Wake up! – Schlaganfallmanagement mit unbekannten Onset

Rettungsdienst aktuell – Themen die den Rettungsdienst, seine Mitarbeiter und Interessierte beschäftigen. Von leitliniengerechter Arbeit bis zur gesellschaftskritischen Diskussion.

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„Es gibt jährlich rund 270.000 Schlaganfälle in Deutschland. Ein Schlaganfall ist die häufigste Ursache für Behinderungen im Erwachsenenalter und die dritthäufigste Todesursache in Deutschland. Mit jeder Minute ohne Versorgung sterben Millionen von Hirnzellen unwiederbringlich ab.“

– SaniOnTheRoad, Beitrag „Erste Hilfe: Schlaganfall“ der Kategorie EH-Basics

So beginnt schon einmal ein Beitrag zum Thema Schlaganfall – auch wenn er sich an Ersthelfer richtet. Schlaganfälle sind im Rettungsdienst recht häufige Einsätze, in meinen Top 20 landet der Schlaganfall auf Platz 4.

Im Grunde genommen gilt der Schlaganfall als „dankbarer“, oder gar einfacher Rettungsdiensteinsatz: eine große Medizin ist meist nicht erforderlich – Standardvorgehen nach xABCDE, Identifikation mittels FAST oder BE-FAST, Sauerstoff-, Blutdruck- und Temperaturmanagement und zügige Reise in die nächste Stroke Unit. Meistens.

Nicht immer ist die Entscheidung so simpel und nur von den Fragen „Lysefenster oder nicht?“ oder „Blutung wahrscheinlich oder nicht?“ abhängig.

Bild 1: Versorgungsgebiete der Hirnarterien. Quelle: Wikimedia Commons/Frank Gaillard, CC-BY-SA 3.0-Lizenz.
Bild 2: Arterielle Versorgung des Gehirns. Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei.

Grundlagen des Schlaganfallmanagements

Bei gegebener Häufigkeit des Notfallbildes finden sich Handlungsanweisungen in jedem Lehrbuch und sehr vielen SOPs – dementsprechend sollte die Therapie grundsätzlich nach dem lokal gültigen Protokoll erfolgen.

Der Einfachheit halber wird in diesem Beitrag auf die DBRD-Musteralgorithmen 2021 sowie die DGN-Leitlinie „Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls“ zurückgegriffen.

Eine xABCDE-Herangehensweise mit unmittelbarer Therapie lebensbedrohlicher Zustände ist hier obligat.

Bei einem vorliegenden (akuten) neurologischen Defizit ist eine Untersuchung nach FAST oder BE-FAST obligatorisch. Welches der beiden Schemata verwendet wird, obliegt jeden selbst – „Balance“ und „Eyes“ würde ich eher im Rahmen der Differentialdiagnostik bei neurologischem Defizit und negativen FAST anwenden (siehe hier).

Ablaufschema BE-FAST. © 2021 SaniOnTheRoad.

Bei entsprechenden Verdacht greifen die „vier Säulen der Schlaganfallversorgung“, nämlich

  • Sauerstoffmanagement – der DBRD-Musteralgorithmus empfiehlt pauschal 6 – 8 Liter Sauerstoff; nachdem lediglich eine Normoxämie laut Leitlinie angestrebt (und eine Routinemäßige O2-Gabe nicht erfolgen soll), sollte eine Sauerstoffgabe leitlinienkonform erst bei einer SpO2 < 95 % erfolgen
  • Blutdruckmanagement – eine Hypertonie ist zur Aufrechterhaltung einer ausreichenden Perfusion der Penumbra (Infarktrandzone) explizit gewünscht, der Zielblutdruck liegt bei etwa 180/100 mmHg (Leitlinie: 180/105 mmHg). Eine mäßige Blutdrucksenkung (max. um 25 % des Ausgangswertes) sollte erst bei einem Blutdruck > 220/120 mmHg erwogen werden. Hypotonien lassen sich mittels Flachlagerung und Infusionstherapie mit Vollelektrolytlösung behandeln.
  • Blutzuckermanagement – eine Normoglykämie sollte angestrebt, eine bestehende Hypoglykämie < 60 mg/dl ausgeglichen werden (auch in Hinblick auf die Differentialdiagnostik!). Der DBRD-Musteralgorithmus empfiehlt einen BZ zwischen 100 – 120 mg/dl, die DGN-Leitlinie toleriert einen größeren Bereich von 70 – 200 mg/dl.
  • Zeitmanagement – an der allseits bekannten Maßgabe „Time is brain“ hat sich nichts nichts geändert. Ein Schlaganfallpatient sollte schnellstmöglich in eine geeignete Neurologie (evtl. auch Neurochirurgie) mit Stroke Unit transportiert werden. Die Zeitvorgaben nach dem DBRD-Musteralgorithmus betragen max. 25 Minuten für die Versorgungsphase und max. 60 Minuten für die gesamte präklinische Zeit.

