Bei „Aus dem Pflaster-Laster“ berichte ich von Einsätzen, dem Alltag auf der Rettungswache und von aktuellen Themen – von purer Routine bis zum Drama. Am Ende ziehe ich mein Fazit der Einsätze und zeige auf, was gut lief und was besser laufen könnte. Namen von Patienten, Orten und Kollegen lasse ich selbstverständlich aus.
Kein Alltag!
Man mag meinen, dass Rettungsdiensteinsätze – gerade in der Notfallrettung – generell eine gewisse Tragik mitbringen. Für Patienten und Angehörige ist praktisch jeder Einsatz eine absolute Ausnahmesituation – für den Rettungsdienstler trifft das eher auf eine geringe Anzahl der Fälle zu.
Und dennoch gibt es immer wieder Einsätze, die man trotz jeglicher professioneller Distanz und jeder beruflichen „Abstumpfung“ auch nach Jahren im Beruf…traurig findet.
Nachtdienst, Außenwache, keine „Wunschkollegin“
Es war bis dato ein unruhiger Nachtdienst und von Dienstbeginn an – mit einem Hilfeersuchen auf der Wache – waren wir unterwegs und Einsatz reihte sich an Einsatz. Innerhalb von vier Stunden hatten wir drei Einsätze abgearbeitet und waren gerade zurück auf der Wache.
Das Telefon klingelt. Eher ungewöhnlich um die Uhrzeit, eher ungewöhnlich, dass jemand überhaupt auf dem „Wachentelefon“ anruft – als Ein-RTW-Außenwache erfolgen praktisch alle Anrufe über das Diensthandy.
Der Anrufer berichtet davon, dass seine Frau sich das Knie verdreht hatte und scheinbar die Kniescheibe luxiert ist – ich bitte den Anrufer darum, den Notruf zu wählen und die Situation der Leitstelle zu schildern, nachdem ich gerne das „Stille-Post-Prinzip“ vermeiden will. Der Anrufer willigte ein und ich stellte mich darauf ein, dass wir Patientin und Anrufer gleich persönlich kennen lernen werden.
Und tatsächlich: der Melder ging wenige Minuten später. Allerdings mit einer völlig anderen Einsatzmeldung.
Einsatzdaten
Einsatzmeldung: Bewusstlosigkeit; Info: Treppensturz, ca. 10 Stufen.
Alarmierte Fahrzeuge: RTW + NEF, mit Sonder-/Wegerechten. First Responder ist mitalarmiert.
Der erste Gedanke war
„Hätten wir doch nur die Patellalux‘ bekommen“
Die Reise blieb innerhalb des Orts, Anfahrtszeit keine fünf Minuten. Und ab der Alarmierung war meine Kollegin – eine eher zurückhaltende, ruhige Persönlichkeit – wie ausgewechselt.
Es kommt eher selten vor, dass man richtige Panik bei Kollegen bemerkt. Hier hat mich ihre Angst angesprungen wie eine Katze im Dunkeln.
Scene – Safety – Situation
Scene: Herbst, Nacht, 22:50 Uhr, kühl, trocken, Einfamilienhaus in Kleinstadt.
Safety: Keine augenscheinlichen Gefahren.
Situation: Sichtlich aufgelöster Ehemann und Nachbar nehmen uns an der Straße in Empfang. Sie berichten, dass die Patientin (80 Jahre) auf dem Weg in den Keller gestürzt sei und nun bewusstlos am Ende der Treppe liegt.
Wir schnappen uns sämtliches Equipment – beide Notfallrucksäcke, EKG, Absaugpumpe und Trauma-Tasche – und machen uns auf den Weg in den Keller.
Auf den ersten Eindruck…entpuppt sich die Situation als „rettungsdienstliches Horrorszenario“ schlechthin.
Die Treppe ist maximal eng, verwinkelt und zugestellt – und ich wäre beinahe auf dem nun auf der Treppe liegenden Kuchen ausgerutscht – der Keller ist kalt, feucht, mit ungefähr genauso viel Platz wie auf der Treppe und Licht kann nur mittels einer Handlampe in ausreichenden Maß bereitgestellt werden. Und die Patientin liegt natürlich genau so (immerhin in stabiler Seitenlage), dass man kaum an ihr arbeiten kann.
