Dentales Trauma im Rettungsdienst

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Rettungsdienst aktuell – Themen die den Rettungsdienst, seine Mitarbeiter und Interessierte beschäftigen. Von leitliniengerechter Arbeit bis zur gesellschaftskritischen Diskussion.

Verletzungen der Zähne kommen im Rettungsdienst durchaus vor – meist in Kombination mit anderen Verletzungen des Gesichtsschädels, seltener isoliert oder iatrogen (z.B. bei unvorsichtiger Laryngoskopie).

Nichtsdestotrotz ist das dentale Trauma selten Thema im Rettungsdienst – in mehreren Jahren Ausbildung und Tätigkeit wurde es, jedenfalls in meinem Fall, nicht einmal angeschnitten.

Zahnverletzungen sind zwar kaum lebensbedrohlich, stellen aber durchaus mehr als ein „ästhetisches Problem“ dar und können die Lebensqualität der Patienten, wenn nicht angemessen behandelt, negativ beeinflussen.

Inhaltsverzeichnis

Anatomie des Gebisses und der Zähne

Es ergibt sich meist schon ein sehr profanes Problem: der Rettungsdienstler hat wenig bis keine Ahnung von der Zahnheilkunde. Diese stellt ein eigenes heilkundliches Fach dar und die Schnittmengen zur rettungsdienstlichen Tätigkeit sind üblicherweise sehr begrenzt.

Grund genug, sich mit den Grundlagen zu befassen.

Allgemeiner Aufbau und Versorgung der Zähne

Auch wenn sich Form und Anordnung der Zähne entsprechend ihrer Funktion unterscheiden, sind sie im anatomischen Grundaufbau identisch.

Man unterscheidet die Zahnkrone (Corona dentis) als sichtbaren Teil des Zahns, die nicht sichtbare Zahnwurzel (Radix dentis) liegt im Zahnfleisch, der Zahnhals (Cervix dentis) bildet den Übergang zwischen Krone und Wurzel.

Der Grundaufbau des Zahnes erfolgt durch die Hartsubstanz, bestehend aus Zahnschmelz, Zahnbein und Zement, welche die innenliegende Zahnhöhle umgeben.

Quelle: Wikimedia Commons/Jordi March i Nogué, CC-BY-SA-3.0-Lizenz.
1. Zahn
2. Zahnschmelz 3. Dentin (Zahnbein) 4. Pulpencavum mit Pulpa 5. Kronenpulpa 6. Wurzelpulpa 7. Wurzelzement
8. Zahnkrone 9. Zahnhöcker 10. Zahnfurche
11. Zahnhals
12. Zahnwurzel 13. Gabel 14. Zahnwurzelspitze 15. Zahnwurzelöffnung
16. Sulcus gingivae
17. Zahnhalteapparat
18. Zahnfleisch: 19. frei oder interdental 20. marginal 21. alveolar
22. Wurzelhaut mit Sharpey-Fasern
23. Alveolarfortsatz

Zahnschmelz (Enamelum)

Die äußerste Schicht der Zahnkrone wird durch den Zahnschmelz gebildet – sie überzieht die Zahnkrone mantelartig und ist das härteste Material im menschlichen Körper. Die Notwendigkeit ergibt sich durch die mechanische Belastung der Zähne beim Kauen.

Zahnbein (Dentin)

Das knochenähnliche Dentin macht den Hauptanteil der Zähne aus und wird aus verschiedenen anorganischen Substanzen und Kollagenfasern gebildet. Es umgibt die Zahnhöhle und den von dort aus nach unten verlaufenden Wurzelkanal.

Zement (Cementum)

Das (sic!) Zement bildet in gewisser Weise das Pendant zum Zahnschmelz der Krone – es bedeckt das Dentin im Bereich der Zahnwurzel und bildet einen Teil des Zahnhalteapparats. Das Wurzelzement ist im Aufbau dem Geflechtknochen ähnlich.

Zahnmark (Pulpa dentis)

Die Zahnhöhle ist mit der so genannten Pulpa gefüllt und wird daher auch „Pulpahöhle“ genannt.

Die Pulpa dentis selbst ist eine gallertartige Masse aus Bindegewebe – sie enthält unter anderem dünne Gefäße und Nerven, welche den Zahn versorgen und innervieren, sowie Odontoblasten, welche Dentin bilden können.

Ferner dient die Pulpa zur Ernährung des Zahns und zur Abwehr von Erregern.

Zahnhalteapparat (Periodontium oder Parodontium)

Zudem müssen die Zähne sicher im Kiefer verankert werden, um den typischen Belastungen standzuhalten. Dies geschieht einerseits durch das Zement, andererseits auch über die Alveolarknochen (knöcherne Vertiefungen des Kiefers, welche die „Zahnfächer“ (Alveolen) bilden).

Zwischen Zement und Alveolarknochen (auch: Alveolarfortsatz) besteht eine Verbindung über die Wurzelhaut (Desomodontium), welche aus Kollagenfasern besteht (Sharpey-Fasern), welche die Belastungen beim Kauen abfangen.

