihre Wichtigkeit
An dem vorliegenden Fall erkennt man auch hervorragend die Bedeutung der Ersthelfer und das korrekte Absetzen (und die korrekte Abfrage) eines Notrufs.
Wir hatten eine erhebliche Zeitverzögerung beim Auffinden des Patienten, zusätzlich zu den Anfahrtszeiten und der Dauer der Rettung an sich – zumindest ein erheblicher Zeitvorteil wäre mit einer präzisen Ortsangabe möglich gewesen.
Auch wenn die fünf W-Fragen – die mittlerweile eigentlich nur noch vier sind – dank der strukturierten Notrufabfrage nicht mehr so ganz en vogue sind, sind die Informationen immer noch essentiell und gerade das „Wo?“ unverzichtbar.
Fazit
Was fand ich gut?
- sehr gute Absprachen zwischen den Kräften vor Ort, gute Schnittstellenarbeit
- sinnvolle Improvisation bei widrigen Bedingungen
- situationsadaptierte Entscheidungsfindung
Was fand ich nicht gut?
- Unklare Ortsangabe – damit wurde eine grundsätzlich komplexere Aktion zudem zur Suchaktion
- Versorgungszeit – von Alarmeingang bis Einsatzende sind drei Stunden vergangen
- meine vergessene Jacke!
Was ist mir wichtig? – Take-home-Message
Manche Situationen haben es schlicht und ergreifend in sich – dramatisches Meldebild, widrige Gesamtumstände und zugleich ein deutliches Informationsdefizit. Gerade in diesen Fällen ist ein strukturiertes Arbeiten für das eigene Handeln und für den Patienten essentiell.
Ohne eine strukturierte Arbeitsweise wäre wohl ein Teil der durchaus vorhandenen Verletzungen auf der Strecke geblieben.
Der Einsatz bot eigentlich von allem etwas: Immobilisation, Wärmeerhalt, CRM – und vor allem die Wichtigkeit der Improvisation.
Das mitunter spannendste an der Notfallmedizin ist, auch ohne Lehrbuchlösung adäquat an sein Ziel zu kommen und die vorhandenen Ressourcen sinnvoll zu nutzen. Am Ende ist es oftmals eine Kompromisslösung aus „Medizin“ und den einsatztaktischen Gesichtspunkten.
Und: Jacke mitnehmen!
Interessenkonflikte
Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Quellen
SaniOnTheRoad (2022): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 29: Schaufeltrage, Vakuummatratze und Spineboard, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-29/ am 19.04.2022
SaniOnTheRoad (2022): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 28: Die HWS-Immobilisation, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-28/ am 19.04.2022
SaniOnTheRoad (2020): Die vergessene lebensrettende Maßnahme: Wärmeerhalt, abgerufen unter https://saniontheroad.com/die-vergessene-lebensrettende-masnahme-warmeerhalt/ am 19.04.2022
SaniOnTheRoad (2020): 1.10 Verhalten im Einsatz, abgerufen unter https://saniontheroad.com/1-10-verhalten-im-einsatz/ am 19.04.2022
SaniOnTheRoad (2020): 1.3 Rettungsdienstliche Schnittstellen, abgerufen unter https://saniontheroad.com/1-3-rettungsdienstliche-schnittstellen/ am 19.04.2022
SaniOnTheRoad (2020): Absicherung, Eigenschutz und Notruf, abgerufen unter https://saniontheroad.com/absicherung-eigenschutz-und-notruf/ am 19.04.2022
SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 19.04.2022
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