Und was ist mit der Temperatur? Ja, die Fiebervermeidung (T < 37,5°C) findet man in vielen SOPs und auch in der Leitlinie selbst. Dabei spielt die Vermutung eine Rolle, dass erhöhte Körpertemperaturen das Outcome verschlechtern.

Allerdings: die Gabe von Antipyretika wie Paracetamol ist selbst in der Leitlinie nur eine „kann“-Empfehlung und im Rettungsdienst regelhaft nicht freigegeben. Für eine physikalische Kühlung – die im Rettungsdienst möglich wäre – gibt es keine Empfehlung, weder dafür, noch dagegen.

Heißt: eine physikalische Kühlung kann ggf. erwogen werden, der Nutzen ist allerdings fraglich – eine Steigerung der Körpertemperatur durch exzessiven Wärmeerhalt sollte man jedoch grundsätzlich vermeiden.

xABCDE – Ablauf

x – Exsanguination

Suche nach massiven äußeren Blutungen und Blutungskontrolle.

A – Airway

Atemwege kontrollieren und ggf. freimachen, Mundraum- und Schleimhautkontrolle. Zungenbiss? Abweichen der Zunge beim Herausstrecken? Uvuladeviation? > Zeichen für Hirnnervenläsion!

B – Breathing

Atemfrequenz auszählen lassen! Halsvenenstauung? Thoraxstabilität? Normale Atemexkursionen? Pathologische Atemmuster? Auskultation! Sauerstoffgabe, 6 – 8 l/min über Maske bei SpO2 < 95 %.

C – Circulation

Hautstatus, Hautkolorit, Recap-Zeit, Radialispulse, Kontrolle der Blutungsräume, Blutdruckmessung (engmaschig) und EKG-Monitoring im Verlauf. Nach Möglichkeit: Anlage i.v.-Zugang + VEL zum Offenhalten, Blutdruckmanagement.

D – Disability

GCS, Orientierung, Pupillenkontrolle, FAST/quick-FAST/BE-FAST, pDMS an allen Extremitäten, BZ-Messung, ggf. Ausgleich einer Hypoglykämie. Transportpriorität festlegen! Ggf. Los-Angeles-Motor-Scale bestimmen!

E – Exposure/Environment

Bodycheck (schnelle Trauma-Untersuchung), Temperaturmessung, Temperaturmanagement nach Möglichkeit

Die Anamnese gestaltet sich hier als normale SAMPLER-Anamnese – Schwerpunkt liegt hier vor allem auf dem Symptomen, insbesondere das „Onset“ (Symptombeginn) und „Time“ (Zeitlichen Verlauf). Also ein fokussiertes OPQRST.

Wenn der zeitliche Beginn nicht ermittelbar ist, tritt an dessen Stelle „Wann wurde der Patient letztmalig symptomfrei gesehen?“.

Wichtig: Telefonnummer der Angehörigen notieren – diese ist für Rückfragen seitens des Neurologen unerlässlich!

SAMPLER(S)-Ablauf

S – Symptome

Welche Symptome? Fokussiertes OPQRST: Onset? Zeitlicher Verlauf? Wenn Onset nicht ermittelbar: Wann letztmalig symptomfrei gesehen?

A – Allergien

Standardanamnese.

M – Medikamente

Welche Medikamente? Eingenommen? Antikoagulation oder Thrombozytenaggregationshemmer (wichtig für Therapieentscheidung!)?

P – Vorerkrankungen

Standardanamnese

L – Letzte orale Aufnahme/letztes Wasserlassen/letzter Stuhlgang

Standardanamnese

E – Ereignis

Traumaanamnese – Stürze o.ä.? Sonst Standardanamnese.

R – Risikofaktoren

Standardanamnese

S – Schwangerschaft

Standardanamnese

Das Lysefenster – die zeitliche Entscheidungsgrundlage

Die Entscheidung „Gas geben, volles Programm oder nicht“ hängt maßgeblich davon ab, wann die Symptome begonnen haben und wann man in einer geeigneten Klinik ankommen wird – das Lysefenster, der Zeitraum, in dem eine medikamentöse Fibrinolyse möglich ist.

Das Lysefenster beträgt nach der Leitlinienempfehlung 4,5 Stunden nach Symptombeginn.

Eine mechanische Thrombektomie (mechanische Entfernung des Thrombus bei großen Verschlüssen) als neurochirurgische Intervention ist innerhalb von 6 Stunden möglich.

Und da wären wir auch schon bei den Ausnahmen der allseits bekannten Regel: unter gewissen Umständen kann eine Lysetherapie auch über das Zeitfenster hinaus erfolgen – zum Teil bis zu 9 Stunden nach Symptombeginn.

Voraussetzung hierfür ist, dass ein „DWI/FLAIR-Mismatch“ vorliegt – DWI und FLAIR sind unterschiedliche MRT-Frequenzen, die „rettbares Hirngewebe“ im Falle eines Schlaganfalls identifizieren können. Das gilt mehr oder minder analog für ein Mismatch von CT- und MRT-Befund.

Sprich: wenn es noch zu rettendes Hirngewebe gibt, soll auch versucht werden, es zu retten.