Ferner bildet auch das Zahnfleisch (Gingiva), insbesondere mit der Kontaktschicht zu den Zahnhälsen (Saumepithel), einen Teil des Zahnhalteapparats.

Milchgebiss

Kinder haben zunächst ein vorübergehendes Milchgebiss – dieses wird im Laufe des Lebens, meist bis zum 12. Lebensjahr, durch das bleibende Gebiss ersetzt.

Die Unterscheidung zwischen einem Milchzahn und einem bleibenden Zahn kann durchaus eine therapeutische Konsequenz haben.

Typische Unterschiede sind

  • das Milchgebiss hat lediglich 20 Zähne, während das bleibende Gebiss üblicherweise 32 Zähne umfasst,
  • Milchzähne erscheinen kleiner und sind oftmals „weißer“ als bleibende Zähne,
  • Der Zahnschmelz ist dünner (an der Krone erkennbar) und häufig prismenlos (nicht „geriffelt“).

Zahnverletzungen

Zahnverletzungen werden grundsätzlich in die zwei großen Gruppen „Frakturen“ und „Dislokationen“ eingeteilt, zudem werden auch Frakturen des Alveolarknochens sowie (begleitende) Weichteilverletzungen unterschieden.

Zahnfrakturen

Nach der S2k-Leitlinie Therapie des dentalen Traumas bleibender Zähne werden verschiedene Zahnfrakturen unterschieden.

Eine Schmelzinfraktion ist dabei ein isolierter, sichtbarer Riss des Zahnschmelzes ohne weitere Verletzungen. Kommt es dabei zu einem Abriss von Schmerzteilen, spricht man von einer Schmelzfraktur.

Tiefergehende Schädigungen, bei denen zusätzlich das Dentin beschädigt wird, nennt man Kronenfrakturen (Schmelz-Dentin-Frakturen) – dies kann z.B. bei einem abgebrochenen Zahn vorliegen. Ferner werden hier Kronenfrakturen mit und ohne Freilegung der Pulpa unterschieden.

Setzt sich eine Kronenfraktur bis zur Zahnwurzel fort, spricht man von einer Kronen-Wurzelfraktur. Kronenfragmente können hier durchaus noch im Zahnfleisch befestigt sein.

Wurzelfrakturen entstehen durch horizontale oder schräge Frakturen im Bereich der Zahnwurzel, die Krone kann beweglich (erhöhte Mobilität) und/oder verschoben (disloziert) sein. Eine Wurzellängsfraktur beschreibt hingegen den vollständigen Längsriss der Zahnwurzel.

Dislokationen

Unter den Dislokationen versteht man letztendlich Lockerungen, Verschiebungen bis zur vollständigen Herauslösung des Zahnes.

Bei der Konkussion ist lediglich eine Empfindlichkeit beim Beklopfen des Zahnes bemerkbar, es kommt hier zu keiner Lockerung und zu keiner Dislokation.

Die Lockerung geht hingegen mit einer erhöhten Mobilität des Zahnes ohne Verschiebung einher, Blutungen sind möglich.

Dislokationen meinen sichtbare Verschiebungen des Zahnes, diese können sowohl nach oral (der Mundhöhle zugewandt = nach innen) als auch nach vestibulär (dem Mundvorhof zugewandt = nach außen) erfolgen, ggf. mit Aufbissstörungen und Verkeilung des Zahnes.

Ferner sind auch die Extrusion als Dislokation nach inzisal (Richtung Schneidkante/Kaufläche), bei der der Zahn oftmals nur noch von der Pulpa gehalten wird und dementsprechend hochgradig beweglich ist, als auch die Intrusion als Dislokation nach apikal (Richtung Wurzelspitze) mit Verkeilung im Alveolarknochen möglich.

Als „Steigerung“ der Extrusion beschreibt die Avulsion die vollständige Herauslösung des Zahnes aus seiner Alveole.

Rettungsdienstliche Versorgung

Allgemeine Grundsätze

Patienten mit dentalen Trauma erhalten grundsätzlich eine normale, rettungsdienstliche Standardversorgung mit Primary Survey und Diagnostik – akute Buchstabenprobleme sind primär zu behandeln.

Das oberste Ziel ist letztendlich der Zahnerhalt bzw. die Vermeidung des vollständigen Zahnverlustes.

Ein Entfernen von dislozierten Zähnen verbietet sich dementsprechend.

Spezielle Diagnostik

Bei einem dentalen Trauma oder schon dem Verdacht muss der Mundrauminspektion im Rahmen der fokussierten Untersuchung eine entsprechend Priorität eingeräumt werden.

Mundrauminspektion

  • Blutungen?
  • sichtbare Zahnfrakturen?
  • sichtbare Dislokationen?
  • Weichteilverletzungen?

Bei bewusstseinsgetrübten oder bewusstlosen Patienten muss insbesondere auf die Sicherung der Atemwege geachtet werden, lose, einzelne Zahnfragmente im Mund sind zu entfernen.

Manipulationen an offensichtlich frakturierten oder dislozierten Zähnen sind zu vermeiden.