Nachdem eine Erstuntersuchung unter diesen Umständen kaum möglich ist, drehen wir sie mittels Log-Roll auf den Rücken und ziehen sie etwas in den Gang, um überhaupt an ihr arbeiten zu können.
Die Ersteinschätzung
Ersteinschätzung
Kritisch.
ist nicht überraschend und wir starten in unser Primary Survey
xABCDE
x – Exsanguination
Keine starke äußere Blutung.
A – Airway
Schnarchendes Atemgeräusch, Atemwege frei nach modifizierten Esmarch-Hangriff, Mundschleimhäute feucht, blass, Lippenyanose.
B – Breathing
Atemfrequenz ~ 10/min bei pathologischem Atemmuster (a.e. Biot-Atmung), keine obere Einflusstauung, Thorax stabil, Atemexkursionen regelrecht, Pulmo bds. VAG, SpO2 86 % bei schlechter Ableitung, nach Sauerstoffgabe (15 l/min) 92 %.
C – Circulation
Haut blass, kühl, trocken, stehende Hautfalten; Rekapillarisierungszeit > 2 Sekunden, periphere Pulse schlecht tastbar, zentrale Pulse mäßig gut tastbar; Abdomen weich, Becken ohne sichtbare Fehlstellung, Oberschenkel stabil, RR 90/50 mmHg. EKG: Sinusrhythmus, HF 80/min.
D – Disability
GCS 3, Orientierung nicht überprüfbar, Pupillen isokor, mittelweit, beidseits träge Lichtreaktion; quick-FAST/BE-FAST nicht durchführbar, pDMS nicht beurteilbar, BZ 247 mg/dl.
E – Exposure/Environment
Bodycheck: leichte Blutung aus Mund und Nase, Platzwunde okzipital mit stehender Blutung, Schädel instabil. Temp. 34,7°C.
Da stehen wir nun – und die Einschätzung
Einschätzung
Kritisch.
bleibt unverändert stehen.
Ich mache mich daran, die Probleme der Patientin – so gut es die Situation zulässt – zu lösen. Oder besser: versuche es. Allein das Primary Survey muss ich mehrfach unterbrechen.
Der Grund: die „Aussetzer“ meiner Kollegin nehmen immer mehr zu. Selbst einfache, grundlegende und vor allem einzeln vorgetragene Anweisungen muss ich Schritt für Schritt anleiten – und trotzdem permanent überwachen und korrigieren. Modizifierter Esmarch-Handgriff, Guedel-Tubus und Absaugbereitschaft werden somit zu einer Herausforderung. Der mitalarmierte First Responder kam nicht.
Nachdem meine Kollegin am Kopf gebunden ist (und somit ohnehin kaum mitarbeiten kann), bleibt der Rest an mir hängen – was mit den Unterbrechungen zu einem enorm langen Primary Survey führt.
Als die Atempausen der Patientin länger werden, kommt die assistierte Beatmung – und Gott sei Dank zeitgleich der Notarzt, der diese übernimmt.
Während ich mich nach zwei gescheiterten i.v.-Zugangsversuchen mit dem intraossären Zugang beschäftigte (im Übrigen der erste, den ich in meiner Laufbahn selbst gelegt hatte), richtete der NEF-Fahrer die Narkosemedikamente und meine Kollegin die Intubation.
Theoretisch. Als die Medikamente gespritzt waren, stellte der Notarzt fest, dass schlichtweg kein Tubus gerichtet wurde. Spätestens da waren die Aussetzer auch dem Rest des Teams deutlich geworden.
Als der NEF-Fahrer die Aufgabe dann glücklicherweise übernahm, ging es an die Transportvorbereitung: über die Treppe konnte man vergessen, also sollte es außen um das Haus herumgehen. Wir entscheiden uns für Schaufeltrage und Vakuummatratze (nachdem der Notarzt zunächst nur mittels Tragetuch die Patientin nach draußen verbringen wollte) – und müssen zwischendrin noch unseren leergelaufenen Sauerstoff wechseln.
