Führen wir noch die richtigen Diskussionen?

top view photo of people near wooden table

Rettungsdienst aktuell – Themen die den Rettungsdienst, seine Mitarbeiter und Interessierte beschäftigen. Von leitliniengerechter Arbeit bis zur gesellschaftskritischen Diskussion.

Inhaltsverzeichnis

Der Rettungsdienst zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Es ist meines Erachtens absolut faszinierend, wie sich der Rettungsdienst in den letzten Jahrzehnten verändert hat – vom unqualifizierten Liegendtaxi zur rollenden Intensivstation – und gerade die „Sprünge“ der letzten Jahre sind erheblich.

Vom Sanitätshelfer als Wochenendlehrgang zur dreijährigen Berufsausbildung in Vollzeit. Von „Patientenversorgung nach Art des Hauses“ zu internationalen Standards. Von rechtfertigenden Notstand hin zur Heilkunde.

Der Rettungsdienst hat sich enorm entwickelt und braucht eigentlich auch keinen internationalen Vergleich der Leistungsfähigkeit zu scheuen.

Und dennoch gibt es Probleme. Und es wird viel, sogar sehr viel darüber diskutiert – teils sehr nüchtern und rational, teils hochemotional und polemisch. Gerade hinsichtlich Aufgabenstellung und Kompetenzen sind noch viele Punkte klärungsbedürftig – allerdings empfinde ich, dass die Diskussion zunehmend auf falsche Schwerpunkte gelegt wird.

Es bringt mich einfach zu der Frage: sehe nur ich diese teils enorme Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Rettungsdienstes – oder wird vielleicht ein real existierendes Problem einfach ignoriert?

Was diskutiert wird…

Die großen Revolutionen des Rettungsdienstes sind gar nicht mal so alt – 2014 wurde mit dem Notfallsanitäter ein neues Berufsbild eingeführt, welches mit einer dreijährigen Vollzeitausbildung den anderen Gesundheitsfachberufen ebenbürtig ist. 2021 kam die lang ersehnte Heilkunde für Notfallsanitäter und damit ein großes Stück an Rechtssicherheit.

Gedanklich sind viele Kollegen allerdings schon einige Stücke weiter und diskutieren, wie Rettungsdienst wohl in zehn bis zwanzig Jahren aussehen wird. Die Vorstellungen sind dabei durchaus erstaunlich…

Heilkunde & Kompetenzen

Dass die Erlaubnis für heilkundliche Maßnahmen bei drohender Lebensgefahr oder schwerer gesundheitlicher Schäden ein riesengroßer Fortschritt ist, sehen nicht alle so. Es gibt mehr als genug Kollegen, die die „Heilkunde“ wünschen. Immer. Bei jedem Patienten. Unabhängig von der Situation. Keine „Heilkunde zweiter Klasse“, sondern mit dem Arzt kompetenztechnisch auf einer Stufe stehen. Oder anders: eine umfassende Regelkompetenz soll her.

Die Frage nach den Kompetenzen und Freigaben spielt da natürlich mit rein – der Notfallsanitäter der Zukunft soll natürlich noch mehr können und dürfen. Beliebt ist dabei natürlich das Airwaymanagement in jeglicher Form bis zum chirurgischen Atemweg, Thoraxdrainagen und die Gabe sämtlicher erdenklicher Medikamente.

Wenn Freigaben diskutiert werden, dann wird natürlich nie genug freigegeben – egal, wie praxisrelvant und risikobehaftet etwaige Freigaben sind.

Ausbildung

Diskutiert wird bereits heute der „studierte Notfallsanitäter„, oder zumindest eine Teilakademisierung der Ausbildung – und damit quasi eine umfassende Ergänzung bis Novellierung des noch sehr jungen Berufsbildes.

Ziel ist es, Notfallsanitäter frühzeitig in das Management, die Lehre oder in weitergehende Maßnahmen einzuführen und die Rettungswissenschaften als eigenständige Disziplin zu etablieren.

Schon schauen die theoretischen Anteile der Berufsausbildung hinsichtlich der fachlichen Tiefe eher nach dem Arzt, als nach anderen Gesundheitsfachberufen. Pathophysiologie wird teils bis auf die intrazelluläre Ebene runtergebrochen und NotSan-Azubis lernen Vorgänge, deren Praxisrelevanz durchaus mal fraglich ist. „Wissenschaftliches Arbeiten“ wird an einigen Berufsfachschulen regulär unterrichtet und das Verfassen einer Facharbeit ist durchaus häufig Ausbildungsbestandteil, auch wenn es in der NotSan-APrV nicht gefordert wird.