Die Untersuchung muss zudem unbedingt abklären, ob weitere, gravierendere Verletzungen vorliegen – beispielsweise Kieferfrakturen, Mittelgesichtsfrakturen, Schädelbasisfrakturen oder Schädel-Hirn-Traumata.

Im Rahmen der Anamnese sollte zudem insbesondere auf

Anamnese

  • Antikoagulantien
  • Thrombozytenaggregationshemmung
  • Tetanus-Impfschutz
  • weitere Verletzungen und Schmerzangaben

Wert gelegt werden.

Versorgung

Bei Frakturen und Dislokationen

  • möglichst wenig Manipulation
  • beim wachen Patienten: Oberkörperhochlagerung mit vorgebeugten Oberkörper, Blut ggf. ausspucken lassen
  • beim bewusstlosen Patienten: stabile Seitenlage oder anderweitige Atemwegssicherung, Absaugbereitschaft, Blut ggf. vorsichtig absaugen
  • zahnärztliche Versorgung

Bei Avulsionen

  • Zahn nicht trocken lagern – möglichst Zahnrettungsbox verwenden, alternativ Zahn in handelsüblicher, kalter H-Milch einlegen (Beschriftung mit Patientenname, Geburtsdatum, Datum und Uhrzeit des Ereignisses nicht vergessen)
  • zeitnahe zahnärztliche Versorgung notwendig

Milchzähne werden dabei im Vergleich zu bleibenden Zähnen bei einer Avulsion regelhaft nicht replantiert.

Wohin mit dem Patienten?

Es bietet sich an dieser Stelle eine Fallunterscheidung an.

Isoliertes dentales Trauma

Sofern keine weiteren Begleitverletzungen vorliegen, ist die Vorstellung beim niedergelassenen Zahnarzt durchaus legitim und kann einsatztaktisch durchaus sinnvoll sein (kürzere Fahrzeit, schnellere Versorgung).

Dies ist auch bei Arbeits- oder Schulunfällen möglich – Zahnärzte sind in ihrem Fachbereich grundsätzlich den Durchgangsärzten der Berufsgenossenschaften gleichgestellt und zur Versorgung ermächtigt.

Diese Möglichkeit sollte grundsätzlich mit telefonischer Voranmeldung und Rücksprache mit dem Zahnarzt erfolgen.

Im Übrigen: auch niedergelassene Zahnärzte sind nach der Krankentransport-Richtlinie des GBA berechtigt, Transportverordnungen auszustellen.

Dentales Trauma mit Begleitverletzungen

Sofern relevante Begleitverletzungen oder gar kritische Buchstabenprobleme vorliegen, ist der Transport in eine Klinik mit Mund-, Kiefer und Gesichtschirurgie anzuraten.

Es muss ggf. nach dem Patientenzustand abgewogen werden, ob eine direkte Vorstellung in einer (i.d.R. weiter entfernten) Klinik mit MKG erfolgt, oder zunächst eine unfallchirurgische Erstversorgung notwendig ist.

Eine telefonische Voranmeldung ist hier dringend anzuraten, um ggf. die Priorisierung der Probleme und den Übergabepunkt auszumachen.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

Aumüller G. et al. (2020): Duale Reihe Anatomie, 5. Auflage. Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart. ISBN 978-3-13-243502-5. DOI: 10.1055/b-007-170976. Hier erhältlich: https://amzn.to/3JI8Xry

Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde e.V. (2022): Patienteninformation: Zahnverletzungen bei Kindern und Jugendlichen, abgerufen unter https://www.zahnmedizinische-patienteninformationen.de/documents/10157/1129556/Zahnverletzungen+bei+Kindern+und+Jugendlichen.pdf/e148579a-da4a-4709-a936-58e08f00d14c?version=2.0&previewFileIndex=0 am 22.04.2022

Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde e.V. (2015): S2k-Leitlinie Therapie des Dentalen Traumas bleibender Zähne, AMWF-Registernummer 083-004, abgerufen unter https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/083-004l_S2k_Dentales_Traume_bleibende_Z%C3%A4hne_Therapie_2016-05-abgelaufen.pdf am 22.04.2022

Feierabend S. (2011): Milchzahnendodontie – eine Übersicht, abgerufen unter https://www.zwp-online.info/fachgebiete/endodontologie/fruehbehandlung/milchzahnendodontie-eine-uebersicht am 22.04.2022

Gemeinsamer Bundesausschuss (2020): Krankentransport-Richtlinie, abgerufen unter https://www.g-ba.de/downloads/62-492-2262/KT-RL_2020-09-17_iK-2020-10-01.pdf am 22.04.2022

Luxem J., Runggaldier K., Karutz H., Flake F. (2020): Notfallsanitäter Heute, 7. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, München. ISBN 978-3437462115. Hier erhältlich: https://amzn.to/3s8KEh5

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 22.04.2022

Zahnlexikon (2015): Zahnrettungsbox, abgerufen unter https://www.zahn-lexikon.com/index.php/z/48-a-z/z-lexikon/567-zahnrettungsbox am 22.04.2022

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Über SaniOnTheRoad

Dentales Trauma im Rettungsdienst

SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.


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