Im Fahrzeug richten wir das Beatmungsgerät (der Notarzt entschied sich für eine BiLevel-Beatmung) und einen Noradrenalin-Perfusor für die anhaltend hypotone Patientin, die mittlerweile auch eine deutliche Pupillendifferenz (rechts > links) entwickelt hat.
Der Notarzt macht sich fremdanamnestisch an die Anamnese, soweit es in der eher aufgebrachten und hektischen Situation möglich ist:
SAMPLER(S)
S – Symptome
Bewusstlosigkeit nach Treppensturz, Anisokorie mit träger Lichtreaktion beidseits, pathologisches Atemmuster, instabiler Schädel
A – Allergien
Keine.
M – Medikamente
ASS 100, Metoprolol, Ramipril, Atorvastatin.
P – Vorerkrankungen
Z.n. Myokardinfarkt mit 1-fach-Stenting aHT, Herzinsuffizienz, Hyperlipidämie.
L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang
Letzte orale Aufnahme: Abendessen, 20:00.
E – Ereignis
Treppensturz auf den Weg in den Keller, wollte Kuchen einfrieren.
R – Risikofaktoren
Thrombozytenaggregationshemmung, Vorerkrankungen, Alter.
S – Schwangerschaft
Ausgeschlossen.
Daneben erfahren wir, dass der heutige Tag der 60. Hochzeitstag der Patientin und ihres Ehemanns war – und dieser nun ein jähes Ende gefunden hat.
Wir machen uns auf den Weg in den nächsten Maximalversorger, etwa 20 Minuten von unserem Einsatzort entfernt. Übergabe im Schockraum. Nachbesprechung.
Das Outcome
…für die Patientin
Die Patientin hatte eine Fraktur der Schädelkalotte und ein massives Epiduralhämatom. Sie wurde noch in der Nacht hemikraniektomiert und auf die Intensivstation aufgenommen.
Angesichts einer aussichtslosen Prognose wurden am nächsten Tag nach Rücksprache mit den Angehörigen die lebenserhaltenden Maßnahmen beendet.
…der Nachbesprechung
Leider gab es an dieser Stelle durchaus viel nachzubesprechen. Unser Notarzt übernahm die Leitung der Nachbesprechung (so, wie es sein soll) und war dabei keineswegs vorwurfsvoll.
Neben medizinisch-einsatztaktischen Gesichtspunkten – Stifneck ja oder nein (wo wir uns meines Erachtens korrekterweise dagegen entschieden haben), Beckenschlinge ja oder nein (wo wir uns meines Erachtens zu Unrecht dagegen entschieden haben) – war eben ein großer Punkt das CRM und die Kommunikation.
Letztendlich hatte keiner der Beteiligten die Vermutung, dass es hier grundsätzliche Probleme im Einsatz gab – es wurde, sogar durch den Notarzt, viel, zielgerichtet und eindeutig kommuniziert.
Nur das Verhalten meiner Kollegin, das blieb letztendlich ein Rätsel und sie konnte (oder wollte) das in der Gruppe auch nicht klären. Letztendlich deckte sich das allerdings mit Erfahrungen aus vorhergehenden Einsätzen und Berichten anderer Kollegen…
Fazit
Was fand ich gut?
- klare, sinnvolle Prioritätensetzung und Delegation von Maßnahmen seitens des Notarztes,
- sinnvolle, strukturierte Einsatznachbesprechung mit allen Beteiligten
- Ersthelfermaßnahmen – hier die stabile Seitenlage
Was fand ich nicht gut?