Maßnahmen & Equipment

Da lässt sich die Diskussion mit einem Wort zusammenfassen:

„Mehr!“

Mehr Maßnahmen in der Präklinik im Allgemeinen – und vor allem mehr maximal invasive Maßnahmen. Dinge wie Point-of-Care-Ultraschall, REBOA, Clamshell-Thorakotomie, präklinische Bluttransfusionen und mobile ECMO-Geräte und invasive Blutdruckmessung sind keine leeren Schlagwörter mehr, sondern mehr oder weniger handfeste Forderungen.

Spezialfahrzeuge, wie Medical Intervention Cars (MIC), die derartiges Equipment samt Expertise an die Einsatzstelle bringen sollen, sind auch nicht mehr exklusiv auf die großen, universitären Zentren beschränkt.

…und was diskutiert werden sollte

Es gibt meines Erachtens durchaus Themen, die dringlicher diskutiert werden müssen. Wesentlich dringlicher.

Statt über eine umfassende Heilkunde als Regelkompetenz zu diskutieren, sollte man erst einmal über bundesweit einheitliche Regelungen diskutieren und sicherstellen, dass in zwei benachbarten Landkreisen keine zwei vollkommen unterschiedlichen Versorgungsumfänge möglich sind.

Statt über „noch mehr Kompetenzen“ zu diskutieren, sollte man den Fokus darauf legen, wie man ausreichende Routine und sichere Beherrschung bei den derzeit üblichen Kompetenzen überhaupt sicherstellen will (Wann wurde denn das letzte Mal eine Nadeldekompression geübt? 😏). Man sollte ebenfalls diskutieren, warum manche Kollegen sich schon jetzt davor scheuen, ihre Kompetenzen zu nutzen und lieber „abwarten“ – obwohl sie zum Handeln verpflichtet wären (ja, „nix tun“ ist bereits Körperverletzung durch Unterlassen).

Anstelle des Rufens nach weiteren Freigaben sollte der Fokus darauf gelegt werden, dass damit auch ein immer größeres Maß an Eigenverantwortung einhergeht, welches eine reguläre Berufsausbildung irgendwann nicht mehr vernünftig abbilden kann.

Ausbildungstechnisch sollte man sich eher die Frage stellen, was aus den Rettungssanitätern und den Rettungsassistenten wird, statt ein neues Berufsbild prompt „akademisieren“ zu wollen. Eine sinnvolle, strukturierte, praxis- und handlungsorientierte Berufsausbildung mit Fokus auf das Wesentliche sollte eher das Ziel sein als der verkrampfte Versuch, den Notfallsanitäter zum „Halb-Arzt, Halb-Wissenschaftler“ zu machen.

Bevor über maximal invasive Maßnahmen diskutiert wird, sollte man erst einmal fragen, warum die ureigensten Basismaßnahmen nicht beherrscht oder nicht umgesetzt werden. Es gibt Kollegen, die von strukturierten Arbeiten, strukturierten Übergaben und Crew Resource Management noch nie etwas gehört haben. Man sollte diskutieren, warum Kollegen mit der manuellen Defibrillation als medizinisches Fachpersonal überfordert sind und munter und fröhlich eine Viertelstunde reanimieren, ohne den Sauerstoff zu konnektieren.

Es ist meines Erachtens fraglich, ob Kollegen, die mit der Einstellung eines Schrittmachers (mit dem EKG, welches sie tagtäglich verwenden und checken) völlig überfordert sind oder daran scheitern, eine Spritzenpumpe zu bedienen auf einmal mit REBOA und ECMO zurecht kommen werden.

Am vordringlichsten ist meines Erachtens aber eine Sache: es sind keine „absoluten Ausnahmefälle“. Relevante Defizite bei Dingen, die das täglich Brot darstellen, kommen flächendeckend vor – egal, welche Gliederung, welche Wache, jung oder alt, erfahren oder unerfahren, übergeleitet oder vollausgebildet.

Einschätzung

„Back to Basics“

Nein, es geht mir hier keineswegs darum, einen „Rettungsdienst wie in den 70ern“ zu propagieren und kein „Zurück zum rechtfertigenden Notstand als Arbeitsgrundlage“.

Fortschritt und Weiterentwicklung ist im Feld der präklinischen Notfallmedizin unbedingt notwendig. Allein den Schwerpunkt der Diskussion und die Prioritätensetzung müsste man meines Erachtens deutlich überdenken.