Die Empfehlung für die Thrombolyse entsprechend der Leitlinie umfasst einerseits

  • Symptombeginn > 4,5 Stunden (oder unbekannt) und < 9 Stunden mit DWI/FLAIR-Mismatch und
  • Symptombeginn > 4,5 Stunden und Vorstellung in Klinik < 4,5 Stunden nach Bemerken der Symptome mit CT- und MRT-Mismatch

Beide Fälle können auch den Wake-up-Stroke umfassen.

Was ist ein „Wake-up-Stroke“ und wie gehen wir vor?

Der „Wake-up-Stroke“ beschreibt einen akuten Schlaganfall mit unbekannten Symptombeginn, meist als „gestern keine Symptome, heute mit Symptomen aufgewacht“ beschrieben.

Die Schwierigkeit liegt hierbei in der Unterscheidung, ob er als „Schlaganfall mit Lysefenster“ mit Transportpriorität und vollem Programm gefahren wird, oder eben als „Schlaganfall außerhalb Lysefenster“ mit geringerer Dringlichkeit.

So – und mit unseren leitlinienbasierten Fakten müsste die Entscheidung relativ deutlich sein: im Regelfall können wir davon ausgehen, dass unter den üblichen Umständen eine Lyse durchaus denkbar ist.

Götz et al. (2018) beschreiben ein signifikant besseres Outcome bei einer Thrombolyse > 4,5 Stunden bei unklaren Symptombeginn, als in der Placebo-Kontrollgruppe.

Oder kurz: Es ist rettungsdienstlich empfehlenswert, einen „Wake-up-Stroke“ als Schlaganfall im Lysefenster zu behandeln und dementsprechend volles Programm mit Transportpriorität zu fahren – bis zum Beweis eines Gegenteils.

Worauf kommt es an?

  • zügige Schlaganfall-Standardversorgung und möglichst genaue Anamnese
  • Voranmeldung in der Klinik – die Rücksprache mit dem aufnehmenden Neurologen ist hier unerlässlich. Der rettungsdienstliche Verdacht des Wake-up-Stroke muss geäußert werden und das weitere Vorgehen abgesprochen werden.
  • Klinikauswahl – eine aufnahmebereite Neurologie, ggf. auch eine Neurochirurgie, mit Stroke Unit sind natürlich Standard. Für die Bestimmung eines Mismatch ist zwingend ein MRT erforderlich, was die Klinikauswahl durchaus einschränken kann.

Fazit

Ein Wake-up-Stroke sollte von Seiten des Rettungsdienstes grundsätzlich als Schlaganfall im Lysefenster behandelt werden – auch, wenn die aufnehmende Klinik sich unter Umständen dagegen entscheidet.

Die Versorgung eines Wake-up-Stroke unterscheidet sich nicht von dem Vorgehen einer normalen Schlaganfallversorgung – eine eindeutige Voranmeldung in der Klinik ist allerdings unerlässlich.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (2021): S2e-Leitlinie zur Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls, AWMF-Registernummer 030-046, abgerufen unter https://dgn.org/leitlinien/ll-030-046-akuttherapie-des-ischaemischen-schlaganfalls-2021/ am 02.12.2021

Böhmer R., Schneider T., Wolcke B. (2020): Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage. Böhmer & Mundloch Verlag, Mainz. ISBN 978-3-948320-00-3. Hier erhältlich: https://amzn.to/3I9E1Ap

Deutscher Berufsverband Rettungsdienst (2021): Muster-Algorithmen 2021 zur Umsetzung des Pyramidenprozesses im Rahmen des NotSanG, Version 6.0, abgerufen unter https://www.dbrd.de/images/algorithmen/AlgoDBRDV60Update2021.pdf am 02.12.2021

Deutsche Gesellschaft für Neurologie (2019): Schlaganfall – Lyse auch jenseits des Zeitfensters von 4,5 Stunden möglich, abgerufen unter https://dgn.org/presse/pressemitteilungen/schlaganfall-lyse-auch-jenseits-des-zeitfensters-von-4-5-stunden-moeglich/ am 02.12..2021

Götz et al. (2018): MRI-Guided Thrombolysis for Stroke with Unknown Time of Onset, N Engl J Med 2018; 379:611-622, abgerufen unter https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa1804355 am 02.12.2021. DOI: 10.1056/NEJMoa1804355

Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3s8KEh5

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 03.02.2022

SaniOnTheRoad (2020): Die Top 20 der häufigsten Rettungsdiensteinsätze, abgerufen unter https://saniontheroad.com/die-top-20-der-haufigsten-rettungsdiensteinsatze/ am 03.02.2022

SaniOnTheRoad (2020): Erste Hilfe: Schlaganfall, abgerufen unter https://saniontheroad.com/erste-hilfe-schlaganfall/ am 03.02.2022

SaniOnTheRoad (2021): Schlaganfall: Aus FAST wird BE-FAST?!, abgerufen unter https://saniontheroad.com/schlaganfall-aus-fast-wird-be-fast/ am 03.02.2022

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Über SaniOnTheRoad

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SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.

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