- Nicht beherrschte Grundlagenskills – darüber braucht man wenig zu diskutieren. „Arbeiten auf Anweisung“ ist das absolute Minimum für einen Rettungssanitäter, welcher in der Notfallrettung eingesetzt wird
- Zeitdauer – neben dem Zeitansatz für das Primary Survey hat die Versorgung vor Ort einfach viel Zeit gekostet
- Betreuung der Angehörigen – kam hier eindeutig zu kurz. Auch wenn situationsbedingt eine derartige Betreuung durch den Rettungsdienst selbst nicht möglich gewesen ist, wäre die Nachforderung eines PSNV-Teams durchaus angebracht gewesen
Was ist mir wichtig? – Take-home-Message
Rettungsdienst ist Teamarbeit – und eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Man braucht nicht darüber zu diskutieren, dass jeder mal einen schlechten Tag hat, dass jeder im Einsatz einfach mal Stress hatte oder auch so schlicht Fehler gemacht hat.
Es stellen sich hierbei allerdings zwei grundsätzliche Probleme
- der fehlende Support – das mag durch den Fall an sich (traumatologische Patientin mit Notwendendigkeit einer manuellen Inline-Stabilisierung), wie auch durch die schlichte Überforderung gegeben sein. Es konnte seitens der Kollegin nicht nur „nicht mitgedacht“ werden, sondern durch die Notwendigkeit sehr engmaschiger Anweisungen, deren Kontrolle und Korrektur wurden auch meine Ressourcen gebunden – und damit die Möglichkeit zur Kompensation weiter minimiert.
- die fehlende Einsicht – am Ende des Tages muss man auch bereit sein, sich mit eigenen Fehlern zu beschäftigen und sie auch aufzuarbeiten. Und etwas zu ändern. Weder die Bereitschaft, noch das tatsächliche „Ändern“ sind erkennbar gewesen.
„Wer aufhört, besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein“
Das fasst es gut zusammen: man muss, auch nach Jahren im Beruf, unabhängig vom Ausbildungsstand, bereit und in der Lage sein, das eigene Handeln zu reflektieren und zu hinterfragen. Geschieht dies nicht, werden die Fehler nicht nur zunehmen, sondern irgendwann gravierende Probleme verursachen.
Der Einsatz ist mir nicht nur wegen dem zugegebenermaßen sehr unrunden Ablauf in Erinnerung geblieben, sondern auch wegen der Geschichte drumherum: ein Hochzeitstag, der nach vielen Jahren Ehe so endet und der Kuchen in der Kausalkette der Beginn für den Tod der Patienten war, sind nicht alltäglich. Diesen Einsatz fand ich persönlich tragischer als andere – aus nüchterner, rettungsdienstlicher Sicht war es ein „schweres SHT“ wie viele andere auch. Hier ist die „menschliche Katastrophe“, die als Rattenschwanz die Angehörigen betrifft, allerdings sehr greifbar gewesen.
Man sollte sich auch vor Augen führen, dass man nicht jeden retten kann – egal, wie gut, egal, wie schnell man ist. Manchmal stehen die Dinge gegen einen.
Interessenkonflikte
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Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Quellen
Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/3SZQdcW Affiliate-Link
Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3QVgyqE Affiliate-Link
NAEMT (2020): Prehospital Trauma Life Support – Kurshandbuch Deutsche Ausgabe, 9. Edition. Jones and Bartlett Publishers, Inc. ISBN 978-1-284-19862-1. Hier erhältlich: https://amzn.to/3fDcfTN Affiliate-Link
NAEMT (2018): Prehospital Trauma Life Support, 9. Edition. Jones and Bartlett Publishers, Inc. ISBN 978-1-284-17147-1. Hier erhältlich: https://amzn.to/3UZ6C2g Affiliate-Link
SaniOnTheRoad (2022): Kommunikation im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kommunikation-im-rettungsdienst/ am 11.11.2022
SaniOnTheRoad (2022): CRM im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/crm-im-rettungsdienst/ am 11.11.2022
SaniOnTheRoad (2022): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 29: Schaufeltrage, Vakuummatratze und Spineboard, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-29/ am 11.11.2022
SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 11.11.2022
SaniOnTheRoad (2022): Die stabile Seitenlage, abgerufen unter https://saniontheroad.com/die-stabile-seitenlage/ am 11.11.2022
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