Warum diskutieren wir gefühlt ausschließlich darüber, was der Rettungsdienst in fünf, zehn oder fünfzig Jahren können will, wenn wir genügend Gründe haben, darüber zu reden, was der Rettungsdienst heute können muss?

Es werden meines Erachtens Probleme gesehen, wo keine Probleme sind – und es werden aus dem Bauch raus Forderungen gestellt, wo man die Konsequenzen durchaus mal vorher berücksichtigen sollte.

Der Rettungsdienst muss meines Erachtens daran arbeiten, einen bundesweit flächendeckenden, einheitlichen und vor allem State-of-the-Art-konformen Standard der Patientenversorgung zu etablieren. Eben „das können, was schon heute von uns erwartet“ wird. Dafür benötigt es einfach einen Ruck durch die Belegschaft, was Fort- und Weiterbildungsmentalität angeht. Die haben wir oft nicht.

Den Fortschritt kann man nicht aufhalten – das muss man auch nicht. Man muss aber sicherstellen, dass man vom selbst initiierten Fortschritt nicht irgendwann überrollt wird.

Und dafür braucht es einfach etwas mehr Faktenorientierung und Realitätssinn in der Diskussion, und wesentlich weniger „Standesdünkel“.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Quellen

SaniOnTheRoad (2022): Was passiert mit den Rettungsassistenten?, abgerufen unter https://saniontheroad.com/was-passiert-mit-den-rettungsassistenten/ am 19.04.2023

SaniOnTheRoad (2022): CRM im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/crm-im-rettungsdienst/ am 19.04.2023

SaniOnTheRoad (2022): Der studierte Notfallsanitäter, abgerufen unter https://saniontheroad.com/der-studierte-notfallsanitaeter/ am 19.04.2023

SaniOnTheRoad (2021): Die strukturierte Patientenübergabe im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/die-strukturierte-patientenubergabe-im-rettungsdienst/ am 19.04.2023

SaniOnTheRoad (2021): Rechtssicherheit für Notfallsanitäter ist Gesetz: Heilkundliche Maßnahmen für Notfallsanitäter – Update Februar 2021, abgerufen unter https://saniontheroad.com/rechtssicherheit-fur-notfallsanitater-ist-gesetz-heilkundliche-masnahmen-fur-notfallsanitater-update-februar-2021/ am 19.04.2023

SaniOnTheRoad (2020): Maximal invasive Verfahren in der Präklinik, abgerufen unter https://saniontheroad.com/maximal-invasive-verfahren-in-der-praklinik/ am 19.04.2023

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 12: Strukturiertes Arbeiten und Schemata im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-12/ am 19.04.2023

SaniOnTheRoad (2019): „Kleines 1×1 des Rettungsdienstes“ – Teil 2: Ausbildungen im Rettungsdienst, abgerufen unter https://saniontheroad.com/kleines-1×1-des-rettungsdienstes-teil-2/ am 19.04.2023

Westpfalz-Klinikum (2023): Medical Intervention Car (MIC), abgerufen unter https://www.westpfalz-klinikum.de/mic/ am 19.04.2023

Folgt meinem Blog!

Du möchtest nichts mehr verpassen? Neuigkeiten von mir gibt es auch per Mail!

Es gelten unsere Datenschutz– und Nutzungsbestimmungen.

Wie fandest Du diesen Beitrag?

Klicke auf die Sterne um zu bewerten!

Durchschnittliche Bewertung 5 / 5. Anzahl Bewertungen: 2

Bisher keine Bewertungen! Sei der Erste, der diesen Beitrag bewertet.

Es tut uns leid, dass der Beitrag für dich nicht hilfreich war!

Lasse uns diesen Beitrag verbessern!

Wie können wir diesen Beitrag verbessern?


Über SaniOnTheRoad

Führen wir noch die richtigen Diskussionen?

SaniOnTheRoad

Notfallsanitäter, Teamleiter und Administrator des Blogs. Vom FSJler über Ausbildung bis zum Haupt- und Ehrenamt im Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz so ziemlich den klassischen Werdegang durchlaufen. Mittlerweile beruflich qualifizierter Medizinstudent im vorklinischen Abschnitt. Meine Schwerpunkte liegen auf Ausbildungs- und Karrierethemen, der Unterstützung von Neueinsteigern, leitliniengerechten Arbeiten sowie Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und EKG für den Rettungsdienst. Mehr über mich hier.